Gaza: Wenn blinde Flecken kollektive Arroganz treffen – die Rechenschaftspflicht der Medien

Zu Beginn haben wir sie alle noch gezählt, die Tage seit dem 7. Oktober 2023. Inzwischen sind wir bei mehr als 250 angekommen. 250 Tage an Massakern, an systematischer Aushungerung, an Vertreibung, an zerfetzten Körpern. 250 Tage in denen ich schreiende, blutende Kinder auf Krankenhausböden sehe, weil ich nicht palästinensisch bin, habe ich das persönliche Glück, dass es nicht meine Geschwister, meine Eltern, meine Großeltern sind. Ich scrolle weiter auf meinem Instagram Feed, einfach, weil ich es kann. Auf das blutende Kind auf dem Krankenhausboden folgt ein Tagesschau Post.

Ich brauche etwas, um zu verstehen, dass die Tagesschau mir gerade von den Bomben berichten will, die das Kind zu einem amputierten, blutenden Kind gemacht haben. ,,Einsatz in Al-Shifa, nach israelischen Angaben wurden 200 Terroristen eliminiert‘‘. Das Vokabular ist wirklich so in dem Post. Kein Vokabular finde ich stattdessen zu dem Kind. Ich wusste, dass deutsche Medien bestimmte Probleme haben, dass die Berichterstattung nicht perfekt ist, aber wer ist das schon? Wir können ja froh sein, im internationalen Vergleich. Es ist wieder nur mein persönliches Glück, dass ich 16 Jahre in diesem Glauben gelassen wurde, weil ich nicht in diesem Ausmaß erleben musste, dass bestimmte Geschichten, bestimmte Zahlen, bestimmte Menschen in Medienberichten gefiltert werden. Es hört sich wie eine Verschwörungstheorie an, auch für mich, aber ich erkläre es jetzt genauer.

Der Vergleich funktioniert nicht: Selektiver Journalismus

In der Schule habe ich gelernt, dass das menschliche Gehirn alles in Relation sieht. Bedeutet, wir können nichts mit einem absoluten Maßstab sehen und bewerten, stattdessen vergleichen wir mit dem, was man unmittelbar vor sich hat oder was man bereits kennt. Wir denken in relativen Vergleichen. Deswegen kommt mein Gehirn auch nicht damit klar, dass zwischen den Bildern, die ich sehe und den Berichten, die ich lese, so eine krasse Dissonanz herrscht. Ich kenne es, wenn Medienberichte sich teilweise von dem, was ich selbst weiß oder sehe, unterscheiden, aber dieses Mal ist der Unterschied so krass, dass er sich nicht ignorieren lässt. Weil mein Gehirn bei bisherigen relativen Vergleichen zwischen meiner Wahrnehmung und Medienberichten zu dem Ergebnis kam, dass deutsche Medien zwar definitiv Schwachstellen haben, aber generell verlässlich sind, sind meine Neuronen jetzt völlig verwirrt. Wenn die Tagesschau ihren Job korrekt macht, dann muss irgendwas an den Bildern falsch sein, die ich sehe. Und wenn die Bilder Wirklichkeit sind, dann muss irgendwas an dem Job der Tagesschau falsch sein. Ersteres wäre ein klassischer Fall von Propaganda durch künstliche Intelligenz. Letzteres würde mein gesamtes Vertrauen in die deutsche Medienlandschaft erschüttern. Blöderweise stellte sich heraus, dass Letzteres der Fall war. In den Tagen nach dem 7. Oktober wechselte ich erstarrt zwischen deutschen Medienberichten, Instagram-Bildern und UN, Amnesty International oder Ärzte ohne Grenzen Statements hin und her, nur, um mir eingestehen zu müssen, dass alle meine Quellen mit den Bildern übereinstimmen, und die, die das nicht taten, ausschließlich deutsche, teils US-amerikanische Zeitungen waren. Mein Gehirn hat eine einfache Abwägung gemacht: Ist es wahrscheinlicher, dass alle internationalen Quellen, Organisationen, auf die sich immer alle beziehen, deren einzig erkennbares Interesse in der Verteidigung menschlicher Grundwerte liegt, Teil einer unvorhersehbaren, globalen Verschwörung sind, in der irgendwer versucht mich durch grausame KI Bilder hinters Licht zu führen, obwohl mir bei genauerem Hinsehen keine Spuren einer KI auffallen, oder ist es wahrscheinlicher, dass ein paar nationale Medien einseitig berichten. Der Sachlichkeit wegen musste ich mich auf Letzteres besinnen.

