Rassismus ist die gemeinsame Klammer und der Treibstoff der AfD. Doch ohne den reaktionären Antikapitalismus wäre der Erfolg der Neofaschisten insbesondere im Osten nicht zu erklären. Von Simon Zamora Martin
Dramatische Musik erklingt, als am 6. Juli 2019 das ostdeutsche Triumvirat der AfD in Keilformation über den blauen Laufsteg nach vorne schreitet. An der Spitze, mit breitem Lächeln, strengem Seitenscheitel und stahlblauen Augen, der Führer des offiziell mittlerweile aufgelösten „Flügels“: Björn Höcke. Direkt hinter ihm folgen der sächsische Landeschef der AfD Jörg Urban und der wahlbrandenburger Unteroffizier Andreas Kalbitz, der momentan gegen seinen Parteiausschluss vorgeht. „Höcke, Höcke“ brüllen ihnen hunderte Anhänger von ihren langen Bierbänken entgegen, während sie mit Deutschlandwimpeln um sich wedeln.
„Somewheres“ und „Anywheres“
Den Schlussakt des Kyffhäuser-Dramas bestreitet der „Führer“ alleine auf der Bühne: „Die Anywheres sind die Globalen Eliten“, beginnt Höcke seinen Monolog, „die morgens ein Meeting in Tokio haben, dann nachmittags zum Golf spielen in Singapur eintreffen, um am nächsten Tag am Abend auf dem Liegestuhl auf der Sonnenterrasse in Sankt Moritz ihren Latte-Machiato zu trinken. Diese globale Elite hat keine geographische Identität.“
„Die Somewheres“, fährt Höcke fort, „sind diejenigen, die ihren Wohnsitz mal nicht ebenso in eine Steueroase verlegen können. Das ist der Soldat, das ist der Polizist, der mit Überzeugung seinem Land dienen möchte. Das ist der Lehrer. (…) Das ist der mittelständische Unternehmer, der sein Unternehmen nicht einfach mal so in ein Niedriglohnland auslagern kann oder nicht auslagern will, weil er eine Verantwortung gegenüber seinen Mitarbeitern spürt. Das sind die Leistungsträger, die den ganzen Laden am Laufen halten (…). Das ist auch der Rentner, der nach einem langen, entbehrungsreichen Arbeitsleben gezwungen ist, Flaschen zu sammeln. Die Somewheres sind all die Menschen mit einer geographischen Identität. Das sind die, die täglich von den Multi-Kulti-Spinnern und den links-grün versifften Globalisierungsextremisten drangsaliert und ausgepresst werden.“ Die Menge tobt.
Globalisierungskritik der Neofaschisten
Was Höcke hier formuliert, ist nichts anderes als eine völkische Globalisierungskritik, eine Herrschafts- und Elitenkritik, wie sie bereits die Nationalsozialisten formulierten, die die wahren Klassengegensätze hinter einer rassistischen Ideologie der Identität zu verschleiern versucht.
Diese scheinbare Kritik spielt eine bedeutende Rolle in der Agitation und Propaganda der AfD. Ohne sie sind die Rekordergebnisse der AfD insbesondere in Ostdeutschland nicht zu verstehen. Denn gerade dort scheinen die Neofaschisten damit auf offene Ohren zu stoßen – in jenen Landstrichen, die nach der Wiedervereinigung mit der größten Privatisierungswelle der deutschen Geschichte den neoliberalen Kapitalismus in voller Härte zu spüren bekamen.
Klasse, Identität und der Feind im Inneren
Die Rede von den „Somewheres“ und „Anywheres“, die auch Alexander Gauland gerne verwendet, stammt vom britischen Millionärssöhnchen und angeblichen Ex-Marxisten David Goodhart. Wie das Zitat von Höcke zeigt, überlagert Goodhart, der durchaus auch von Linksliberalen zitiert wird, Klassenfragen mit Identitätsfragen. Für die völkischen Globalisierungskritiker verläuft der Hauptwiderspruch nicht zwischen den Klassen und auch nicht zwischen arm und reich, sondern ist eine Frage der Identifikation mit der „Heimat“, also dem Boden, auf dem man geboren wurde.
