Leonhard Lenz, CC0, via Wikimedia Commons

Zwei Monate Alternativlosigkeit – der Irrweg der Ampel

Die neue Koalition ist nun zwei Monate alt. 60 Tage sind inzwischen seit der Vereidigung von Olaf Scholz und den Minister*innen am 8. Dezember 2021 vergangen. Es ist Zeit für eine erste Analyse, wie sich die neue Regierung des „Fortschritts“ in diesen ersten Wochen geschlagen hat – denn auf diese muss eine emanzipatorische Antwort gefunden werden.

Verrat der eigenen Ideale

Schon vor der Vereidigung gab es erste linksliberale Kritik der Grünen. So produzierte Jan Böhmermann schon am 26. November 2021 einen Beitrag, in dem er der Partei „Verrat an den eigenen Idealen“ vorwarf:

„Gestern noch im Bundestag an Pullovern gestrickt, heute an der Karrierestrickleiter. Kompromisse muss man eingehen, wenn man regieren will, dann klappt das auch mit der Ampel-Koalition. Oder, liebe Grüne? Zum Glück hat die grüne Hoffnung gegen den Klimawandel noch echte Ideale, die man verraten kann.“

Dabei über er wichtige Kritik an der Inkonsistenz der Partei. Unter anderen thematisierte er die Mitwirkung an den Hartz-Gesetzen, der Einschränkung des Asylrechts, Parteispenden von Rüstungskonzernen und die ständige Forderung des Realo-Flügels der Partei nach immer mehr Kompromissbereitschaft.

Impfpatente und Taxonomie

Am 28. Januar legte das gute Gewissen der Bundesrepublik, Jan Böhmermann, noch einen nach. Kurz davor hatte Robert Habeck, der neue Vizekanzler, Wirtschafts- und Klimaminister, wobei letzteres vielleicht in Klammern gesetzt werden sollte, angekündigt, dass er seine Wahlkampfforderung für eine Aussetzung der Patente für COVID-19-Impfstoffe doch nicht mehr unterstützen würde. Seine Begründung:

„Nachdem ich nochmal intensiv mit den [Pharma-]Unternehmen gesprochen habe, bin ich der Meinung, dass das uns nicht helfen würde …“

Auch hierzu produzierte das ZDF Magazin Royale eine ganze Folge mit einer klaren Forderung: Impfpatente freigeben – und zwar am besten gestern! Doch nicht nur Böhmermann, viele linksliberale grünen Wähler*innen empören sich. Der letzte Coup war der Bärendienst am Klima, die die EU-Kommission durch die Taxonomie am letzten Tag des alten Jahres vorgestellt hat. Kurz gesagt: Atomkraft sowie Gaskraftwerke bekommen ein grünes Label.

Und aus Berlin? Deutschland hat seit Dezember ja eine Regierung, die Fortschritt wagen will und sich die Selbstbezeichnung „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ gegeben hat. Zwar gab es einen medienwirksamen Widerspruch gegen Atomkraft als Brückentechnologie, allerdings wurde das Thema des fossilen Erdgases, das ebenfalls bald „nachhaltig“ ist, eher unter den Teppich gekehrt.

Ein Blick in die marxistische Staatstheorie

Und auch hier: berechtigte moralische Empörung. Doch überraschen kann dies nicht. Ein Blick in die marxistische Staatstheorie gibt Aufschluss, warum diese Regierungen ihre Versprechungen nicht einhalten wird. Karl Marx betonte in seinen Artikeln zum Revolutionsjahr 1848, welche unter „Die Klassenkämpfe in Frankreich“ bekannt sind, eine Konzeption des Staates, die durch Klassen- und Kapitalfraktionen geprägt ist. Dies bedeutet, dass er Staat nicht der Gesellschaft oder der Wirtschaft gegenübersteht, sondern gesellschaftliche Machtverhältnisse abbildet. Im achtzehnten Brumaire schreibt er: „Die Parteien, die abwechselnd um die Herrschaft rangen, betrachten die Besitznahme dieses ungeheuren Staatsgebäudes als die Hauptbeute des Siegers“. Nichts könnte mehr Aktualität haben.

