Warum wir für eine NRW-Industriestiftung kämpfen

Wie können die Arbeitsplätze in der Stahlindustrie gerettet und gleichzeitig der Umbau hin zu klimafreundlicher Produktion bewältigt werden? Christian Leye, wirtschaftspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag und Ulrike Eifler, Politikwissenschaftlerin, Gewerkschafterin und stellvertretende Landessprecherin der LINKEN in NRW, geben den Sammelband „Stahlindustrie transformieren! Konzepte für eine sozial-ökologische Zukunft der Arbeit“ heraus, der diese Woche erscheint. Es folgt der Beitrag von Christian Leye, in dem er erklärt: Der Umbau wird nur gelingen, wenn wir es schaffen, die Eigentumsfrage oben auf die politische Agenda zu setzen. Die Gründung einer öffentlich-rechtlichen Industriestiftung ist nicht einzige denkbare Organisationsform zur Vergesellschaftung. Aber es ist diejenige, die zu den spezifischen Problemen und Herausforderungen der NRW-Stahlindustrie am besten passt. Die gesamte Publikation kann unter auf der Homepage heruntergeladen werden.

Im Oktober 2021 demonstrierten bundesweit zehntausende Metallerinnen und Metaller unter dem Motto „FairWandel“ für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze – und dafür, dass Deutschland ein sozial-ökologisches Industrieland wird. Nicht zum ersten Mal, und wahrscheinlich auch nicht zum letzten. Sie machen zu Recht Druck, denn der Krise der Stahlindustrie fallen seit vielen Jahren Arbeitsplätze zum Opfer, die nachhaltig gerettet werden könnten. Ein trauriges Beispiel dafür ist etwa die Schließung des Grobblechwerks von Thyssenkrupp in Duisburg-Hüttenheim. Durch fehlende Investitionen lies der Konzern das ehemals hochspezialisierte und gut laufende Werk im Duisburger Süden ausbluten.

Ein Schicksal, das verständlicherweise Ängste schürt. Allein in Duisburg arbeiten 17.000 Menschen direkt in der Stahlindustrie, 150.000 Arbeitsplätze bei Zuliefer- und Dienstleistungsbetrieben in der Region hängen von ihr ab. Der Verlust dieser Arbeitsplätze wäre soziale Katastrophe ungeahnten Ausmaßes. Auch erste Pilotprojekte zur Erprobung der Wasserstoff-Technologie können das Gefühl nicht abstellen, dass die Uhr tickt. Denn um die Arbeitsplätze für die Zukunft zu sichern, sind um Größenordnungen höhere Investitionen in den ökologischen Umbau zwingend notwendig. Seit Jahren drücken sich die politisch Verantwortlichen davor, in diesem Prozess Verantwortung zu übernehmen, und auch der Konzern selbst schiebt Entscheidungen über die Zukunft seiner Stahlsparte vor sich her.

DIE LINKE fordert seit Jahren, dass der Staat bei Thyssenkrupp einsteigt, um den notwendigen Umbau der Stahlindustrie zu ermöglichen und so die Arbeitsplätze langfristig zu sichern. Zuletzt kam endlich etwas Bewegung in die Diskussion. So zeigte sich nach langem Zögern auch die SPD im NRW-Landtagswahlkampf 2022 offen für eine Landesbeteiligung an dem Stahlkonzern. Aber wie so häufig liegt der Teufel im Detail: Der Vorsitzende der NRW-SPD Thomas Kutschaty nannte als Vorbild für seine Stahlpolitik die Beteiligung von Niedersachsen an der Salzgitter AG. Dem Land Niedersachsen gehört etwas mehr als ein Viertel des Unternehmens. Eine solche Minderheitenbeteiligung würde für eine transformatorische Steuerungswirkung bei Thyssenkrupp wohl nicht ausreichen. Das Konstrukt könnte vielmehr dafür sorgen, dass der Staat zwar möglicherweise die Sanierung bezahlt, aber die Gewinne hinterher größtenteils in private Taschen fließen.

DIE LINKE hat ein anderes, weitergehendes Modell vorgelegt: Wir schlagen eine öffentliche Industriestiftung für NRW vor, welche die Stahlwerke übernimmt. Denn die Rechnung ist relativ einfach: Um die Stahlsparte von Thyssenkrupp auf zukunftsfähige, saubere Produktion umzurüsten, wird die öffentliche Hand einen zweistelligen Milliardenbetrag investieren müssen. Bei der Größenordnung der notwendigen Investitionen sind sich die meisten Expertinnen und Experten mit der Gewerkschaft und selbst mit führenden Vertretern des Konzerns überraschend einig. Das Problem: Die an der Börse gehandelten Aktien von Thyssenkrupp als weltweitem Gesamtkonzern sind gerade noch rund 3,5 Milliarden Euro wert – also deutlich weniger als das Geld, das für die Zukunftsfähigkeit der Werke aufgebracht werden muss.

