Hat sich die Bedeutung der Ideen Leo Trotzkis mit dem Zusammenbruch des Stalinismus vor 25 Jahren erschöpft? Gibt es folglich keinen Grund eine politische Bewegung aufzubauen, die sich als trotzkistisch versteht? Bedeutet das Festhalten am Trotzkismus gar rückwärtsgewandte Politik, Dogmatismus und eine Barriere für die Schaffung sozialistischer Einheit?
Diese Haltung nehmen nicht nur GegnerInnen von Trotzki und seinen Ideen ein, sondern auch so mancher frühere Trotzkist, wie zum Beispiel der Franzose Alain Krivine, der eine Rolle dabei spielte die sich als trotzkistisch verstehende Ligue Communiste Revolutionnaire (LCR) mit der Gründung der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) aufzulösen. Dieser Artikel soll erklären, warum sich der Trotzkismus nicht nur durch seinen antistalinistischen Inhalt definiert und auch im 21. Jahrhundert die beste Anleitung zur Entwicklung einer sozialistischen Politik und Perspektive ist.
Ein Artikel von Sascha Stanicic, Bundessprecher der Sozialistischen Alternative
Trotzki gehört zweifellos zu den größten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Neben Lenin war er der wichtigste Führer des bedeutendsten Ereignisses in der bisherigen Menschheitsgeschichte: der russischen Oktoberrevolution. Allein diese Rolle würde ihm einen Platz im Olymp der Arbeiterbewegung sichern. Aber er war nicht nur ein revolutionärer Führer, Redner, Organisator, er hat nicht nur die Rote Armee aus dem Nichts geschaffen und zum Sieg im Bürgerkrieg gegen die konterrevolutionären und imperialistischen Truppen geführt. Er hat vor allem den entscheidenden Beitrag im 20. Jahrhundert geleistet, den Marxismus auf eine sich verändernde Welt anzuwenden.
Trotzkismus als marxistische Methode
Nichts anderes ist Trotzkismus: die Anwendung der marxistischen Methode in modernen Zeiten. In einigen der wichtigsten neuen Fragen, die sich der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert stellten, hat Trotzki die klarsten Antworten formuliert – und das früher als jeder andere. Er hat die Texte von Marx, Engels und Lenin nicht als in Stein gemeißelte Dogmen verstanden, sondern die ihnen zugrunde liegende Denkweise angewendet und somit den Marxismus entscheidend weiter entwickelt. Auf dogmatische MarxistInnen angesprochen soll Marx selber einmal gesagt haben, er sei kein Marxist. Trotzki würde sicher ähnlich reagieren, wenn er sehen könnte, wie einige seiner selbst ernannten Erben nur seine Worte wiederholen, anstatt seine Methode anzuwenden. Die Ideen Trotzkis, die in unzähligen Büchern, Artikeln und Briefen formuliert wurden und bis heute leider keine Zusammenfassung in einer kompletten Werkausgabe gefunden haben, müssen auch heute als Leitlinie aufgefasst und weiter entwickelt werden. Sie formulieren aber gleichzeitig zentrale Erkenntnisse und Prinzipien des Marxismus, die verteidigt werden müssen. Manche dieser Ideen waren neue Antworten auf neue Situationen, andere waren weitgehend die Verteidigung marxistischer Prinzipien gegen deren Aufgabe in den dominierenden Strömungen der Arbeiterbewegung, der reformistischen Sozialdemokratie und dem, in seiner Politik nicht minder reformistischen, Stalinismus.
Es können einige wesentliche Ideen benannt werden, die den Trotzkismus ausmachen und heute weiterhin von großer Bedeutung sind.
