Die Nato und der Neoliberalismus – Jugoslawien war nur der Anfang

Wolf im Schafspelz: Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989, pünktlich zum Jahrestag der Reichskristallnacht, nach fragwürdiger Fasson und Symbolik auch als „Wende“ bezeichnet, zieht die sowjetische Soldateska zügig aus Deutschland ab. Moskau verabschiedet sich würdevoll, mit einem klaren Njet zum Kalten Krieg. Die Bitburg-Kontroverse von 1985 scheint vergeben und vergessen. Die englischen und amerikanischen Besatzer indessen bleiben zurück, oh Yes, freilich nur als Verbündete. Petitionen zum Abzug ausländischer Truppen werden seitdem vom Bundestag vorab verweigert, neuerdings mit einer Begründung wie aus dem Wahrsagerzelt, wörtlich: weil derlei „nicht den gewünschten Erfolg haben wird“. Der vorauseilende diplomatische Gehorsam, bezahlt aus deutschen Steuermitteln, kostet die Bundesrepublik allein seit 2003 ungefähr eine Milliarde Euro.

Und es wäre, abgesehen von den Kosten alles nicht so schlimm, wenn wirklich Bedarf bestünde. Ein unmittelbares Bedrohungsszenario zum Beispiel. Die diplomatische Pflichterfüllung wäre weniger verwunderlich, wenn nicht gerade wieder einmal – bis hin zur Kanzlerin Merkel – deutsche Staatsbürger über ein Jahrzehnt lang durch die NSA abgehört oder – wie etwa Khaled al-Masri 2003 – vom CIA entführt und in Geheimgefängnissen Polens, Rumäniens oder des Kosovos verhört und gefoltert werden würden. Welcher Bedarf besteht denn danach? In einer Demokratie keiner. Das Kavaliersdelikt, das keines ist, heißt hier Folter, durchgeführt auf 386 Hektar Sperrgebiet hinter den Mauern von Camp Bondsteel, im Wald des Schreckens bei Stare Kiejkuty, oder im Keller eines Bukarester Sicherheitsdienstgebäudes von ORNISS. Politisch-erotisch ganz angetan, laufen bei der bloßen Erwähnung Washingtons schon Berlins und Brüssels Wangen schamhaft rötlich an. Ein Abklingen der Anbiederung ist nicht in Sicht.

Während der Warschauer Pakt mitsamt der Sowjetunion auseinandergeht, hat sich der Nordatlantikpakt (Nato) zum selbsternannten Globalgendarmen aufgeschwungen. Für Wall Street und Square Mile erweist er sich als griffiges Werkzeug fürs Grobe. Am Horn von Afrika sichert er Handelswege für Containerschiffe, in der Wüste Iraks und Libyens das lukrative Ölgeschäft, in den Bergen Afghanistans womöglich seinen Anteil am internationalen Opiumhandel. Letzteres sei dahingestellt. Fest steht, dass seit den neunziger Jahren die militärischen Ausflüge der NATO auf dem Globus merklich zunehmen. Man darf dies nicht einfach kleinreden. Menschen in der Ferne erleben nicht nur Krieg; sie sterben in ihm tatsächlich. Berühmtheit erreichen bei der selbstherrlichen Missachtung von Menschenrechten die üblichen Verdächtigen: Zum Beispiel die USA und die Türkei, die durch ihr Außenpolitik andere Völker und Länder im staatlichen Durcheinander oder in Trümmern zurücklassen. Wo ihre Stiefel und Drohnen hingehen, wächst kein Gras mehr. Souveränität ist ihnen ein Fremdwort, Rechtsstaatlichkeit manchmal nicht mehr als ein Gerücht.

Diyarbakir, Şırnak, Ferguson, Baltimore: 2015 werden dort Mitglieder ethnischer Minderheiten – Kurden und Afroamerikaner, vollwertige Staatsbürgerinnen – immer wieder behördlich schikaniert und auf offener Straße erschossen. Aus der EU erreicht die beiden Länder kaum Kritik, im Gegenteil. Sie übt sich in rhetorischer Zurückhaltung; immerhin handle es sich um Verbündete. Beziehungen zu Machtzentren deuten sich da an. Wogegen hat man sich nur verbündet? Politik bedeutet in erster Linie: Bedingungen schaffen, die den Kapitalfluss garantieren. Dass sich dabei wohl kaum die große moralische Frage stellt, sollte zu den Grundeinsichten der Geschichte der westlichen Welt gehören.

