Gaza - Bild Motaz Azaiza

80 Jahre nach dem Ende der Belagerung von Leningrad: Viele Parallelen zum Vernichtungsfeldzug in Gaza

Der von Regierung und Armee offen propagierte Vernichtungskrieg Israels gegen den Gazastreifen und seine 2,3 Millionen Bewohnerinnen und Bewohnern grassiert nun seit Anfang Oktober letzten Jahres.

Nach drei Wochen pausenloser Bombardierungen begann am 28. Oktober die Bodeninvasion mit weiteren schweren Bombardierungen, Artillerie- und Marinebeschuss, Sprengungen und Scharfschützen. Offiziell – und im klaren Gegensatz zu zahlreichen Ansagen israelischer Politiker und Offiziere – kämpft man nicht gegen die Bevölkerung von Gaza, sondern gegen die „Terrororganisation Hamas“, die am 7. Oktober mit ihrem verheerenden Angriff auf israelische Grenzorte und Truppenteile sowie der Geiselnahme Hunderter Menschen den Rachefeldzug ausgelöst hatte. Aber dieser hatte sehr schnell jede völkerrechtliche und moralische Grenze überschritten. Gaza und seine Bevölkerung – seit 17 Jahren bereits abgeriegelt und verarmt – werden kollektiv bestraft, mit aller Unverhältnismäßigkeit, Härte und Grausamkeit.

Das Wüten der israelischen Armee wird von Tag zu Tag schmutziger und sinnloser. Offensichtlich wird ihr Mißerfolg bei der Zerschlagung der Widerstandsorganisationen und der militärischen Befreiung der verbliebenen Geiseln mit größtmöglicher Zerstörung und Massenmord an Zivilpersonen kompensiert. Anfang März waren über 30.000 Menschen tot, darunter überwiegend Frauen und Kinder sowie Krankenhauspersonal, Journalisten, Wissenschaftler und Lehrer. Tausende Kinder sind inzwischen verstümmelt, 17.000 sind Waisen oder von ihren Eltern getrennt. Tausende Leichen oder Sterbende liegen noch unter den Trümmern. Die israelische Armee hat sogar kommunale Räumfahrzeuge zerstört.

Die Zahl der Verletzten und Amputierten dürfte sich auf über 70.000 belaufen. 70 Prozent der Wohnhäuser sind ganz oder teilweise, die Infrastruktur weitgehend zerstört, darunter Hunderte von Schulen, die drei Universitäten, die wenigen Klär- und Entsalzungsanlagen, Moscheen, alte Kirchen und schutzwürdige Gebäude. Die Kommunikationssysteme werden immer wieder abgeschaltet und zerstört. Die Zahl der Binnenvertriebenen beläuft sich auf 1,7 Millionen – zusammengedrängt im südlichen Zipfel an der Grenze zu Ägypten. Es besteht die große Gefahr, dass Israel sie nach Ägypten vertreiben und loswerden will, um Gaza erneut zu besiedeln, wie es zum Teil zwischen 1967 und 2005 der Fall war. Die meisten Krankenhäuser sind zerstört, mussten zwangsevakuiert werden. Die noch bestehenden liegen personell, mit ihren Kapazitäten, Medizin und Material laut UN und gemeinnützigen NGOs auf den Knien. Viele Krankenwagen wurden zerstört. Sogar die notdürftigen Zeltstädte um das südliche Rafah werden angegriffen.

Hunderttausende hungern inzwischen, selbst Tierfutter ist kaum noch zu kriegen. Über 90 Prozent des Trinkwassers sind ungesund. Lebensmitteltransporte werden von der israelischen Armee kaum hereingelassen, am südlichen Kontrollposten stauen sich hunderte LKWs mit dringend benötigten Lebensmitteln, Medizin und Wasser. Auf große, hungernde Menschenansammlungen, die irgendetwas zu essen oder zu trinken ergattern wollen, wird von der israelischen Armee scharf geschossen, wie am 29. Februar an der großen Nord-Süd-Straße bei Gaza-Stadt, wo mindestens 118 Menschen getötet und über 760 verletzt oder erdrückt wurden, etliche von ihnen bei der ausbrechenden Panik. Ärzte und UN-Vertreter haben bestätigt, dass sehr viele der Opfer Schusswunden aufwiesen, was Israel wieder einmal auf dummdreiste Weise bestreitet.