Zukunftsinvestitionen in die Teilsparte eines Unternehmens, die dessen aktuellen Börsenwert um ein Vielfaches übersteigen – angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung der Stahlproduktion ist das keineswegs widersinnig. Im Gegenteil. Nicht nur hängt an der Entscheidung die sozial-ökonomische Zukunft des Ruhrgebiets – einer Region, die schon vor der Corona-Pandemie vom Paritätischen Wohlfahrtsverband als armutspolitische „Problemregion Nummer 1“ bezeichnet wurde. Außerdem ist es auch eine klimapolitische Frage, ob der Staat die Transformation der Stahlindustrie unterstützt.

Denn fest steht: Unsere Gesellschaft wird auch in Zukunft Stahl brauchen, zum Bau von Wohnungen und Schulgebäuden, für den Ausbau von Bus und Bahn, für Brücken und vieles mehr – kurz: für alle möglichen Formen von Produkten und Infrastruktur einer modernen Gesellschaft. Kein Stahl zu verwenden ist also keine Option. Daher ist die Alternative zur Produktion vor Ort lediglich die Verlagerung in weiter entfernte Länder, wo oftmals unter geringeren sozialen und ökologischen Standards Stahl gekocht wird. Das würde nicht nur für zusätzliche Abhängigkeiten sorgen. Vor allem bedeutet es auch längere Transportwege, viel mehr Emissionen, mehr Ausbeutung, mehr Klimaschäden. Auch deswegen wäre die Vernichtung der Stahl-Arbeitsplätze im Ruhrgebiet schlichtweg nicht zu verantworten.

Dass Thyssenkrupp Geld fehlt, um die sozial-ökologische Transformation seiner Stahlsparte in größerem Umfang mitzufinanzieren, hat verschiedene Ursachen. Zum einen ist da der grundsätzliche Zielkonflikt zwischen kurz- bzw. mittelfristiger Renditeorientierung und gemeinwohlorientiertem, nachhaltigen Wirtschaften. Zum anderen gab es harte Managementfehler: Mit größenwahnsinnigen Fehlinvestitionen hat der Konzern eine gescheiterte Expansion nach Brasilien und in die Vereinigen Staaten vorangetrieben. Bis der Ausstieg gelang, wurden acht Milliarden Euro verbrannt – einer der größten Flops der deutschen Industriegeschichte, an dem der Konzern fast zerbrochen wäre.

Dieses Geld fehlt nicht zuletzt für die sozial-ökologische Transformation der Werke hierzulande. Auch wenn zur Wahrheit gehört, dass wohl kein Stahlkonzern die Kosten der Transformation ganz allein heben kann, bleibt das Problem: Statt die hiesigen Standorte mit den Milliarden fit für die Zukunft zu machen, haben die Managerinnen und Manager versucht, durch Inkaufnahme von unverantwortlichen Risiken riesige Wachstums-Träume bei Aktionärinnen und Aktionären zu schüren. Es ist eines der vielen Probleme einer aktienmarktgetriebenen Wirtschaft, dass sie solche Fehlanreize produziert, und die nach neuen Eigentumsverhältnissen rufen.

In einer öffentlichen und gemeinwohlorientierten Stiftung als Eigentümerin kann eine andere Logik die Unternehmenspolitik bestimmen: Mit neuen Modellen von Mitbestimmung für die Belegschaft, aber auch über den Kreis der Belegschaft hinaus, kann die Industriestiftung eine Vorreiterrolle für mehr Wirtschaftsdemokratie spielen. Sie kann dafür sorgen, dass sich Unternehmensentscheidungen an den Interessen der Menschen orientieren, die an den aktuellen Produktionsstandorten leben und arbeiten – und nicht an Träumen von globaler Expansion, Maximalrenditen oder Spekulationsgewinnen an der Börse.

Bei der Industriestiftung handelt es sich also um einen konkreten Vergesellschaftungsvorschlag, der erstens auf das spektakuläre Managementversagen bei Thyssenkrupp reagiert. Und zweitens vermeidet er Fehler, die bei den staatlichen Interventionen anlässlich der Finanzkrise 2008/2009 gemacht worden sind. Denn anders als bei der Bankenrettung damals verhindert die Überführung in eine öffentliche Stiftung, dass die Kosten zwar von der Allgemeinheit getragen werden, die Gewinne hinterher aber trotzdem wieder in private Taschen fließen.

Die Idee, industrielle Produktion in eine Stiftung zu überführen, ist keineswegs völlig neu. Nach dem Konkurs der Saarstahl AG im Jahr 1993 wurden die Besitzverhältnisse der saarländischen Stahlindustrie grundsätzlich neu geordnet. Statt die Werke im Rahmen des Konkursverfahrens an einen großen Konzern zu verkaufen, einigten sich die Landespolitik und Anteilseigner auf eine Stiftungslösung, um Standorte und Arbeitsplätze zu erhalten. So wurde schließlich im Jahr 2001 die Montan-Stiftung Saar gegründet. Durch Mehrheitsbeteiligungen an den beiden saarländischen Stahlherstellern sowie wechselseitige Beteiligungen zwischen den Unternehmen gehört die saarländische Stahlindustrie somit größtenteils sich selbst und wurde nicht dem Kapitalmarkt ausgeliefert.