Schließlich wendet sich jene „Wende“ – von der D-Mark zum Euro, vom Warschauer Pakt in den nordatlantischen Gendarmverein, vom wählbaren nationalen Parlament zur demokratisch nicht gewählten Europäischen Kommission – gegen die Menschen selbst, denn sie stellt eine schleichende Rückkehr der alten Mächte dar. Es folgt ein Vierteljahrhundert der Veränderung – der Neoliberalismus baut die Welt in seinem Sinn um. Während der Einfluss der Banken steigt, schwindet die Geltung der Gewerkschaften. Löhne und Pensionen werden gesenkt, Besitzende geringer besteuert. Die Exekutive erschleicht sich mit dem Vertrag von Amsterdam 1997 länderübergreifend eine Ausdehnung ihrer Zusammenarbeit und später auch ihrer Befugnisse. Kirche, Kapital und Militär festigen, gesetzlich verankert und systemisch erzwungen, ihre neuen Schlüsselpositionen inmitten neuer Formen von Armut und Entrechtung. Restitutionsgesetze, Privatisierungswellen und Notverordnungen verändern die Besitzverhältnisse und die soziale Landschaft, am auffälligsten an der Peripherie. Generell geht es bergab. Technokratenregierungen – in Kaskaden: Monti 2011, Papademos 2012, Ciolos 2015 – und Ausnahmezustände häufen sich über die Jahre hinweg, selbstverständlich, nebst Demonstrationen und Protesten.

In Paris brennen 2005 die Vorstädte und viele Autos lichterloh, bevor sich die Aufstände wie ein Lauffeuer auf zwei Dutzend Departements landesweit ausweiten. In Madrid protestiert man 2011 in spontanen Massenaufläufen gegen den Umgang mit der Bankenrettung und der gleichzeitigen Wohnungsnot. In Bukarest kommt es 2012 zu Straßenkrawallen wegen der Korruption und Sparpolitik der Regierung. In Sofia demonstriert man 2013 durchaus gewalttätig wegen überhöhter Strompreise und gegen die Kälte. In Athen – wo, etwas anachronistisch anmutend, Essensmarken, Hilfslieferungen und medizinische Notversorgung begrifflich wieder journalistische Bekanntheit erlangen – reißen auch unter Syriza die Streikbereitschaft nicht ab, aus Wut über das Gläubigerdiktat. Mit dieser bedauernswerten Bilanz kann sich die EU bislang schmücken.

Der Triumphtaumel der 1990er, der Siegeszug der Marktwirtschaft und des Neoliberalismus, hat von seiner Stoßrichtung her ideologisch Spuren hinterlassen und offenbar alle menschlichen Hemmungen hinweggefegt. Sozial-desaströs werkelt man an Europas umbau. Der Abbau materieller Sicherheit bei gleichzeitigem Jubel über die Errungenschaften freier Wahlen und freier Presse.

Bereits 1999 beschreibt EU-Kommissionspräsident Juncker den bürokratischen Apparat ohne Umschweife: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter.“ Dann, dann, und dann… – Ist das Europas Politik der kleinen Schritte? Amtsmissbrauchsmadame Lagarde, damals französische Finanzministerin und derzeit Währungsfondschefin, erklärt 2010, wie man Krisen meistert: „Wir verletzten alle Rechtsvorschriften, weil wir einig auftreten und wirklich die Euro-Zone retten wollten.“ Den Griechen vor dem Staatsbankrott rät die saloppe Madame, sich selbst zu helfen und endlich Steuern zu zahlen, doch für ihr Jahresgehalt von 411.738 Euro beim IWF zahlt ausgerechnet sie keinen einzigen Cent Einkommenssteuer. Kann man bei grauen Gestalten aus dem Bankmilieu von einem anderen Rechtsverständnis ausgehen? So gesehen, verplaudert sich Malmström als EU-Kommissarin für Handel nicht etwa, wenn sie 2015 eins daraufsetzt: „Ich nehme mein Mandat nicht vom europäischen Volk.“ Vielmehr plaudert sie ungeniert die Wahrheit aus.

