Edgar El, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons

Wider die geschichtsvergessene Kriegsbesoffenheit

Gedanken aus Oberhausen zum 22. Juni 2024

2014 gingen Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Osterfeld auf Initiative von Hermann-Josef Schepers von der KAB und ihrer Geschichtslehrerin daran, ein lange vergessenes Kapitel der Oberhausener Lokalgeschichte zu ergründen – die Geschichte des „Russenlagers“ an der Malzstraße. In Osterfeld? Ein Lager? Russen in Oberhausen?

Als der Friedensplatz in Oberhausen noch „Adolf-Hitler-Platz“ hieß und die letzte deutsche „kriegstüchtige“ Regierung am 22. Juni 1941 an die Umsetzung ihres Unternehmens „Barbarossa“ ging, hieß die in Umlauf gebrachte Bedrohungslüge „jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“. Das damalige Sieges-Versprechen nannte sich „Gewinnung von Lebensraum im Osten“ und zielte auf erneuerte Welt-Geltung der Verlierermacht des Ersten Weltkrieges. Zuvor hatte Hitler in einer geheimer Denkschrift vom August 1936 der deutschen Gesellschaft die Aufgabe gestellt:

„I. Die deutsche Armee muss in vier Jahren einsatzfähig sein. II. Die deutsche Wirtschaft muss in vier Jahren kriegsfähig sein.“

Zu jener Zeit saßen Oberhausener Antifaschisten schon längst in „Schutzhaft“ oder Konzentrationslagern. Wenige Jahre später kamen junge Männer aus dem Ruhrpott als Angreifer wie auch ihre sowjetischen Altersgenossen aus dem Donbass als Verteidiger massenhaft auf den Schlachtfeldern der Ostfront zu Tode – die zuvor einander weder kannten noch etwas angetan hatten.

Laut Bericht des lokalen General-Anzeigers waren damals auf den Straßen der Ruhrgebietsstädte immer öfter „fremde Laute“ zu hören: Allein auf Oberhausener Gebiet waren Anfang 1943 rund 12 000 „fremdländische Männer und Frauen“ in über 50 Lagern untergebracht, um als Ersatz für die an den Fronten gebundenen deutschen Arbeitskräfte die deutsche Wirtschaft am Laufen zu erhalten, die inzwischen auf „totale Kriegswirtschaft“ umgerüstet worden war. Als Zwangsarbeiter hatten sie die Erzeugung von all dem mit zu gewährleisten, was die Wehrmacht benötigte, um die Landsleute ihrer Heimatländer zu unterwerfen oder umzubringen.

Der hier ansässige Großkonzern GHH beschäftigte wie viele andere dazu nicht nur „Fremdarbeiter“ aus Belgien, Frankreich, Italien, Polen, Weißrussland, der Sowjetukraine u.a., sondern sowjetische Kriegsgefangene, seit Ende 1942 auch in Osterfeld. Wir lernten Zeitzeugen kennen, die als Kinder den Bau eines Lagers für diese neuen „Beschäftigten“ der Zeche Osterfeld miterlebt hatten. Sie berichteten uns nicht nur von schrecklichen Bombennächten, sondern auch vom Tausch ihrer Butterbrote gegen „Puppkes“ oder Holzlöfffel, also Basteleien von diesen Gefangenen, oder von anderen kleinen Aktionen kindlichen oder elterlichen Mitgefühls mit den ausgemergelten Gestalten hinter Stacheldraht. Diese wurden pauschal als „Russen“ bezeichnet, galten in der NS-Sprache als „Untermenschen“ und wurden so auch behandelt.

Einer von ihnen hieß Sergej Wassiljew. Er stammte aus dem Dorf Dudschany in der sowjetukrainischen Region Cherson. Im Juni 1942 war er als neunzehnjähriger Frontsoldat bei Kämpfen um Sewastopol auf der Krim verwundet und gefangen genommen worden. Er überlebte die Behandlung durch seine deutschen Bewacher in mehreren Massenlagern (die anfängliche Parole lautete dort: „Kriegsgefangene haben zu verhungern“). Er überstand seine Verschleppung nach Deutschland, die brutalen Schikanen der SS-Wachmannschaften im Sammellager Stukenbrock, die Mangelernährung im „Russenlager“ in Osterfeld, den Zwangsarbeitereinsatz über und unter Tage, das schutzlose Ausgeliefertsein bei Bombenangriffen, die abenteuerliche Flucht in den Wirren gegen Kriegsende und das Misstrauen in einem sowjetischen „Filtrationslager“ im Sommer 1945, bevor er 1946 endlich seine zerstörte Heimat wiedersah.