Die Gründung der Montan-Stiftung hatte zwei Vorteile: Zum einen ermöglichte die Gründung der Stiftung, dass die saarländische Stahlindustrie eigenständig weiterexistieren konnte. Angesichts der Szenarien, die bei einem Ausverkauf der Saarstahl AG drohten, ist das ein bedeutender Erfolg. Auch wenn der Abbau von Arbeitsplätzen nicht vollständig verhindert werden konnte, arbeiten heute nach wie vor an die 13.000 Menschen in den Werken. Zum anderen bietet das Modell der Stiftung den Vorteil, dass Profite nicht in Form von hohen Renditen aus dem Unternehmen in die Taschen von Aktionären abfließen. Das vergrößert finanzielle Spielräume, um notwendige Investitionen zu tätigen und in schwierigen Phasen auf ein finanzielles Polster zurückgreifen zu können.

Gleichwohl ist das Modell der saarländischen Montan-Stiftung nicht vollständig mit dem vergleichbar, was DIE LINKE für die Übernahme der Stahlwerke von Thyssenkrupp vorschlägt. So brachte das Saarland zwar seine im Landesbesitz befindlichen Anteile an den Stahlwerken in die private Stiftung ein. Ansonsten ist das Land aber nicht beteiligt – während wir eine Stiftung vorschlagen, die vollständig in öffentlicher Hand ist.

Das ist wegen der Unterschiede in der Höhe der notwendigen Investitionen sinnvoll: In den gut 20 Jahren ihrer Existenz hat die saarländische Montan-Stiftung schätzungsweise zwei Milliarden Euro in die Modernisierung der Anlagen investiert – also deutlich weniger als die Summe, die nun zum klimaneutralen Umbau der Werke von Thyssenkrupp notwendig sind. Die enorme und wohl nur gesamtgesellschaftlich zu stemmende Summe, die für den sozial-ökologische Transformation der NRW-Stahlindustrie notwenig ist, stellt eines der wichtigsten Argumente dafür dar, warum DIE LINKE eine Stiftung in öffentlichem Eigentum vorschlägt. Wenn dermaßen große Investitionen aus Steuergeldern getätigt werden, dann sollte das Unternehmen hinterher auch der Allgemeinheit gehören.

Das öffentliche Modell eröffnet außerdem die Chance, die Formen der Mit- und Selbstbestimmung durch Belegschaft, gewerkschaftliche und gesellschaftliche Akteurinnen und Akteure im Vergleich zur Montan-Stiftung wesentlich auszubauen, die im Kern durch ein siebenköpfiges Kuratorium kontrolliert wird, welches als Vertretung der Eigentümerin der zur Stiftung gehörenden Unternehmen die Geschäftsführung bestellt und überwacht. Das Modell der Selbst- und Mitbestimmung im Detail auszuarbeiten, das wird eine der zentralen Aufgaben im Rahmen des Gründungsprozesses der Industriestiftung NRW sein.

Eine erfolgreich arbeitende Stiftung kann zu einem Instrument werden, um die notwendige ökologische Transformation der Stahlindustrie sozial gerecht abzusichern, sie demokratischer und nachhaltiger zu gestalten. Dabei ist die Gründung einer öffentlichen Industriestiftung keineswegs die einzige denkbare Organisationsform zur Vergesellschaftung. Aber es ist diejenige, die für die spezifischen Probleme und Herausforderungen der NRW-Stahlindustrie am besten passt. Im Rahmen einer fortschrittlichen und gemeinwohlorientierten Industriepolitik kann sie außerdem in einen größeren transformativen Prozess eingebunden werden, der weit über diesen einen Industriezweig hinausreicht. Dafür fordert DIE LINKE einen finanziell gut ausgestatteten industriellen Transformationsfonds, der Mittel demokratisch kontrolliert als öffentliche Beteiligungen vergibt. Im Rahmen dieses Fonds können die notwendigen sozial-ökologischen Veränderungsprozesse in verschiedenen Branchen mit jeweils passgenauen Konzepten gestaltet werden.

Christian Leye ist Mitglied des Bundestages mit Wahlkreis in Duisburg. Er ist wirtschaftspolitischer Sprecher der Linksfraktion, Mitglied des Wirtschaftsausschusses, stellvertretendes Mitglied im Finanzausschuss und im Ausschuss für Arbeit und Soziales sowie Sprecher der Landesgruppe NRW seiner Fraktion. Mehr Infos: christian-leye.de

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