Auf dem NATO-Gipfel, der am 8./9. Juli in Warschau tagte und wo weitreichende Beschlüsse gefasst sowie grundlegende Statements abgegeben wurden, war auch noch Gelegenheit für eine kleine zusätzliche Backpfeife in Richtung Moskau: Das Gala-Dinner der 28 Staats- und Regierungschefs fand just in jenem Säulensaal des Präsidentenpalastes statt, wo 1955 die Organisation des Warschauer Vertrages aus der Taufe gehoben worden war.
Unmittelbar nach dem Gipfel rief die Berliner Zeitung – im Unterschied zu den meisten anderen großen deutschen Medien – ihren Lesern die Eckpunkte des militärischen Kräfteverhältnisses zwischen der NATO und Russland in Erinnerung: Den 800.000 russischen Soldaten stehen 3,2 Millionen der NATO gegenüber, deren Rüstungsausgaben dreizehnmal höher sind als die Moskaus – 871 Milliarden US-Dollar gegen 66 Milliarden. Bei Atomsprengköpfen stehen 7290 russische gegen 7515 westliche, wobei hier korrekterweise die von Frankreich und Großbritannien eingerechnet sind, auf die im Abschlusskommuniqué des Gipfels ja auch expressis verbis Bezug genommen wird.
Man könnte diese Gegenüberstellung um Großwaffensysteme ergänzen, der Einfachheit halber auf einen Vergleich USA – Russland beschränkt:
13.000 US-Militärflugzeuge, 3550 russische;
8800 US-Panzer und 41.000 gepanzerte Fahrzeuge, 2870 russische Panzer und 10.720 gepanzerte Fahrzeuge;
10 aktive US-Flugzeugträgerkampfgruppen, ein russischer Träger.
Mit diesem Gesamtpotenzial müsste im Falle des Falles rechnen, wer die NATO-Staaten dazu veranlasste, den Bündnisfall nach Artikel V des Nordatlantikvertrages auszurufen, und mit diesem Gesamtpotenzial kann rechnen, wer Mitglied der NATO ist – zum Beispiel die baltischen Staaten und Polen. Trotzdem treibt die dortigen Regierungen seit Putins Krim-Coup und dessen Unterstützung für die Aufständischen in der Ost-Ukraine, auch wenn jedes rationale Kalkül gegen derartige Absichten Moskaus spricht, die Furcht um, ihre Länder könnten die nächsten sein, und fordern seither: mehr NATO an die Ostflanke.
Vor diesem Hintergrund hatte bereits der NATO-Gipfel in Wales vor zwei Jahren beschlossen, die schnelle Eingreiftruppe des Paktes auf 40.000 Mann aufzustocken und ihr darüber hinaus eine besonders schnelle „Speerspitze“ von etwa 5000 Mann zu verpassen.
Jetzt hat der Gipfel in Warschau die Eskalationsschraube weiter gedreht: Erstmals werden dauerhaft Kampftruppen des Bündnisses in den drei baltischen Staaten und in Polen stationiert – vier multinationale Bataillone in Stärke à 1.000 Mann, je eines unter der Führung der USA, Großbritanniens, Kanadas und Deutschlands. Diese Einheiten würden, so verlautbarte aus Brüssel, nicht zu Trainingszwecken verlegt: „Das sind Verbände, die kämpfen können und kämpfen sollen, wenn sie angegriffen werden.“ Das dürfte auch für die dritte Panzerbrigade gelten, die die USA 2017 nach Europa zurückbringen wollen. Deren Hauptquartier soll, wie Präsident Obama in Warschau angekündigt hat, ebenfalls in Polen stationiert werden. Außerdem soll die Bewaffnung und Ausrüstung für eine vierte derartige Brigade eingelagert werden, so dass im Konfliktfall nur noch die Mannschaften eingeflogen werden müssten. Mehr als drei Milliarden Dollar sind dafür im US-Militärbudget für 2017 vorgesehen.
Die Bundesverteidigungsministerin kreierte in diesem Zusammenhang die etwas sperrige Formel „Vorne-Präsenz in den baltischen Staaten und Polen“, um den Begriff Stationierung zu umschiffen und um behaupten zu können, alles bewege sich „innerhalb der NATO-Russland-Grundakte“. In der hatte die NATO 1997 Russland gegenüber bekanntlich darauf verzichtet, in ihren neuen Mitgliedsstaaten „substantielle Kampftruppen dauerhaft“ zu stationieren.
Soweit zum Bereich der konventionellen Streitkräfte.