Und damit sah ich plötzlich etwas, wofür ich bis dahin ziemlich blind gewesen war: Selektiver Journalismus, basierend auf westlicher Arroganz und Deutungshoheit, resultierend in der Entmenschlichung normaler Zivilisten. Aber vor allem hatte es zur Konsequenz, dass bei dem blutenden Kind auf dem Krankenhausboden nicht mehr die Frage war, ob es denn KI ist oder nicht, denn ich wusste, dass es die Wirklichkeit ist und damit wurde aus dem KI-Bild ein echtes Kind, in einem echten Massaker, mit seinen echten Träumen und Wünschen, die plötzlich ziemlich ähnlich zu meinen waren.

Die vierte Gewalt

An diesem Punkt müssen wir kurz über die Rolle der Medien sprechen. Die Medien sind die vierte Gewalt in einem Land, auch das hab ich in der Schule gelernt. Laut Bundeszentrale für politische Bildung sollen Medien zum einen die Menschen über das Handeln staatlicher Institutionen informieren und anregen, sich mit diesem auseinanderzusetzen. Zum andern kontrollieren sie das Handeln staatlicher Institutionen durch ihre kritische Einstellung und beeinflussen dieses. Im Englischen sagt man ‘‘to hold accountable‘‘. Medien sollen den Staat verantwortlich machen. Es ist also Aufgabe der Medien, den Staat genauestens bei seinen außenpolitischen Aktivitäten zu beobachten und insbesondere Waffenlieferungen und das
Unterstützen eines Staates, der wegen des Genozidvorwurfs vor Gericht steht, besonders kritisch zu hinterfragen. Medien garantieren eine unabhängige Kontrolle staatlicher Macht, etwas, was die Essenz einer Demokratie ist.

Journalistische Mittäter

Es gibt viele Beispiele, in denen unsere freie, westliche Presse wunderbar funktioniert. Trotzdem versagte sie bei beinahe jedem der Kriege, in denen westliche Mächte Teil genommen haben oder teilnehmen. Irak, Afghanistan, Vietnam sind nur die bekannten Fälle. Jedes Mal wurde die Propaganda durch Medien im Nachhinein genauestens analysiert, es wurde analysiert, wie Medien einen Krieg in der Bevölkerung legitimiert und etabliert haben, ganz zur Freude und Entlastung der Regierenden. Das Aufzeigen und Aufarbeiten US-amerikanischer Kriegsverbrechen hat dann zum Beispiel Julian Assange übernommen.
Der meinte 2011: ,,Fast jeder Krieg, der in den letzten 50 Jahren begonnen hat, war das Ergebnis von Medienlügen. Die Medien hätten ihn verhindern können, wenn sie tief genug recherchiert hätten, wenn sie die Regierungspropaganda nicht nachgedruckt hätten (…). Das bedeutet im Grunde, dass die Bevölkerung keine Kriege mag und dass die Bevölkerung zu Kriegen verleitet werden muss. Bevölkerungen gehen nicht freiwillig und mit offenen Augen in einen Krieg. Wenn wir also ein gutes Medienumfeld haben, dann werden wir auch ein friedliches Umfeld haben. (…) Ich glaube, dass der größte Feind aller Menschen darin besteht, nicht zu verstehen, was eigentlich vor sich geht.‘‘

Dieselben absichtlichen Instrumente

Trotzdem tun wir so, als wäre es ein alleiniges Problem von Al Jazeera, ungefiltert Regierungspropaganda zu übernehmen. Dabei müsste jeder, der Al Jazeera kritisiert, verstehen, dass deutsche Medien genau dieselben Instrumente benutzen: das Weglassen bestimmter Bilder und Infos, z.B., dass die Hungersnot in Gaza menschengemacht und durch Israel erzeugt ist. Das einseitige Zitieren, das Nicht-Einordnen, das Kommentieren, das als neutrale Feststellung verkauft wird, das Übernehmen israelischer Militärberichte, z.B. als die Tagesschau mehrere Artikel zu den israelischen Vorwürfen gegen UNRWA veröffentlichte, obwohl keine Beweise vorlagen. Bis heute sind diese Artikel unverändert, kein Kommentar, kein Zusatz, dass die Informationen mindestens veraltet sind. Mehrere Journalistinnen haben mir gesagt, dass solche
Tagesschau Posts durch mehrere Hände gehen, bevor sie gepostet werden, 250 Tage, in denen die Kommentarspalten voll sind mit Kritik, sind zu viele, um zu glauben, dass diese Berichterstattung nicht ganz bewusst realitätsfern ist. Aber blinde Flecken in der Berichterstattung entstehen nicht nur bewusst und offensichtlich.