Die Umbrüche der Neunziger Jahre sind gewaltig, ihre Tendenzen im Nachhinein unübersehbar. An Auflösung, wie gesagt, denkt die NATO nicht, sondern expandiert stattdessen ostwärts. Nach einem völkerrechtswidrigen, gegen Serbien und Montenegro geführten Angriffskrieg 1999 ohne UNO-Mandat – pünktlich zur Jahresfeier ihrer goldenen Hochzeit – wird sie alsbald zur mobilen Guillotine einer neuen Welt. Wer sich widersetzt, wird isoliert, sanktioniert und attackiert. Im Rahmen des so genannten Zei-plus-Vier-Vertrages hat laut Aktenvermerk Minister Genscher 1990 zwar noch verlautet: “Die NATO wird sich nicht nach Osten ausdehnen.“ 1999 werden trotzdem Polen, Tschechien und Ungarn zu neuen Clubmitgliedern, 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien, 2008 Kroatien und Albanien, 2016 voraussichtlich auch Montenegro, dessen Regierungsoberhaupt und Tabakschmuggelkönig Đukanović versuchen wird, an einer Volksbefragung vorbei den Beitritt durchzupeitschen.

Nicht nur ist die NATO ein Relikt des Kalten Krieges, sondern auch darum bemüht, selbigen für alle Fälle ein wenig warm zu halten, falls Russland, nach den Umbrüchen anfangs noch neoliberal geplündert, sich vom Übergang zur Marktwirtschaft je weltpolitisch erholen sollte. Das hat es. Sein Produktionseinbruch nimmt spätestens 1997 ein Ende, die Renationalisierung des Energiesektors schon ab 2003 seinen Anfang. Der Gewinntransfer aus dem Einkommensabfluss ausländischer Direktinvestitionen wird somit minimiert, ebenso wie die volkswirtschaftliche Abhängigkeit. Die Privatisierung des neuen Marktes ist, anders als am Balkan oder im Baltikum, hier für den Westen viel unvorteilhafter verlaufen. Das russische Großkapital – seit der Abspaltung der Krim von der Ukraine unter diverse Sanktionen gestellt, bis hin zur Drohung vom Ausschluss aus dem internationalen Zahlungsverkehr SWIFT – gilt als klarer Konkurrent und Russland ohnehin traditionell als Feind. Der innige Wunsch des Westens nach einer Öffnung des Marktes hat also umgeschlagen in sein Gegenteil. Das ursprüngliche Programm zur Umverteilung ehedem sowjetischen Staatseigentums hat eine enorme Machtkonzentration in Form von Finanzoligarchien zur Folge gehabt. Der Ernstfall, in dem ein Kapitalist den anderen sozusagen totschlägt, scheint nun einzutreten.

Die Sache ist simpel: Märkte müssen erobert werden, ob geographisch, ob sozial durch technologischen Fortschritt, sonst brechen sie ein. Sie eröffnen erstens den Zugang zu fremden Rohstoffquellen und natürlichen Reichtümern, inklusive billiger Arbeitskraft, und bieten zweitens Möglichkeiten für den Absatz der eigenen Waren. Russland hat sich diesem Prozess teilweise entzogen; es beutet sich selbst aus und seine fünf Millionen Gastarbeiter. Mit anderen Worten, die Monopolisierung des Kapitals hat zu einer Verschärfung der Konkurrenz geführt, letztlich auch auf dem politischen Parkett. Der Tanz des totgesagten, eines neuen Imperialismus ist damit eröffnet. Der Erfahrung nach greift der Westen in so einem Fall zur Strategie der Staatsdestabilisierung: zuerst Handelskrieg und Propagandaschlacht, zudem geschürte Unruhen und bewaffneter Konflikt, zuletzt Regimesturz und Übernahme der wichtigsten Rohstoffe und Wirtschaftszweige. Diese Rechnung ist, wenn sie denn je eine gewesen, im größten Land der Erde nicht aufgegangen.

Inzwischen installierte unter Bush Junior die USA einen nuklearen Raketenschild innerhalb der EU und stellen ihn, wie es heißt, zum Schutz vor dem Iran an die europäische Ostgrenze, in den Vorhof der Russischen Föderation. Es ist eine Kubakrise ohne Kuba und ohne Krise! Die europäischen Leitmedien nehmen davon nebenher Notiz – nahezu Business as usual. Dem Westen ist, wie er glaubt, das Drohen erlaubt, solange er nur versichert, nicht zu lügen und der Demokratie zu dienen. Dass der Kriegsverbrecher Blair, seinerzeit Bushs Pudel, die Fälschung der Beweise für den Einmarsch im Irak vor geraumer Zeit gestanden und sich dafür entschuldigt hat, spricht jedoch für sich. Eine halbe Million Irakerinnen und Iraker wurden infolge der westlichen Invasion getötet, sind nicht mehr da, um die devalvierte Entschuldigung anzunehmen. Die feine englische Art hat, geschichtlich betrachtet, immer schon etwas mit Gewehrläufen und Kugelhagel zu tun gehabt. Oder?