Die Schuld für die herrschenden Verhältnisse wird also nicht ausschließlich auf ein vermeintliches „Außen“ projiziert, etwa Migrantinnen, Geflüchtete oder Muslime – es gibt auch einen Feind im Inneren. Dazu zählen die Neofaschisten nicht nur Linke, Gewerkschaften, Antirassistinnen, Feministinnen und Klimaschützer, sondern auch eine „globalistische Klasse“ (Alexander Gauland) eine abgehobene Elite, die sich von ihrer „Heimat“ abgewendet habe.
Neofaschisten: „Elite“ vs. „Volk“
Diese Form der „Elitenkritik“ ermöglicht es den Neofaschisten, den Frust über den neoliberalen Kapitalismus in ihre Bahnen zu kanalisieren, ohne ihn dabei generell gegen die Reichen und Mächtigen zu richten. Ja, sie zeigen mit dem Finger auch nach oben. Aber wer zur „globalistischen Klasse“ zählt und wer nicht, machen sie nicht an der sozialen Stellung in der Gesellschaft fest, sondern an der richtigen politischen Haltung.
Damit gelingt den Neofaschisten eine Verschiebung der gesellschaftlichen Konfliktlinien: Aus der Klassenfrage wird eine Identitätsfrage, im Gewand eines Konfliktes zwischen der „Elite“ und dem „Volk“. Zum „Volk“ zählen alle, die sich ihrer „Heimat“ verbunden fühlen und sich zur „Nation“ bekennen. Zu Handlangern der Eliten erklären sie hingegen alle, die sich gegen den völkischen Nationalismus und Rassismus der Rechten zur Wehr setzen. Der Feind steht mit der Elitenkritik der AfD plötzlich an der Werkbank neben dir. Der nationalistisch eingestellte Chef wird zu deinem Freund.
„Austausch der Eliten“
Doch die Elitenkritik der faschistischen Rechten unterscheidet sich von linker Kritik nicht nur in der Frage, wer zur Elite oder herrschenden Klasse zählt und wer nicht. Während linke Herrschaftskritik auf eine Überwindung von Herrschaft abzielt, ist das Ziel rechter Elitenkritik lediglich der Austausch der „Elite“ durch einen neuen starken „Führer“. Hierfür wird sich in neofaschistischen Kreisen gerne auf den italienischen Ökonomen und Soziologen Vilfredo Pareto bezogen, in dem bereits der italienische Diktator Benito Mussolini einen hervorragenden Lehrmeister erkannte.
Unter „Elite“ verstand Pareto eine Aristokratie der „Besten“. Ab einem gewissen Zeitpunkt würde sich die „Elite“ jedoch dem Zufluss durch „die Besten“ planmäßig verweigern und allmählich geistig-intellektuell verkümmern. Parallel dazu würde sich in den unteren Bevölkerungsschichten jedoch allmählich ein „Elitebewusstsein“ formen, das nach oben drängt und sich gegen die Elite an der Macht auflehnt. Für Pareto war es die Revolution, die letztendlich zum „Austausch der Eliten“ führt: Neue, produktive Führungsschichten verdrängen die alten, abgewirtschafteten. Eine „Elite“ wird bei Pareto allerdings auch in Revolutionen stets nur von einer „Reserve-Elite“, nie jedoch von einer Masse ersetzt. Der „Austausch der Eliten“ bedeutet lediglich eine Machtverschiebung zwischen verschiedenen Fraktionen des Kapitals. Man ahnt, warum Pareto sowohl den italienischen Faschisten der 1920er Jahre, aber auch den heutigen Faschisten in der AfD so gerne als Referenz dient.
