In der Ukraine herrscht Krieg. Wir dürfen uns nicht der Vorstellung hingeben, dass die Menschen, die jetzt fliehen, morgen schon wieder zurückkehren können. Lukas erklärt, warum wir neben zivilgesellschaftlicher Solidarität auch nachhaltige Bleibeperspektiven für Geflüchtete brauchen.
Durch den Krieg in der Ukraine sind mehrere Millionen Menschen in EU-Staaten angekommen, weitaus mehr sind Binnenvertriebene. Trotz Solidaritätsbekundungen der Regierungen und starkem gesellschaftlichen Rückhalt, zeigt sich der Rassismus des europäischen Grenzregimes.
Einerseits zeigt sich eine unerschütterliche Aufnahme- und Hilfsbereitschaft. Als Linke begrüßen wir dies, denn die Menschen, die jetzt flüchten, benötigen Unterstützung. An Kriegen leidet immer zuerst die Zivilbevölkerung – nicht die Reichen und nicht die Herrschenden.
Festung Europa, war da was?
Was in der ganzen Solidaritätseuphorie doch aufstößt, ist die Selektivität. Es gibt seit Beginn des Krieges immer wieder Berichte, dass die Ausreise aus der Ukraine unter anderem für Angehörige aus afrikanischen Staaten blockiert wird. Auf der Flucht sind sie massiver Gewalt seitens der Polizei ausgesetzt und berichten, dass sie nicht in Busse gelassen werden. Beispielsweise sprach ein CBS-Reporter von zivilisierten und unzivilisierten Flüchtenden. Hier zeigt sich die Auswirkung einer rassistischen Migrationspolitik, die Menschen priorisiert und ihnen Bewegungsfreiheit nimmt. Die Migrationswissenschaftlerin Sabine Hess stellte in einem Interview mit dem Spiegel klar: „Wir werden also nicht umhinkommen, auch bei diesem Konflikt über Rassismus zu sprechen“.
Sie betont noch einmal, „mit welchen Mitteln man versucht, Fliehende aus dem Globalen Süden in Massenlagern festzuhalten, damit sie nicht nach Europa gelangen können.“ Beispiele dafür gibt es genug: 2020 brannte das Geflüchtetenlager Moria. Damals war es nicht möglich 10.000 Menschen in der EU zu verteilen, weil es Kapazitätsgrenzen geben würde. Im Winter entschied man sich, Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze erfrieren zu lassen. Im Februar ermordeten sogenannte Grenzschützer*innen in Griechenland Flüchtende, indem sie sie einfach ins Meer warfen. An den Grenzen der EU werden Menschen mit schrecklichster Gewalt daran gehindert europäischen Boden zu betreten. Jedes Jahr. Tausende Tote.
Franziska Giffey (SPD), Regierende Bürgermeisterin von Berlin, ließ kürzlich verlauten: „Wir hören aus der ukrainischen Community, dass viele, die hier ankommen, nicht als Erstes die Frage stellen: Wo kann ich Leistungen beantragen.“ Sie stellten vielmehr als Erstes die Frage: Wo kann ich arbeiten? Nicht nur, dass sie impliziert, dass es arbeitsunwillige Geflüchtete gibt; ebenfalls unterschlägt sie, dass vielen Geflüchteten die Arbeitserlaubnis fehlt. Zudem wird hier deutlich, dass es der deutschen Politik um billige Arbeitskräfte geht.
Wiederholt sich Geschichte?
Diese Ungleichbehandlung macht wütend und hilflos. Wir sollten die Fehler von 2015 auf keinen Fall wiederholen. Viele Kommunen waren damals schon nach wenigen Tagen überfordert, weil sie allein gelassen wurden. Dabei kamen 2015 in Berlin höchstens 1.000 Menschen am Tag an, heute sind es bis zu 10.000. Die Solidarität aus der Zivilgesellschaft ist noch immer enorm. Die Kommunen brauchen jedoch dringend Unterstützung vom Bund. Wenn diese fehlt, laufen wir Gefahr, dass sich rassistische Ausschreitungen wie in Rostock-Lichtenhagen oder Mölln Anfang der 1990er wiederholen. Eine Welle ausländerfeindlicher Gewalttaten ging damals durch Deutschland. Im Dezember 1992 verständigten sich Vertreter*innen von Union, SPD und FDP auf eine Einschränkung des Asylrechts. Diese stellt bis heute einen Paradigmenwechsel dar; seither gibt es sogenannte „sichere“ Drittstaaten. Wir alle wissen, was das bedeutet: Abschiebungen.
Solidarität heißt…
Wir dürfen die Schattenseiten von 2015, die Veränderung im politischen Diskurs, nicht vergessen. Hess sagt dazu: „Es war eine politische Entscheidung der damaligen Bundesregierung, irgendwann auf Abschreckung zu setzen. Man saß dem Irrtum auf, die Rechtspopulisten zu schwächen, indem man ihren Diskurs übernahm“. Nun ist es an der gesellschaftlichen Linken, dass nicht zugelassen wird, dass die Solidarität mit den einen zu Lasten von anderen geht. Doch wir müssen uns auch bewusst sein, dass die staatliche Reaktion auf Fluchtbewegungen immer zu einer Einschränkung des Asylrechts geführt hat.
Alle, die vor Krieg fliehen, haben das Recht, Schutz zu suchen. Es muss alles getan werden, damit die Menschen aus der Ukraine in Sicherheit kommen. Diese Hilfe und Anteilnahme muss jedoch für alle Menschen gelten, egal welche Staatsangehörigkeit sie haben und ob sie aus der Ukraine, aus Libyen, Afghanistan oder einem anderen Land fliehen. Solidarität heißt: Aufnahme für alle. Genauso wichtig ist eine langfristige Perspektive: Teilhabe- und Bleibegerechtigkeit für alle. Ein Richtungswechsel in der Migrationspolitik kann nur in Zusammenspiel mit einer gerechteren Wirtschafts- und nachhaltigen Friedenspolitik gelingen.
Von Lukas Geisler