UN-Gerichtsentscheid missachtet

Am 26. Januar hatte der oberste UN-Gerichtshof in Den Haag den wohlbegründeten Antrag Südafrikas, Israel des Völkermordes zu bezichtigen, einen wichtigen Teilerfolg: Das Gericht erkannte auf „plausiblen Völkermord“ und belegte Israel mit sechs vorläufigen Maßnahmen, die den drohenden Völkermord stoppen sollen. Doch Israel und seine (selbsternannte) „moralischste Armee der Welt“ missachtet den Den Haager Beschluss demonstrativ und setzt seine Horror-Maßnahmen umso stärker fort. Ob Israel im noch anstehenden Hauptverfahren definitiv wegen des Verstoßes gegen die Völkermordkonvention von 1948 verurteilt wird, ist noch offen, angesichts der bisherigen Argumentation des Gerichts und des provokativen israelischen Verhaltens aber durchaus wahrscheinlich.

Deutschland, die USA, England und etliche EU-Staaten unterstützen Israel bedingungslos auch weiterhin mit Waffen, Geld und Diplomatie. Der von der Mehrheit der UN und der Weltbevölkerung geforderte Waffenstillstand und die ungehinderte Lieferung und Verteilung von Hilfsgütern wurden über Monate beharrlich abgelehnt. Schon dreimal haben die USA im UN-Sicherheitsrat ihr Veto eingelegt. In der UN-Vollversammlung hatte Deutschland sich lediglich enthalten. Unter dem Druck der massiven Proteste will man sich jetzt einmal mehr nur auf „humanitäre Pausen“ einlassen (um danach weiterzumachen wie bisher). Die deutsche Bundesregierung gehört zu denen, die den laufenden Völkermord bestreiten und das angebliche „Selbstverteidigungsrecht“ Israels beschwören. Was allein der Tod von bisher über 13.000 Kindern und Babys mit „Selbstverteidigung“ zu tun hat, bleibt das Geheimnis von Scholz, Baerbock, Lindner und Co. Sie agieren stur mit Waffenlieferungen, Finanzhilfen und diplomatischer Unterstützung Israels eindeutig als Komplizen. Sie haben nach einem offensichtlichen PR-Coup Israels nach dem Den Haager Urteil sogar die Finanzhilfen an das Flüchtlingshilfswerk UNWRA für dringend benötigte Lebensmittel ausgesetzt, verstießen gegen den Beschluss aus Den Haag und tragen auch damit zum Völkermord bei. Es kann gut sein – und wir erwarten das – dass sie auch von dem zu erwartenden Abschlussurteil des UN-Gerichts und der geltenden Rechtslage erfasst werden.

Angriff auf die Sowjetunion

Im Januar hat sich zum 80. Mal das Ende der Belagerung von Leningrad (nach dem Ende der Sowjetunion wieder nach dem ursprünglichen Namen St. Petersburg benannt) gejährt. Die Stadt mit ihren damals drei Millionen Einwohner*innen und umfangreichen Industrien war im Rahmen des Großangriffes (Codename Unternehmen Barbarossa) von Nazideutschland auf die Sowjetunion zusammen mit der Hauptstadt Moskau zunächst das wichtigste Ziel. Für Hitler, Nazi- und Wehrmachtsführung war Leningrad als Wiege der Oktoberrevolution besonders verhasst. Sie waren überzeugt, Leningrad und den europäischen Teil der Sowjetunion mit seinem großen Wirtschaftspotential in wenigen Wochen zu erobern.

Die deutsche Invasion begann ohne Vorwarnung am 22. Juni 1941. Die Stalin-Führung war vollkommen überrascht. Sie war fest davon überzeugt, Hitler werde den Nichtangriffspakt nicht brechen. Sie hatte nicht nur zutreffende Geheimdienstberichte in den Wind geschlagen, sondern auch die Rote Armee in den dreißiger Jahren durch krasse Fehlentscheidungen in Bewaffnung und Konzeption und vor allem durch die „Säuberung“ des Offizierskorps in den Jahren 1937/38, das heißt durch tausendfachen Massenmord und Lagerhaft, massiv geschwächt. Unter ihnen erfahrene, fähige und politisch bewusste Militärs wie Tuchatschewski und Jakir, die noch im Bürgerkrieg unter dem damaligen Kriegskommissar Leo Trotzki gekämpft hatten.