Der damalige „völkerrechtswidrige Angriffskrieg“ des faschistischen Regimes, dessen Führer und Anhänger die Eroberung und Vernichtung des politischen Feindes im Osten, also des frühsozialistischen Vielvölkerstaates Sowjetunion, ausdrücklich proklamierten und mit ihren „willigen Vollstreckern“ vier Jahre lang systematisch realisierten, wies eine Bilanz auf, die kein deutscher Politiker jemals vergessen sollte:

Ca. 26 Millionen Menschenleben, darunter zwei Drittel Zivilisten, wurden getötet, 1710 Städte,

70 000 Dörfer, 32 000 Fabriken, 2766 Kirchen und Klöster, 4000 Bibliotheken und 427 Museen von den deutschen Besatzern zerstört. Von den etwa 5,7 Millionen kriegsgefangenen Sowjetsoldaten überlebten 3,3 Millionen die deutsche Gefangenschaft nicht. Und dies sind nur die nackten, statistischen Zahlen, und nur die für die Sowjetunion.

Sergej Wassiljew hatte einfach Glück gehabt und überlebt. Bis 1983 arbeitete er als hoch geschätzter Agronom und erfolgreicher Kolchosleiter in seinem Heimatdorf, 2000 leitete er noch aktiv einen Veteranenverein und teilte seine Erinnerungen mit den nächsten Generationen. In einem Brief von 2005 an den um zwischenmenschliche Aussöhnung und Entschädigungsgesten bemühten Berliner Verein „Kontakte-Kontakty“ bat er darum, in Osterfeld an seine Kameraden zu erinnern, die dort ums Leben gebracht wurden. Übrigens tat er dies in russischer und ukrainischer Sprache, die gleichermaßen zu ihm gehörten. 2015 weihten wir mit Schülerinnen und Schülern der GSO, mit Herrn Schepers und den Zeitzeugen und Nachbarn aus dem Stadtviertel eine Gedenktafel ein, die seitdem jährlich besucht und gepflegt wird. 2017 konnten wir auch Wassiljews Enkel mit Frau und Tochter dazu einladen; sein Großvater war inzwischen leider verstorben.

Musste erst seine Generation aussterben, damit sich heute wieder austoben kann, was er und Millionen andere damals unter Einsatz ihres Lebens bekämpft hatten?

Zu den ukrainischen Bandera-Nationalisten oder den Asow-Kämpfern wäre Sergej heute mit Sicherheit nicht übergelaufen. Diesen Typen, in russischer Ausprägung hießen sie Wlassow-Leute, ging er bei entsprechenden Anwerbe-Versuchen schon im Kriegsgefangenenlager nicht auf den Leim, sondern tat sich mit anderen zu einer kleinen Widerstandsgruppe gegen sie zusammen.

Die seinem geschundenen Heimatland seit Ausbruch des Kalten Krieges erneut aufgezwungene Rüstungsspirale, den feindseligen Akt der NATO-Gründung und den abgrundtiefen und dummen Antikommunismus als Legitimationsideologie für westdeutsche Wideraufrüstung hatte er vermutlich mit Unverständnis und Sorge beobachtet. Doch wird er kaum an der historischen Einsicht gezweifelt haben, dass es seiner Heimat nie wieder passieren dürfe, in ihrer Existenz so bedroht zu werden, wie 1941-45. Aus seinen Briefen geht übrigens hervor, dass er sehr genau unterscheiden konnte zwischen den Zielen der Herrschenden und der Sehnsucht der einfachen Leute auf der ganzen Welt nach einem friedlichen Leben. Vermutlich konnte er sich zunächst sogar über den Umbruch 1989/90 freuen, als sein Land dem einstigen Feind mit offenen Armen entgegentrat und ein Ende der bisherigen System-Feindschaft anbot.

Die Sowjetunion hatte nicht nur den größten Beitrag in der Anti-Hitler-Koalition zur Überwindung des enthemmten, massenmörderischen Rassismus und Nationalismus der Nazi-Diktatur geleistet, die sich angemaßt hatte, die Geschicke der ganzen Welt lenken zu wollen. Nur dank des Einsatzes der Roten Armee wurde ja in Europa das Kriegsende 1945 erst ermöglicht, was besonders an D-Day-Feierlichkeiten gerne verdrängt wird und in der BRD offiziell überhaupt erst 1985 gewürdigt wurde. Auch 1990 konnten allein durch Zustimmung der Sowjetunion die europäische Nachkriegsordnung, die deutsche Teilung und der Kalte Krieg beendet werden.

Als die letzten russischen Truppen 1994 Deutschland verlassen hatten und der Warschauer Vertrag längst aufgelöst worden war, wäre nun erwartungsgemäß die NATO am Zuge gewesen, die von Präsident Gorbatschow zum Frieden ausgestreckte Hand ernst zu nehmen, um gemeinsam eine weltweite Abrüstung und Verschrottung sämtlicher Atomwaffen auf den Weg zu bringen und an der Entstehung einer seit 1945 von den Völkern ersehnten gemeinsamen Friedens-und Sicherheitsordnung zu arbeiten. Genau das stand damals weltpolitisch auf der Tagesordnung, war möglich und notwendig geworden. Dafür plädierte erneut auch Präsident Waldimir Putin 2001 bei seiner Rede im Bundestag, für die er dort minutenlang stehende Ovationen bekam.