Verrat der Sozialdemokratie
Erfolg hat die AfD mit ihrer völkischen Herrschaftskritik auch deshalb, weil sie auf den weit verbreiteten Unmut über den Verrat der Sozialdemokratie und das Stillhalten der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsbürokratie aufbauen kann.
Wie Höcke versucht, diesen Unmut zu nutzen, und gleichzeitig rechte Bosse als Verbündete zu verkaufen, zeigte er am 1. Mai 2017 in Erfurt: 1200 Menschen hatten sich unter dem Motto „Sozial, ohne rot zu werden!“ vor dem Thüringer Landtag für die Werbeveranstaltung der neu gegründeten AfD-Arbeitnehmervertretung „Alarm“ versammelt. Auch Höckes Freunde Andreas Kalbitz und Lutz Bachmann von Pegida waren gekommen.
In seiner Rede greift Höcke die Politik der SPD scharf an: Er kritisierte die Rentenreform mit ihrer Teilprivatisierung unter Kanzler Schröder. Er erinnerte an die Erhöhung der Mehrwertsteuer, unter der vor allem die Armen zu leiden hätten, sowie daran, dass mit der „Agenda 2010“ in Deutschland der größte Niedriglohnsektor Europas geschaffen wurde und die SPD verantwortlich dafür sei, dass die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinandergehe. Die Politik der SPD war „wie die der anderen Kartellparteien in den letzten zwanzig Jahren eine Politik für die zehn Prozent der Globalisierungsgewinner“, so Höcke. „Ich möchte, dass wir eine Politik für die neunzig Prozent der Globalisierungsverlierer machen!“
Die „verrotteten Altgewerkschaften“
Höcke endet seine Rede mit einem Loblied auf den deutschen Textilunternehmer Wolfgang Grupp – ein Familienpatriarch, der Gewerkschafter öffentlich als „Lumpen“ bezeichnet. „Dieser Unternehmer ist ein aufrechter Kämpfer gegen den Ausverkauf deutscher Ideen und Werte an die neoliberalen Wanderheuschrecken, die keine Verantwortung für Standorte und Menschen mehr kennen“, so Höcke.
Sein Kollege Kalbitz legt nach und hetzt gegen „die verrotteten Altgewerkschaften“: „Was wir da sehen, sind Organisationen, die als verlängerter Arm dieser vor sich hinmerkelnden Regierung, geführt von fettgefressenen Gewerkschaftsbonzen, eine Einheitsfront (gegen die AfD) gebildet haben.“ Daher habe sich „Alarm“ gegründet, als Gegengewerkschaft, gegen die „Klassenkampffantasien dieser ganzen Mulit-Kulti Protagonisten“.
„Geldsystem“ und „Kulturmarxisten“
Solche Angriffe auf den Reformismus bei gleichzeitiger Verschiebung der Klassenwidersprüche sind keineswegs neu. Auch die Nationalsozialisten teilten mit ihrem Antisemitismus die Kapitalisten in „gute Deutsche“ und „böse Weltjuden“, in „schaffendes“ und „raffendes“ Kapital. Höcke verwendet dieselben Sprachbilder in seiner völkischen „Kapitalismuskritik“: Auf einer Wahlveranstaltung im brandenburgischen Königs Wusterhausen im August 2019 sprach er von „Kulturmarxisten“ und einem „Geldsystem“, das „tot krank“ sei, sowie vom „Finanzkapitalismus, der uns in seinen Klauen hält“ und „völlig entartet“ sei.
Völkischer Antikapitalismus war schon immer ein prägendes Element des Faschismus als Bewegung, da er nur so in der Lage ist, eine eigenständige Massenbasis aufzubauen. Diese braucht er, um die politische Macht zu ergreifen und die organisierte Arbeiterbewegung zu zerschlagen. Seine soziale Basis hat der Faschismus im Kleinbürgertum, doch um stark genug zu werden, ist er auch auf Unterstützung aus der Arbeiterklasse angewiesen. Die SA rekrutierte sich in den frühen 1930er Jahren insbesondere aus dem gewaltigen Heer der Arbeitslosen.