In einem Versuchslabor namens Jugoslawien hat der Siegeszug des neoliberalen Gesellschaftsmodells als Beerdigung des blockfreien Arbeiterstaates begonnen. Das heißt, dass politische Blöcke zunehmend an Aktualität gewinnen und soziale Errungenschaften an Bedeutung verlieren. Zur Veranschaulichung: Jugoslawiens Auslandsschuld betrug 1987 rund zwanzig Milliarden Dollar, die seiner Nachfolgestaaten 2015 100 Milliarden, wohlgemerkt: bei drastisch gefallenem Lebensstandard. Es stellt sich heraus, dass mit der Losung der „Demokratie“ und des Mehrparteiensystems 1990 in Wirklichkeit scheindemokratische Parteien, Chauvinisten und Nationalisten das Ruder übernehmen, um Krieg zu führen und sich die Beute zu teilen. Das jugoslawische Experiment der Nato hat demnach kein proletarisches Klassenbewusstsein, sondern ein kapitalistisch und patriotisch infiziertes Kleinbürgertum geschaffen, aus dessen Reservoir wiederum das Kanonenfutter nützlicher Idioten entsprungen ist.

Danach wird auf marktwirtschaftliche Weise, ganz unabhängig von Ethnie, Region und Religion, schonungslos umverteilt: wenigen vieles, den meisten nichts! Kriminelle und Schieber bilden eine Schicht von korrupten Unternehmern und Lokalpolitikern, die sich an den Restbeständen ihrer Reststaaten persönlich bereichern und bedienen wie Hotelgäste am Buffet. Die Kleinstaaterei gipfelt in der Schaffung des ersten westeuropäischen Protektorats in Bosnien und Herzegowina, einer Karikatur von Staatlichkeit. Dort herrschen sogenannte Hohe Repräsentanten, vorwiegend Österreicher und Deutsche. Wen oder was sie beherrschen, was ihre kompletten Befugnisse sind, weiß niemand so genau. In vielerlei Hinsicht ist Bosnien beispielhaft für die jüngeren Entwicklungen: Das Industrieland ist systematisch deindustrialisiert worden, ausländische Banken kontrollieren nunmehr 85% des bosnischen Bankensektors, die Arbeitslosigkeit liegt bei 30 bis 40%.

Seit dem NATO-Bombardement von Zivilisten und dem Einmarsch in Südserbien 1999, gesäumt von westlicher Unterstützung für die Todesschwadronen der UÇK, und seit der Zerstückelung des Landes durch Abtrennung seiner Provinz Kosovo 2004, eines weiteren Vasallenstaates mit unzähligen sozialen Problemen, hat auch Deutschland beschlossen, international mit Panzern und Gewehren erneut mitzumischen. Irgendwo in seinem Verfassungstext soll sich angeblich der Satz verstecken, dass „nie wieder Krieg von deutschem Boden“ ausgehen dürfe. Also tauft man den Kriegseinsatz in eine Friedensmission um und meint, die Sachlage modifiziert zu haben. Auch Österreich untergräbt so durch eine Anbindung an die „NATO-Partnerschaft für den Frieden“ unumwunden seine Neutralität.

Dass Deutschland, genau genommen, mit jedweder Teilnahme an Auslandseinsätzen gegen den Terror – ob in Dschibuti, Afghanistan oder Syrien – gegen §129 seines Strafgesetzbuches verstößt, weil für Terrorismusbekämpfung die Polizei und nicht die Bundeswehr zuständig ist, weiß die deutsche Regierung durchaus. Sie ignoriert es aber stoisch. Die ersten 1.200 deutschen Bodentruppen sollen schon bald für den Syrienkrieg auf der Incirlik Air Base stationiert werden – einem kuscheligen Ort mit neunzig B61-Atombomben –, von wo aus die türkischen Luftstreitkräfte Angriffe fliegen gegen die kurdische Guerilla: just gegen jene, die am Boden erfolgreich das 2014 ausgerufene Kalifat bekämpfen. Die Islamisten freut es vermutlich. Täglich verkaufen sie ungefähr 50.000 Fässer Rohöl unter dem Weltmarktpreis und nehmen monatlich dadurch fünfzig Millionen Dollar ein.