Stichwort Raketenabwehr: Die entsprechenden Aktivitäten der USA sieht Russland mit besonderem Misstrauen, weil daraus gegebenenfalls eine Gefährdung seiner nuklearen Zweitschlagskapazität erwachsen könnte. Noch 2010 war Russland vom NATO-Gipfel in Lissabon Kooperation in dieser Frage angeboten worden. Doch schnell wurde klar, dass nicht nur die USA mit gezinkten Karten spielten. Inzwischen sind erste US-Abwehrsysteme in Rumänien einsatzbereit und patrouillieren seegestützte Aegis-Einheiten vom spanischen Rota aus im Mittelmeer. Die nächste Ausbaustufe folgt in Polen. Und NATO-seitig wird Raketenabwehr inzwischen als gleichrangig mit atomaren und konventionellen Komponenten bewertet. Das Warschauer Kommuniqué spricht von „Abschreckung und Verteidigung, basierend auf einem angemessenen Mix von nuklearen, konventionellen und Raketenabwehrkapazitäten“.
Ebenfalls befasst hat sich der Warschauer Gipfel mit Fragen der nuklearen Abschreckung, die praktisch ausschließlich auf Russland ausgerichtet ist. Das war in den vergangenen 25 Jahren nur etwas aus dem (mindestens öffentlichen) Bewusstsein geschwunden.
Im Gipfel-Kommuniqué heißt es dazu unter anderem: „Das nukleare Abschreckungspotential der NATO beruht auch, teilweise, auf jenen Kernwaffen der USA, die in Europa vorausstationiert sind, und auf den Kapazitäten sowie Infrastrukturen der einbezogenen Alliierten. Diese Alliierten werden sichern, dass alle Komponenten der atomaren Abschreckung der NATO sicher […] und effektiv bleiben.“ Das meint die sogenannte nukleare Teilhabe: Im Kriegsfall sollen US-Atombomben mit Trägersystemen der Stationierungsländer (Deutschland, Belgien, Niederlande, Italien und Türkei) zum Einsatz gebracht werden. Nach US-Plänen werden die bis zu 20 dafür vorgesehenen veralteten und nicht sehr zielgenauen Atombomben auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel spätestens ab 2020 durch das neue Modell B 61-12 ersetzt – eine lenkbare und damit dann, sagen Experten, strategische Waffe. Die als Trägersysteme bereit stehenden Tornados der Bundesluftwaffe sind ebenfalls veraltet und müssten dafür aufwändig modernisiert oder durch ein gänzlich neues Kampfflugzeug, etwa die amerikanische F-35, ersetzt werden. Das würde zusätzliche Milliarden an Militärausgaben erfordern. Die Bundesregierung drückt sich seit Jahren um jede klare Auskunft in dieser Frage. Man weiß allerdings um die Haltung der Kanzlerin zu Kernwaffen. Als Guido Westerwelle im Jahre 2009 das Ziel eines Abzuges der Büchel-Bomben als Bestandteil der damaligen Koalitionsvereinbarung der Bundesregierung durchsetzte, ließ Angela Merkel ihren außen- und sicherheitspolitischen Berater Christoph Heusgen kurz darauf intern nach Washington kabeln, man solle sich dort deswegen keine grauen Haare wachsen lassen: Das sei nicht die Auffassung der Kanzlerin. Wikileaks hat diesen Vorgang vor einiger Zeit öffentlich gemacht.
Hat Angela Merkel mit ihrer Zustimmung zum Warschauer Kommuniqué nunmehr also eine wie auch immer geartete Modernisierung der deutschen Trägersysteme praktisch bereits zugesagt und damit auch den weiteren Verbleib dieser Atomwaffen auf deutschem Boden für Jahrzehnte präjudiziert? Was Deutschland weiterhin zu einem sicheren Platz auf den Ziellisten russischer Raketenkernwaffen verhelfen dürfte. Man darf gespannt sein, was das in Kürze erwartete Weißbuch 2016 der Bundesregierung dazu sagt oder ob es sich, wie Experten mutmaßen, in schon gewohnter Weise wieder dazu ausschweigt.
