Die Arbeit, die vor uns liegt

Neue Technologien erzeugen immer wieder die Vision einer Zukunft ohne Arbeit. Doch bis dahin gibt es noch einiges zu tun.

Die neue Welle an Anwendungen sogenannter »künstlicher Intelligenz« (KI) wie etwa ChatGPT oder Dall-E wird von einigen als Vorbote einer Welt verstanden, in der die Maschinen den Menschen die Arbeit abnehmen.

So schön das eines Tages vielleicht werden könnte, wird die Automatisierung von anderen als unmittelbare Bedrohung wahrgenommen: Wer bisher seinen Lebensunterhalt durch das Texteschreiben oder Bildermalen bestritten hat, kann sich nicht gleich an einer Welt der Freizeit erfreuen, wenn nun ein Algorithmus die Arbeitsaufträge übernimmt.

Was die Welt am Laufen hält

Dass wirklich alle Arbeit von Maschinen übernommen wird, ist weder kurz- noch langfristig zu erwarten. Da die Vermehrung von Kapital das oberste Ziel im Kapitalismus ist, wird erst automatisiert, wenn das günstiger ist als Menschen auszubeuten. Das ist nur selten der Fall. Doch von der Produktion allein kann keine Gesellschaft leben: Die Reproduktion der Gesellschaft und der Menschen ist auch eine Menge Arbeit. Damit eine Gesellschaft ihren Geschäften nachgehen kann, sind Sorgearbeit – wie Kinderbetreuung oder Pflege –, aber auch Bildung und medizinische Versorgung nötig.

Wir alle sind auf diese Arbeiten angewiesen – die Lohnabhängigen, die sie verrichten müssen, gleich doppelt. Sie sind schwer zu automatisieren: Kein Mensch will seine Kleinkinder in einem Robo-Kindergarten deponieren oder sich wegen des anhaltenden Schmerzes im Bauch ausschließlich von medizinischen Algorithmen beraten lassen.

Außerdem werden die meisten Jobs der Sorgearbeit so schlecht bezahlt, dass es sich kaum lohnen wird, hochkomplexe Maschinen zu bauen, um diese Jobs zu ersetzen. Ein Großteil der Sorgearbeit wird zudem immer noch außerhalb der entlohnten Arbeit erledigt, vor allem die Tätigkeiten, die traditionell Frauen zugeschrieben und mehrheitlich von ihnen ausgeübt werden.

Wer repariert die Welt?

Auch über diese Formen der Arbeit hinaus kann uns vieles nicht vom technologischen Fortschritt abgenommen werden.

Wer zurzeit eine Bachelorarbeit schreibt, durfte allein in der Regelstudienzeit eine Reihe an Katastrophen im globalen Ausmaß erleben, die an der Schieflage dieser Welt keinen Zweifel lassen. Erdbeben, die in Westasien Zehntausenden das Leben kosten und Millionen wohnungslos machen, während die Hilfe sich verzögert und wohlhabende Länder die Aufnahme von Geflüchteten erschweren. Ein Krieg, der in Osteuropa eskaliert, weitere Millionen in die Flucht treibt, und stets droht, zum Atom- und Weltkrieg zu werden. Eine Flutkatastrophe im Herzen Europas, die deutlich macht, dass kein Land von den Folgen der Klimakrise verschont bleibt. Und nicht zuletzt eine Pandemie, die weltweit Millionen umbringt und unzählige Menschen mit Langzeitfolgen hinterlässt, während Konzerne durch hohe Preise den Zugang zu Impfstoffen begrenzen und Rekordgewinne verzeichnen.

Um diesen katastrophalen Zuständen ein Ende zu setzen, bedarf es Lösungen, die wir nicht aus der profitorientierten Wirtschaft erwarten dürfen. Lösungen, die an der Wurzel des Problems ansetzen, sind leider wenig profitabel.

Das ist, wenn man so will, die schlechte Nachricht: Die unentbehrliche Arbeit, die Welt zu reparieren und die Menschheit zu befreien, liegt nach wie vor an uns, KI hin oder her. Die gute Nachricht: Von der Menschheit gemachte Probleme können wir Menschen auch lösen. Wie es die Science-Fiction-Autorin Ursula Le Guin formulierte: »Wir leben im Kapitalismus. Es scheint, als könne man seiner Macht nicht entkommen. So schien es auch mit dem gottgegebenen Recht der Könige. Doch jede Form menschlicher Macht kann von menschlichen Wesen angefochten und verändert werden.«

Die Arbeit liegt nach wie vor an uns

Viele Menschen ahnen: Nur eine profitable Erfindung steht zwischen ihnen und dem Elend der Arbeitslosigkeit. Das macht deutlich, wie machtlos Menschen in der Lohnarbeit dastehen, wie schutzlos sie der Macht der Ausbeuter ausgeliefert sind.

Doch ganz hilflos ist man nicht, wenn man sich zusammentut. Diese Tatsache liegt dem Kampf um eine bessere Zukunft zugrunde. Und es tut sich etwas: Letztes Jahr hat die Krankenhausbewegung in NRW eine dringend notwendige Entlastung erkämpft. Dieses Jahr werden Verhandlungen bei der Post und im öffentlichen Dienst von großen Streiks begleitet. Immer mehr Arbeitende schließen sich den Gewerkschaften an. Im Bereich Nahverkehr zeigt die Zusammenarbeit zwischen Belegschaft und Klimabewegung, dass sich nicht nur Beschäftigte an den Kämpfen beteiligen können. Und Studierende schließen sich zudem in der laufenden TVStud-Kampagne zusammen und kämpfen für Mitbestimmung.

Machtlose aller Länder, vereinigt euch!

Es gilt sich in Erinnerung zu rufen: Wer sich in Lohnarbeit befindet, ist da, weil die Chefs ebenso etwas davon haben – die Abhängigkeit in Arbeitsbeziehungen beruht auf Gegenseitigkeit, wenn auch nicht symmetrisch. Insofern sind die Machtlosen mächtiger als es scheint: Eine Arbeiterin, die mehr Lohn fordert, oder bessere Bedingungen, kann entlassen und ersetzt werden. Aber eine Belegschaft, die gemeinsam mehr fordert und bereit ist, ihre Arbeit niederzulegen, lässt sich nicht so einfach aus dem Weg räumen. Ebenso, wenn Mieterinnen zusammen für ihr Zuhause kämpfen oder Studierende und Schülerinnen für ihre Rechte einstehen. Gerade jetzt gibt es viel zu tun – und die Rettung kommt nicht von selbst, wir müssen sie uns erkämpfen!

Michael Sappir studiert Philosophie und leitet die critica-Redaktion. Er mag Science-Fiction als nachdenkliche Unterhaltung, nicht aber als falsches Marketing-Versprechen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der critica Nr. 30 – Semesterzeitung von Die Linke.SDS.

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