Die erste Angriffswelle zerstörte große Teile der Luftwaffe am Boden. Die Deutschen machten über eine halbe Million Gefangene. Ende Juli stand die Heeresgruppe Mitte bereits bei Smolensk, die nördliche näherte sich Leningrad und die südliche rückte auf Kiew vor. Naziführung und Generalstab waren sicher, dass die sowjetischen Armeen nach solchen Niederlagen auseinanderfallen würden und die Sowjetunion bis spätestens Jahresende erledigt sei. Doch es kam ganz anders. Am 23. August entschied Hitler, den Vormarsch auf Moskau anzuhalten und zunächst die Ukraine zu erobern. Wieder gab es große deutsche Siege: Fast eine Million Kriegsgefangene; die Ukraine, das Donezbecken und der größte Teil der Krim wurden besetzt. Hätte die Sowjetunion nicht bereits viele Betriebe hinter den Ural verlegt, wäre fast ihr gesamtes Industriepotential verlorengegangen. Als der deutsche Vormarsch auf Moskau wieder aufgenommen und weitere acht sowjetische Armeen vernichtet waren, verkündete Hitler: „Der Feind ist geschlagen und wird nie wieder in der Lage sein, sich zu erheben“. Am 2. Dezember stand die Wehrmacht kurz vor Moskau. In der Stadt brach Panik aus, die sowjetische Regierung begab sich weiter nach Osten, nach Kuibishew. Aber die Wehrmacht konnte nicht weiter vorrücken. Die sowjetische Seite hatte sich wieder stabilisiert und große Verstärkungen herbeigeführt. Hinzu kam der Winter, auf den die Wehrmacht nicht vorbereitet war. Der Angriff wurde abgeschlagen. Am 5. Dezember befahl Shukow einen allgemeinen Angriff an der Front. Die Deutschen mussten zurückweichen. Die Hoffnungen auf einen schnellen Sieg schwanden. Der Blitzkrieg war vorbei.

Die Blockade

Anfang September hatte die Wehrmacht die Vororte von Leningrad erreicht. Aber den deutschen Panzern gelang es angesichts des hartnäckigen Widerstands auch nach einem Monat nicht, weiter vorzudringen. Doch die Stadt war fast völlig eingeschlossen und musste über Bahnschienen, die über das Eis des Ladogasees verlegt wurden, notdürftig versorgt werden, im Sommer mit Schiffen, die ständig angegriffen wurden. Dieser einzige Zugang wurde doroga zhizne („Straße des Lebens“) genannt. Die Belagerung von Leningrad entwickelte sich zur längsten, brutalsten und tödlichsten einer modernen Großstadt in der jüngeren Geschichte. Sie hielt fast 900 Tage an, von Ende August 1941 bis Januar 1944, unterwarf ihre Bewohner*innen und die vielen Hunderttausenden Geflüchteten, die aus dem Baltikum in die Stadt geströmt waren, größter Not und verlangte ihnen Übermenschliches ab. Von den rund drei Millionen Einwohner*innen verlor fast ein Drittel durch Hunger, Kälte, Bombenterror, Artilleriebeschuss und Krankheiten ihr Leben. Die Leichen konnten kaum noch bestattet werden, die letzten Krankenhäuser waren überfüllt oder hatten kaum noch Medizin und Material, um die vielen Verletzten und Sterbenden zu versorgen. Zehntausende blieben durch Erfrierungen, Verletzungen und Erkrankungen ihr Leben lang geschädigt. Der strenge Winter zur Jahreswende 1941/42 war die schlimmste Zeit. Lebensmittel waren kaum noch zu bekommen, pro Person und pro Tag gab es bestenfalls noch auf 85 Gramm rationiertes Brot. Wasserversorgung, Brennstoff und Elektrizität waren weitgehend ausgefallen. Die Menschen hackten das Eis der Newa und der beiden Zuflüsse auf und versuchten, mit Eimern an Wasser zu kommen. Was die Menschen durchlitten und wie sie aushielten, das haben etliche gute Pressefotografen festgehalten, am beeindruckendsten Boris Kudoyarov, der die Stadt während der Belagerung kaum verließ und der mit seinen rund 3.000 Aufnahmen ein fotographisches Epos ohnegleichen geschaffen hat.