Bereits im Vorfeld des Warschauer Gipfels hatte es einige Fanfarenstöße gegeben, die nicht dazu angetan waren, den Spannungspegel im Verhältnis zu Russland zu senken. So hatte der neue ukrainische Regierungschef Wladimir Groisman bei seinem Antrittsbesuch in Deutschland erklärt, dass die Ukraine am Ziel eines NATO-Beitritts festhält. Und sein Botschafter in Berlin, Andrii Melnyk, sekundierte: Die NATO wolle „eine stärkere Militärpräsenz in den Ländern, die sich durch Russland bedroht fühlen. Wir würden sehr gut in das neue Konzept passen. Konkret heißt das: die gesamte östliche Flanke des Bündnisses wäre gesichert.“ Es ist nicht bekannt, ob eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine auch Gegenstand von Groismans Gespräch im Kanzleramt war. Aber Fakt ist, was der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Harald Kujat, dazu meint: „[…] jede Großmacht hat ihr Kuba, und wer das versteht, weiß, dass es ohne ein gemeinsames Bemühen der Vereinigten Staaten mit Russland – sozusagen auf Augenhöhe – keine dauerhafte Lösung des Ukrainekonflikts geben wird.“
Ebenfalls unmittelbar vor dem Gipfel hatte die Bundeskanzlerin klar gemacht, dass sie Kurs auf eine weitere Erhöhung der deutschen Militärausgaben genommen hat. Sie erklärte – nur leicht verschwurbelt –, „dass ein Land wie Deutschland, das heute 1,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung ausgibt, und die Vereinigten Staaten, die 3,4 Prozent des BIP für Verteidigung ausgeben, sich werden annähern müssen“.
Und bereits im Juni war die Äußerung eines dänischen Offiziers bekannt geworden, der mit einem Kommandoposten beim NATO-Kontingent für Litauen betraut ist. Dieser Jakob Larsen forderte: „Wir müssen wieder lernen, den totalen Krieg zu führen.“ Vom Sportpalast-Vokabular einmal ganz abgesehen, stellt sich die Frage, ob es eigentlich überhaupt ein Inkompetenz-Limit gibt, jenseits dessen kein NATO-Kommandoposten mehr vergeben wird? Wichtiger aber: Wie konnte eigentlich so vollkommen in Vergessenheit geraten, was gegen Ende des Kalten Krieges auf beiden Seiten handlungsleitende Erkenntnisse waren? Dass nämlich jeder direkte militärische Konflikt zwischen Ost und West nuklear zu werden droht und dass jeder atomare Ersteinsatz in einem solchen Konflikt nahezu zwangsläufig bis zum allgemeinen thermonuklearen Schlagabtausch eskalieren müsste. Dass es in einem solchen Konflikt nicht nur keinen Sieger geben würde, sondern dass er durch Auslösen eines nuklearen Winters die menschliche Zivilisation global gefährden könnte. Und speziell den baltischen Staaten fehlt überdies dringlich eine Debatte, wie sie in den letzten Jahren des Kalten Krieges nicht nur in den damaligen beiden deutschen Staaten geführt worden war – über die Kriegsuntauglichkeit moderner Gesellschaften. Die wären angesichts der multiplen Zerstörungswirkungen heutiger Waffensysteme und infolge der existenziellen Verwundbarkeiten der Gesellschaften in den Bereichen Daseinsvorsorge und Wirtschaft selbst im Falle bloß konventioneller raumgreifender Kriegführung militärisch gar nicht mehr zu verteidigen, sondern nur noch zu zerstören. Der letztgenannte Sachverhalt dürfte sich in den vergangenen 30 Jahren allein durch die inzwischen quasi ubiquitäre Abhängigkeit aller gesellschaftlichen Lebensbereiche von höchst störanfälligen vernetzten IT-Systemen noch deutlich, eher exponentiell als linear, zugespitzt haben.
Doch zurück zum NATO-Gipfel: Was mag der tiefere Sinn hinter den hier skizzierten Entscheidungen und Statements von Warschau sein? Vielleicht hat George Friedman, Gründer und Chef des einflussreichen privaten US-Thinktanks Stratfor darauf bereits im Februar 2015 eine Antwort gegeben, als er vor dem Chicago Council on Global Affairs ausführte „dass die USA einen ‚Cordon Sanitaire‘ um Russland errichten. Russland weiß das. Russland glaubt, dass die USA beabsichtigen, die Russische Föderation zu zerstören.“ Töten wollten die USA Russland zwar nicht, „aber ihm ein bisschen schaden“ schon.
„Wir befinden uns in einem Wettrennen zwischen Kooperation und Katastrophe“, hat der ehemaligen US-Senator Sam Nunn jüngst geäußert. Mit dem Warschauer NATO-Gipfel ist die Katastrophe zwar noch nicht da, aber ein Stück näher gerückt sein könnte sie schon.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus der heute erschienenen neuesten Ausgabe von „Das Blättchen – Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft“. Die komplette Ausgabe kann auf der Website www.das-blaettchen.de kostenfrei eingesehen werden.
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