Neofaschisten und Arbeiterklasse
Der AfD ist es gelungen, in die Arbeiterklasse vorzudringen, insbesondere im Osten. Bei der Bundestagswahl 2017 wählten nach einer Studie der Forschungsgruppe Wahlen 15 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Befragten die AfD. Bei den jüngsten Landtagswahlen in Sachsen waren es sogar noch mehr. Besonders gut verfängt die Ansprache der Neofaschisten bei männlichen Gewerkschaftern. In Sachsen stimmten sie zu 34,1 Prozent für die AfD, von den Gewerkschafterinnen waren es 18 Prozent.
Im Osten des Landes trifft die Kritik der AfD an Sozialdemokratie und Gewerkschaften auf den fruchtbarsten Boden. So etwa in Cottbus, der bisher einzigen Großstadt, in der die AfD zur stärksten Kraft wurde. Die Region hat während des Ausverkaufs nach der Wende sehr gelitten. Fast die Hälfte der Einwohner war infolge des wirtschaftlichen Niedergangs gezwungen, die Gegend zu verlassen. Die Löhne und Arbeitsbedingungen sind nach wie vor weit unter dem Niveau in Westdeutschland. Und nun macht der bevorstehende Strukturwandel mit dem Kohleausstieg den Menschen Angst vor einem erneuten wirtschaftlichen Kahlschlag.
Neben dem Rassismus ist die rechte Kritik am Klimaschutz zu einem weiteren Standbein der AfD in der Region geworden, die sie zunehmend auch bundesweit ins Zentrum ihrer Politik rückt. Und nicht nur bei der Frage des Kohleabbaus versucht die AfD, sich als Stimme der Arbeiterinnen und Arbeiter zu inszenieren. Auch mit der Kampagne „Ein Herz für Diesel“ zielt sie nicht nur auf Dieselfahrer, sondern auch auf die Beschäftigten in der Autoindustrie, die nach Abgasskandal und Fahrverboten sowie dem angekündigten Dieselausstieg einiger Hersteller vor allem in den Zulieferbetrieben um ihre Arbeitsplätze fürchten.
„Partei des kleinen Mannes“
Die Protagonisten des ehemaligen „Flügels“, die auch nach der offiziellen Auflösung der Parteiströmung großen Einfluss in der AfD haben, haben eine klare Strategie, die auf die Gewinnung von Arbeiterinnen und Arbeitern abzielt. Leute wie Björn Höcke, Jürgen Pohl, Jens Maier oder Andreas Kalbitz arbeiten aktiv am sozialen und „rebellischen“ Profil der AfD. Der reaktionäre Antikapitalismus und die „national-soziale“ Ausrichtung des Flügels dienen dem Aufbau einer Massenbewegung auf der Straße. Für ihre Kundgebungen und Demos zum 1. Mai verwendet die AfD Slogans wie „Andere sind links, wir sind sozial“. Ihre Forderungen sind „Wohlstandslohn statt Mindestlohn“, „Alterswürde statt Altersarmut“ und „Kein Raubbau am Sozialstaat“. Während neoliberale Positionen im Parteiprogramm dominieren, treten die Neofaschisten der AfD mit klassisch „sozialen“ Positionen auf. Deswegen funktioniert es auch nicht, diese Kräfte als Neoliberale zu brandmarken.
„Der Osten steht auf.“ Groß prangt der Schriftzug hinter der Bühne auf dem Kyffhäusertreffen des „Flügels“. Der Führungsanspruch der Neofaschisten in der AfD ist hier unhinterfragt. Das weiß auch der Wessi mit den stahlblauen Augen und arbeitet weiter daran, die AfD als „Partei des kleinen Mannes“ gegen die „globalistische Klasse“ und ihre Handlanger aufzubauen.
Ein Beitrag von Simon Zamora Martin, er ist Freier Journalist und Fotograf, der Beitrag erschien im Magazin Marx21
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