Gesellschaftliche Blindheit

Es wäre naiv zu glauben, dass in einer Welt und in Gesellschaften, in denen verschiedenste systematische Diskriminierungen existieren, wir überhaupt Journalistinnen und Berichterstattung ohne jegliche blinde Flecken haben. Schon gar nicht in hauptsächlich weißen, akademischen, männlichen Redaktionen. Schon gar nicht in Zeiten, in denen wir sehen wie Rechtsextreme nicht nur Legislative, Exekutive und Judikative systematisch unterwandern, sondern ebenso die Medien. Nicht ohne Grund wurde auf dem heiß diskutierten Potsdam Treffen der Correctiv Recherche darüber geredet, wie Medien, insbesondere der ÖRR delegitimiert und ersetzt werden können. Es ist nur realistisch, anzunehmen, dass dieser Vorgang aktiv im Gange ist und längst entsprechende Vertreter in deutschen Redaktionen sitzen oder schon immer saßen. Mit dem ehrlichen Anspruch der neutralen, umfassenden und sachlichen Berichterstattung müsste man erstmal anerkennen, dass diese in solchen Gesellschaften nicht einfach so möglich ist, auch bei ehrlichen und guten Journalistinnen, die es glücklicherweise ebenso gibt. Und wer damit anerkennt, dass wir, ob wir wollen oder nicht, zwangsläufig blinde Flecken haben, der müsste anerkennen, dass auch und gerade die deutschen Medien ihre Deutungshoheit ablegen müssen. Weil man Wirklichkeit nicht pachten kann. Und weil Wirklichkeit einem nicht gehört, bloß weil man so viel Macht über ihre Wahrnehmung hat.

Ich glaube nicht, dass Medienhäuser, die ihren westlichen Regierungen schon unzählige Male dabei geholfen haben Kriege, Unterdrückung, Apartheid, Verbrechen und Massenmorde in der Bevölkerung zu legitimieren, in der Position sind, so zu tun, als wüssten sie ganz genau, was journalistische Grundsätze sind und wie diese in der Praxis umzusetzen sind. Ich glaube nicht, dass diese Medienhäuser der Welt erklären dürfen, ab wann etwas ein Völkermord ist und ab wann nicht, sind es doch gerade sie, die diese in der Vergangenheit zumindest teilweise gestützt haben. Genauso glaube ich nicht, dass wir politische
Führer, egal wo auf der Welt, dass wir Kriegsverbrecher definieren lassen sollten, was Kriegsverbrechen sind. Man lässt Täter nicht definieren, was ihre Tat ist. Ich sage nicht, dass westliche Medien zwangsläufig schlechter sind. Sind sie nicht. Sie sind einfach nur nicht zwangsläufig besser. Wenn sie als besser wahrgenommen werden wollen, müssen sie sich als besser erweisen. So ist das Leben. Und der Weg zu einer freien und fairen Presse oder überhaupt zu einer Definition einer solchen, ist noch ein weiter.

Etwas Hoffnung

Zum Schluss noch eine Sache: Manchmal fragen mich Leute, was mir denn Hoffnung gibt. Ich check die Frage nicht, die Realität ist eben wie sie ist und die Tatsache, dass das Leid in Gaza und anderswo menschengemacht ist, beinhaltet die Tatsache, dass diese Realität jederzeit änderbar ist. Trotzdem gibt es etwas, was uns Hoffnung geben kann und es ist Social Media, weil es das Potential hat die Defizite
etablierter Medien aufzufangen. Keine Frage, mit der Entwicklung Sozialer Medien steigen Desinformation und die Stärkung extremer Ansichten und es wäre die Aufgabe einer gesunden Gesellschaft mit gesunder Debattenkultur diese schnelle Entwicklung aufzufangen, um mit ihren Problemen überhaupt mitzukommen. Trotzdem machen Soziale Medien bereits einen enormen Unterschied: Wir müssen nicht mehr darauf warten, dass ein westlicher Fotograph kommt, ein Foto von einem schreienden Mädchen schießt und damit westlichen Gesellschaften die Konsequenz ihrer Regierungen aufzeigt.

Social Media kann undemokratisch und menschenfeindlich sein, gleichzeitig sehen wir gerade, dass sich Menschen rund um die Welt vernetzen, normale Menschen zu wichtigen journalistischen Quellen werden, wie die kleine Journalistin Lama Jamous aus Gaza und sogar Menschen in Deutschland verstehen, wie globale Unterdrückungssysteme aussehen. Social Media ist auch die Hoffnung, dass Teile der jungen Generation merken, dass ihnen etwas vorgegaukelt wurde, ein Weltbild, eine Weltordnung, in welchem wir Unterdrückung und Apartheid überstanden hätten, in dem die Menschheit weiter ist, zivilisierter wurde. Es ist die Hoffnung, dass Teile verstehen, dass Demokratie und Menschenrechte niemals undemokratische, unmenschliche Besatzung und Bombardierung legitimiert. Man kann nichts mit seinem Gegenteil legitimieren.

Ein Beitrag von Judith Scheytt, Menschrechtsaktivistin und Content Creatorin

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