Die Belagerung von Leningrad wurde durchbrochen, nachdem die deutschen Divisionen sich „totgesiegt“ hatten. Am 31. Januar 1943 mussten die 6. deutsche Armee und ihre rumänischen und ungarischen Verbündeten kapitulieren und die sowjetischen Truppen setzten ihren opferreichen Weg bis nach Berlin fort, wo etliche der Hauptverantwortlichen für die Menschheitskatastrophe des 2. Weltkriegs, die Vernichtung der europäischen Juden und die völlige Zerstörung großer Teile Europas – Hitler, Goebbels – im Bunker der Reichskanzlei ihrem Leben ein Ende setzten, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Die deutsche Wehrmacht musste bedingungslos kapitulieren. Allein die Sowjetunion, die die Hauptlast des Krieges gegen Hitlerdeutschland getragen hat, musste weit über 20 Millionen Tote beklagen, tausende zerstörte Städte, 70.000 zerstörte Dörfer, umfassende Wirtschaftseinrichtungen und Infrastruktur.

Heinrich Böll: Opfer und Leiden lassen sich nicht gegeneinander aufrechnen

„Der kalte Krieg“, schrieb Heinrich Böll in seinem Vorwort zu dem Fotoband „Von Moskau nach Berlin“, das beeindruckende und bedrückende Fotos von sowjetischen Fotografen enthält (*), „der zwischen den Alliierten des Zweiten Weltkriegs eisige Konfrontation und den ‚eisernen Vorhang‘ schuf, hat vieles hinter diesen Vorhang verschoben, das bis heute nicht in das Bewußtsein der Weltöffentlichkeit gedrungen ist: die ungeheuren Opfer und Leiden der Völker der Sowjetunion, die großen Vertreibungen, erzwungene Völkerwanderungen innerhalb großer Territorien Osteuropas. Wenn da Völker und Staaten gegeneinander Rechnung aufmachen, Konten eröffnen, so können sie nie aufgehen: Tote lassen sich nicht auf ein Konto schreiben, Leiden nicht in ein Soll und Haben verwandeln, zumal es fast immer die Schuldlosen sind, die irgendwelche ‚Rechnungen‘ bezahlen müssen“ (…) Angebracht wäre immerhin: Die Chronologie der Ereignisse nicht aus den Augen verlieren, wenigstens den Kriegsbeginn 1939 und 1941 als Ursache für das Kriegsende zu erkennen: eine banale Ursächlichkeit, die immer wieder verschoben, verdrängt, vernebelt wird.“

2024: deutsche Politik streitet Völkermord in Gaza ab

Die beharrliche Weigerung der deutschen Mehrheitspolitik, den laufenden Völkermord in Gaza nicht länger abzustreiten, ihn scharf zu verurteilen und alles zu tun, um ihn zu stoppen – wozu sie nach dem internationalen Recht verpflichtet wäre –, kann mit dem Mega-Verbrechen der Nazis an den Juden nicht gerechtfertigt werden. Verbrechen – auch große – rechtfertigen niemals neue schwere Verbrechen. Die Vorgehensweise Israels in Gaza wirft historische Parallelen auf. Sie hat – bei aller historischen Unterschiedlichkeit – sehr viele Ähnlichkeiten mit der 900-tägigen Belagerung von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht: Abriegeln, Zerbomben, Zerstören und Aushungern großer städtischer Siedlungen und ihrer Bevölkerung. Und es ist wiederum die deutsche Bundesregierung 2024, die mit ihrem forcierten Pro-NATO- und Rüstungskurs und 80 Jahre nach der grausamen Belagerung dieser heldenhaften Stadt vollkommen geschichtsvergessen kein Gedenken wert ist, kein Bedauern ausspricht, geschweige denn eine Aufarbeitung veranlasst, die womöglich noch zu ausstehenden Entschädigungszahlungen kommen könnte. Im Gegenteil – wer dieses anspricht oder fordert – dürfte schnell als „Putin-Freund“ verleumdet werden. Auch heute noch sollte uns der Satz von Bert Brecht mahnen: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

(*) Von Moskau nach Berlin – Der Krieg im Osten 1941 – 45. Gesehen von russischen Fotografen. Stalling 1979. Amerikanische Originalausgabe: The Russian War, E.P. Dutton, New York 1977

Ein Beitrag von H. Dierkes, er stammt aus Duisburg, war lange aktiver IG Metaller in der Stahlindustrie und 14 Jahre Vorsitzender der Ratsfraktion DIE LINKE. Er kennt Israel/Palästina aus eigener Anschauung und ist in der Palästina-Solidarität aktiv. Nach einer mehrjährigen Verleumdungskampagne der zionistischen Lobby und ihrer Unterstützer im deutschen Mainstream hat er zusammen mit der Übersetzerin und Autorin Sophia Deeg bei ISP den Sammelband „Bedingungslos für Israel?“ herausgegeben.

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