Wer seitdem für eine solche neue kooperative Friedensordnung mit Russland entgegen aller Freiheits- und Demokratiebeschwörungen nicht eintrat, dürfte inzwischen jedem klar geworden sein. Denn eine internationale Friedensordnung ist nun einmal nicht deckungsgleich mit einer „regelbasierten Weltordnung“. Deren ziemlich demokratiefern gewachsene Regeln dürfen nämlich dem Hegemonialanspruch einer selbst ernannten Weltmacht keineswegs widersprechen. Andernfalls drohen dem Unbotmäßigen die Strafe des Ausschlusses aus dieser „Ordnung“, Sanktionierung, geheimdienstliche Unterwanderung, inszenierte Staatstreiche, militärische Provokation oder von außen beförderte ethnische Konfliktanheizung …Wer drängte unlängst darauf, dass Deutschland in wenigen Jahren kriegsfähig sein müsse? Und wer schwadronierte, dass „wir die Amerikaner in Litauen“ werden sollten? Wen vertreten diese „Volksvertreter“?

Welchen Beitrag haben eigentlich Bundestag und Bunderegierung zu dem vor 20 Jahren noch möglichen neuen Friedensklima geleistet? Warum waren und sind sie so wenig bemüht, einen regional begrenzten Konflikt in der Ostukraine friedlich einhegen zu helfen, dort, wo er ausgebrochen war? Wie konnten auch wir als Bevölkerung zulassen, dass unsere gewählten Volksvertreter*innen binnen zweier Jahrzehnte eine neue Eiszeit zwischen unseren Ländern arrangierten, dass eine üble Dämonisierung alles Russischen, insbesondere des gerade noch bejubelten Präsidenten, und eine unerträglich primitive Feindbildpropaganda alle medialen Kanäle verstopfte? Warum erkannten wir in der NATO-Osterweiterung nicht rechtzeitig genug das Gegenteil von vertrauensbildenden Maßnahmen und Abrüstung, nämlich eine Militarisierung der Außenpolitik, bei Zurückdrängung von diplomatischer Suche nach Strukturen gemeinsamer Sicherheit? Und wie können wir es länger dulden, dass in aller Öffentlichkeit der nächste deutsche Krieg gegen Russland geplant, vorbereitet, geprobt und durch die nächste Bedrohungslüge zu legitimieren versucht wird?

Lasst es uns nicht länger dulden. Verweigern wir uns dieser geschichtsvergessenen, kriegsbesoffenen Politik, die nichts anderes als Politikversagen ist. Das Versagen auf westlicher Seite ist aus meiner Sicht ungleich größer als das der aktuellen russischen Führung. Deren Entscheidung zum Krieg verurteile ich, genau wie die aller anderen Eliten, die unfähig sind, den schwierigeren Weg von weltweiter Kooperation und Konstruktion dem primitiven von feindlicher Konkurrenz und Destruktion vorzuziehen. Nach uns die Sintflut? Das atomare Inferno? Wirklich?

Widerstand gegen „Kriegsertüchtigung“ und genügend Zorn für neue, massenhafte Friedensaktionen tun jetzt dringend not. Nie vergesse ich die berechtigten zornigen Worte, die der ehemalige französische Zwangsarbeiter François Cavanna gefunden hatte:

Diese tristen, erbärmlichen Dreckskerle, die es so weit haben kommen lassen. So weit, dass dir nur noch die Wahl bleibt, zu töten oder getötet zu werden, ein Held und Mörder zu sein oder zu krepieren und sich obendrein anspucken zu lassen. Dreckskerle ihr, die ihr die Kriege macht, die ihr den Krieg als mögliche Lösung der Gleichung ins Auge zu fassen wagt! Die ihr riesige Armeen unterhaltet, die ihr neue Waffen erfindet und minutiös ihre ‚optimale‘ Wirkung berechnet; die ihr gute und hochheilige Gründe findet, euren Krieg zu rechtfertigen … Kommt her und schaut euch so einen Bombenteppich ein einziges Mal von UNTEN an! Und dann reden wir von den Idioten, die euch einreden, dass man kämpfen muss – wo doch die gleichen Mistböcke und Vettern in aller Gemütsruhe die Bestie haben groß werden lassen, mit angehört und zugesehen haben, wie sie die große Schlächterei vorbereitet hat, ihr dabei geholfen, sie dazu noch ermuntert hat …(…) Sie haben es geschafft. Davon werde ich mich nie erholen. Der Krieg wird immer in mir sein, immer, solange ich lebe.

Können und müssen wir diese Endlosschleife nicht endlich unterbrechen? Auch, weil wir in der „atomwaffenfreien Stadt Oberhausen“ leben, Partnerstadt von Saporoshje-Saporishja, die einen Stanislaw Petrow ehrte, ein Friedensdorf betreibt, seit vielen Jahren aktive Erinnerungskultur unterstützt und eine vorbildliche Willkommenskultur für Kriegsflüchtlinge entwickelte?

Das Friedenspolitische Forum Oberhausen ist an der Sammlung aller Friedensbewegten interessiert und lädt herzlich ein zur Mitarbeit.

Ein Beitrag von Gudrun Havemann

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