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Von Spargelstechen und antislawischem Rassismus

Rassismus gegen Menschen aus Osteuropa hat in Deutschland Geschichte und wird auch nach dem Krieg in der Ukraine ein Problem bleiben. Rita erklärt warum.

Im Februar 2022 blickte die ganze Welt auf Osteuropa: Russland startete einen schrecklichen Angriffskrieg gegen die Ukraine und das Leiden zahlreicher Ukrainer*innen löste eine EU-weite Solidaritätswelle aus. Von rein symbolischen Ukraineflaggen hinter dem Namen auf Twitter bis hin zu Waffenlieferungen. Die Solidarität westlicher Länder ist nicht selbstverständlich. Doch eines zeigt uns die Geschichte der Länder des sogenannten Westens: Ihre Solidarität ist selektiv und das hat mit dem tiefsitzenden kolonialgeprägten Rassismus zu tun.

Jedes Jahr zur Erntesaison reisen Hunderttausende Arbeiter*innen aus Rumänien, Bulgarien oder Polen nach Deutschland und werden systematisch ausgebeutet. Sie werden nicht nur schlecht bezahlt, sondern müssen davon oft auch noch eine Container-Unterkunft finanzieren. Seit der Corona-Pandemie befindet sich die Landwirtschaft in Deutschland in einer Krise, denn viele deutsche Kräfte sind die harte Arbeit nicht gewöhnt, und die Zahl der osteuropäischen Arbeiter*innen ist rückläufig. Die Landwirtschaft ist nicht der einzige Sektor, den Migrant*innen am Laufen halten: auch deutsche Krankenhäuser und Pflege, Fleischindustrie und Reinigung.

Die Ausbeutung osteuropäischer Arbeitskräfte steht in einer historischen Kontinuität. Die Wurzeln liegen im Deutschen Kaiserreich.

Entstehung des Antislawismus und die Folgen bis heute

Die Abgrenzung von osteuropäischen Kulturen begann im 19. Jahrhundert. Trotz räumlicher Nähe zum westlichen Europa wurde die Vorstellung eines rückständigen Osteuropas geprägt, das sich vom zivilisierten Westeuropa unterscheide. Die Herausbildung des mitteleuropäischen Deutschnationalismus als Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkte die Abgrenzung gegenüber dem „Slawentum“, das als Bedrohung an den „Volkstumsgrenzen“ dargestellt wurde.

Die Kategorie des „Slawentums“ erfüllte dabei den Zweck der Identifikation eines gemeinsamen Feindes, dem es entgegenzutreten galt; ein Dachbegriff für mehrere osteuropäische Kulturen. Im Deutschen Reich lässt sich diese Ausrichtung bis in die obersten Regierungskreise feststellen: Reichskanzler Otto von Bismarck sprach von einer „krebsartig um sich fressenden Polonisierung“ und von der Unfähigkeit slawischer Nationalitäten zur eigenen Staatlichkeit. Mit dem späteren Überfall auf Osteuropa 1941 war Teil des nationalsozialistischen „Generalplans Ost“ eine „Germanisierung“ Osteuropas, die unter anderem zu Entstehung der sogenannten „Ostarbeiter*innen“ führte, die völlig entrechtet waren. Erst 2020 erkannte der Bundestag diese Opfer des Nationalsozialismus an.

Fehlende Aufmerksamkeit

Heute lebt der Antislawismus zum Beispiel darin weiter, dass die schon erwähnte Ausbeutung von Arbeiter*innen aus Osteuropa mit Stereotypen wie „belastbar“ und „ungebildet“ gerechtfertigt werden. Antislawismus bleibt jedoch in der Rassismusforschung sowie im politischen Diskurs am Rande. Die fehlende öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema hat zum einen mit der fehlenden Aufmerksamkeit in der Rassismusforschung und zum anderen damit zu tun, dass die Antirassismus-Debatte größtenteils aus dem nordamerikanischen Raum unverändert übertragen wird – obwohl sich die konkreten Spaltlinien hierzulande anders als dort gestalten.

Höchste Zeit für Veränderung

Wie flexibel die Kategorisierung der Osteuropäer*innen im Westen funktioniert, zeigte sich nicht nur im Nationalsozialismus, sondern ist auch heute noch erkennbar. Überspitzt formuliert: Weiß genug, um auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu arbeiten – gerade im informellen Pflegesektor spielt die Hautfarbe eine Rolle –, nicht weiß genug, um einen Mindestlohn oder gute Arbeitsbedingungen zu erhalten.

Zu Beginn des Ukraine-Kriegs wurden Ukrainer*innen über Nacht zu Europäer*innen. Doch wenige Monate später ist klar, dass ukrainische Geflüchtete vor allem in der Bau-, Logistik- und Reinigungsbranche sowie von Lieferdiensten ausgebeutet werden. So wird ihre Lage ausgenutzt. Es wird also höchste Zeit, bei Arbeiter*innenkämpfen osteuropäische Arbeitskräfte mitzudenken und auch ihre Rassismuserfahrungen anzuerkennen.

Dieser Beitrag von Rita Kavali erschien zuerst in der aktuellen critica.

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