Dies heißt allerdings nicht, dass diese Parteien dann schalten und walten können, wie sie wollen. Konkreteren Überlegungen zur Staatstheorie ist uns Marx durch seinen Tod leider schuldig geblieben. Diesem Anspruch will die staatstheoretische Debatte seit den 1970ern auf der Grundlage der Erfahrungen zeitgenössischer Parlamente, die die Republik und ihre Institutionen vertreten, nachkommen. Einer der wichtigsten Autoren ist der griechisch-französische Marxist Nicos Poulantzas, der den kapitalistischen Staat als wirtschaftlich-politisch-ideologische Sphäre der Machtverhältnisse, der Formulierung und Umsetzung von Machtstrategien und des Klassenkompromisses verstanden hat. Dieser drückt dies folgendermaßen aus:

„Selbst die gängigen Formulierungen des Problems in der Art ‚was vermag der Staat oder was vermag er – angesichts der großen multinationalen Firmen – nicht?‘ und anderes mehr sind von Grund auf falsch. Und zwar in dem Maße, wie es richtig ist, dass die Institutionen oder die Apparate keine eigene ‚Macht‘ besitzen, sondern lediglich Klassenmacht ausdrücken und verkörpern.“[1]

Empörung und moralische Kritik wird verhallen

Die Entscheidungen der Ampel-Koalition in den ersten 90 Tagen können also nicht überraschen, denn der Staat ist Ausdruck der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Robert Habeck wird als Wirtschaftsminister nicht gegen die Interessen deutscher Konzerne entscheiden und die moralische Kritik an diesen wird wahrscheinlich verhallen. Denn diese kann leicht als naiver Utopismus abgetan werden. Außerdem scheint der Satz „Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus“, der oft dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek zugeschrieben wird, auch mit der „Fortschrittskoalition“ weiter zuzutreffen. Doch nicht nur das, denn, wie der britische Kulturwissenschaftler Mark Fisher in seinem Werk „Capitalist Realism“ von 2009 feststellt, ist moralische Kritik am Kapitalismus sogar gefährlich:

„Den Kapitalismus moralisch zu kritisieren, zu betonen, auf wie vielen verschiedenen Wegen er zum allgemeinen Leid beiträgt, bestärkt den kapitalistischen Realismus. Armut, Hungersnöte und Krieg können so als unvermeidbarer Teil der Realität präsentiert werden […].“[2]

Man möchte in seiner Aufzählung aus heutiger Sicht auch noch den Klimakrise hinzufügen, doch seine Analyse ist bis heute zutreffend, wie die gerade aktuelle Situation zeigt. Ob Klimakrise, das Beharrung auf Impfpatenten zum Wohl der deutschen Wirtschaft oder die vielen weiteren Themen, die hier nicht genannt wurden.

Was tun?

Die Sache mit dem Impfpatenten und der scheiternden Pandemiebekämpfung sowie das Greenwashing von Atom und fossilem Gas drängen einem die Antwort auf die Frage „Was tun?“ förmlich auf. Das neoliberale Hegemonieprojekt mit grünem Anstrich muss dort gepackt werden, wo es sich in Widersprüchen verstrickt und die sich der Mythos einer Alternativlosigkeit als Chimäre, das heißt als ein Trugbild, entpuppt:

„Der kapitalistische Realismus ist nur dann bedroht, wenn man aufzeigen kann, dass er auf irgendeine Art inkonsistent oder haltlos ist – falls sein augenscheinlicher Realismus eben keiner ist.“[3]

Und genau das ist der Fall. Ob Umbenennung von Hartz IV in Bürgergeld, die Doch-nicht-Freigabe von Cannabis, die Verschiebung der Erhöhung des Mindestlohns, die Anschaffung von Kampfdrohnen und die Aufblähung des Bundeswehr-Etats genau wie der Ausbau der Festung Europa bei gleichzeitigem Anwerben von Arbeitskräften aus dem globalen Süden, Taxonomie und Impfpatente. Die Widersprüche sind da. Emanzipatorische Politik muss den Anschein einer „natürlichen“ Ordnung zerstören und das als notwendig und unausweichlich Dargestellte mit antikapitalistischer statt moralischer Kritik kontern.

Quellen und Literatur

[1] Nicos Poulantzas (2001): Die Internationalisierung der kapitalistischen Verhältnisse und der Nationalstaat. In: Die Zukunft des Staates. Denationalisierung, Internationalisierung, Renationalisierung. Hamburg, S. 19-69.

[2] Fisher, Mark, et al. Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?: eine Flugschrift; mit einem Nachwort zur deutschen Ausgabe. VSA-Verlag, 2013, S. 24.

[3] ebd.

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