Wer unter Journalistinnen und Juristen über die ISIS allzu kritisch berichtet, stirbt in der Türkei mit hoher Wahrscheinlichkeit. Die englische Reporterin Jacqueline Sutton wird im Oktober 2015 am Istanbuler Flughafen erhängt aufgefunden. Die amerikanische Reporterin Serena Shim kommt im gleichen Monat in einem Autounfall um, nachdem sie an der syrisch-türkischen Grenze den Erdölhandel zwischen NATO und Kalifat filmisch festhält. Der prominente kurdische Anwalt Tahir Elci wird im darauffolgenden November bei einer Pressekonferenz erschossen, als er eben verkündet, dass die gegen ISIS kämpfende PKK nicht einfach als Terrororganisation abgetan werden könne.

Braucht wer die Wahrheit sagt wirklich ein schnelles Pferd? Ein Menschenleben ist nicht mehr viel wert. Um es zu verlieren genügt es gemeinhin von den Meinungsmachern als prokurdisch oder prorussisch eingestuft zu werden. Bereits im Winter 2012 werden die Journalisten Oles Buzina von einem Fahrzeug aus und Oleh Kalašnikov im Treppenhaus mit einer Kugel im Kopf überrascht. Hat es denn im Westen einen Aufschrei der Entrüstung gegeben? Nein. Die Todesserie ukrainischer Oppositioneller 2015 verläuft in Dutzend Fällen ähnlich absurd: manche erhängt aufgefunden, andere aus dem Fenster gesprungen, viele niedergestreckt, gestorben im Badezimmer, in der Garage, am Trottoir…

Das Abdanken des Sozialismus hat dem Internationalismus nachhaltig geschadet. Was bleibt, ist eine brüchige, kaputte Welt, die von der viel besungenen Demokratie mehr hört als sieht. Der Westen ist ihr das Sorgenkind. Seine Bevölkerung missversteht den Ernst der Lage und verhält sich wie ein Haufen Schafe, seine herrschende Klasse derweil wie ein Rudel Wölfe. Es gibt wenig Widerstand von unten und zuhauf Arroganz von oben. Zurecht hat man das Gefühl, gebannt und hilflos eine Vorkriegszeit mitzuerleben. Warum? Die imperialistische Politik ist wieder einmal auf Gleis gebracht, ihre mediale Propaganda auf die Bedürfnisse des Kapitals bestens abgestimmt. Kleriker, Kapitalisten, Nationalisten und Militärs bestimmen die dominanten Debatten: über islamische und christliche Werte, nationale Identität, globale Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheitsdoktrinen. Die alten Mächte wollen die Welt zerreißen, weil ihre Egozentrik unvereinbar ist mit menschlicher Kultur und materieller Demokratie.

In Europa, wo man den Mauerfall bis gestern noch gefeiert hat, baut man nun Mauern und Zäune, um sich vor den Flüchtlingsströmen zu schützen, die man durch seine aggressive Außenpolitik initiiert hat, und beschließt undemokratische Gesetze, die die Reichen vor den Armen innenpolitisch schützen sollen. In Deutschland beispielsweise wird 2012 Arbeit mit 56,6 und Kapital mit 15,9 Prozent besteuert. Weder muss man lange grübeln, noch Wirtschaftswissenschaften studiert haben, um den Sinn der Zahlen für den Beitrag zur Allgemeinheit sofort zu begreifen.

Die europäische Bürokratie, stark vernetzt und fest im Sattel, legt für ihre Entscheidungen keinerlei Rechenschaft ab. Hat nicht selbst Juncker, der Präsident der EU-Kommission, eine skandalöse Biographie: eine der Geheimdienstaffären, der direkten Korruption, der Steueroasen und illegalen Staatshilfe für Großkonzerne? Und ist nicht das Freihandelsabkommen TTIP etwa ein Geheimvertrag? Hat das irgendwelche Konsequenzen? 508 Millionen Bürgerinnen und Bürgern, die es betrifft, eine halbe Milliarde Menschen also schweigt dazu, zumindest größtenteils. Sie sind zu sehr mit privaten Sorgen und pluralen Lebensträumen beschäftigt. – Willkommen im Zeitalter identitärer Partikularismen, ökonomischer Deregulierung und sozialer Implosion! Diese Welt sagt sich selbst nichts mehr.

Ein letztes Wort daher noch zur politischen Zoologie der Gegenwart: Dass der Wolf immer einen Schafspelz trägt, ist biedere Binsenweisheit. Regelrecht rätselhaft wird es auf der Suche nach dem Wolf.

Ein Beitrag  von Mladen Savić

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Eine Antwort

  1. Ich Sehe das genauso ,wir schletern in den 3 weltkrig ,wen er schon sogar da ist.Es ist traurig das man aus der geschichte nichts gelernt hat.

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