Die bahnbrechenden Beiträge Trotzkis zum Marxismus sind erstens die Analyse des Stalinismus und daraus ableitend Grundsätze einer sozialistischen Demokratie und zweitens die so genannte Theorie der Permanenten Revolution, die höchste Aktualität für die Aufgaben der Arbeiterbewegung in Afrika, Asien und Lateinamerika hat. Darüber hinaus sind folgende wichtigen Merkmale des Trotzkismus zu nennen: Drittens Trotzkis Faschismusanalyse und seine Vorschläge zum antifaschistischen Kampf. Viertens seine Analyse der so genannten Volksfronten, der Regierungsbündnisse von Arbeiterparteien mit bürgerlichen, pro-kapitalistischen Parteien. Fünftens das Übergangsprogramm und die diesem zugrunde liegende Methode ein Programm auszuarbeiten, das eine Brücke zwischen dem heutigen Bewusstsein der Arbeiterklasse und der sozialistischen Revolution darstellt. Sechstens das Organisationsverständnis, die Notwendigkeit revolutionäre, marxistische Organisationen aufzubauen. Siebtens der Internationalismus, sowohl im Sinne der Notwendigkeit einer internationalen sozialistischen Revolution als Teil der Theorie der Permanenten Revolution, als auch als internationalistisches Organisationsprinzip – der Schaffung einer marxistischen Internationale.
Antibürokratischer Marxismus
Ab den frühen 1920er Jahren war Trotzkis Leben vom Kampf gegen die Bürokratisierung der jungen Sowjetunion und den aufkommenden Stalinismus geprägt. Dies war ein völlig neues historisches Phänomen, das von den großen marxistischen Lehrmeistern nicht voraus gesehen werden konnte. Es ist Trotzkis größtes theoretisches Verdienst eine marxistische Analyse des Stalinismus entwickelt zu haben, die in jeder Hinsicht den Test der geschichtlichen Ereignisse bestanden hat.
Heute stellen bürgerliche Historiker Trotzki als den Verlierer eines persönlichen Machtkampfes dar und auch AnarchistInnen behaupten, wäre Trotzki erfolgreich gewesen, wäre er an Stalins Stelle zum Diktator geworden. Trotzki selber hat diese Thesen politisch und praktisch widerlegt. In seiner unvollendeten Stalin-Biographie schrieb er: “Weder Stalin noch ich sind zufällig in unsere heutigen Positionen geraten. Wir haben diese Positionen nicht erschaffen. Jeder von uns ist in dieses Drama als Vertreter bestimmter Ideen und Prinzipien hineingezogen worden. Diese Ideen und Prinzipien wiederum sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben tiefe soziale Wurzeln. Deshalb muss man nicht von der psychologischen Abstraktion von Stalin als Menschen ausgehen, sondern von seiner konkreten historischen Persönlichkeit als Führer der sowjetischen Bürokratie. Man kann die Taten Stalins nur verstehen, wenn man von den Bedingungen der Existenz der neuen privilegierten Schicht ausgeht, die gierig nach materiellem Komfort, besorgt um ihre Positionen, ängstlich vor den Massen ist und jede Opposition tödlich hasst.”
Aus dem Verständnis, dass die Bürokratie Ausdruck der sozialen Entwicklungen in der Sowjetunion war, lehnte Trotzki es ab, seinen Einfluss in der Roten Armee für ein militärisches Vorgehen gegen Stalin und seine Gefolgsleute zu nutzen. Er war sich bewusst, dass nur die unabhängige Aktion der Arbeiterklasse die Bürokratie schlagen könnte und wollte nicht einen Beitrag dazu leisten, die Parteibürokratie durch eine Militärbürokratie zu ersetzen.
Einschränkungen demokratischer Freiheiten, die Trotzki während und kurz nach dem Bürgerkrieg mitgetragen hatte, wurden von ihm, Lenin und den Bolschewiki als vorübergehende Notmaßnahmen zur Verteidigung des jungen und schwachen Arbeiterstaates verstanden, nicht als kommunistische Prinzipien. Deshalb stellte er in den Mittelpunkt des Kampfes gegen die Bürokratie die Forderung nach freier Debatte in der Kommunistischen Partei und nach der Wiederbelebung der Räte als Organe der Arbeiterdemokratie.
Seine Opposition gegen den Stalinismus fußte auf einem Klassenstandpunkt. Er verteidigte die durch die Oktoberrevolution erreichten Errungenschaften – die Verstaatlichung der Wirtschaft, die ökonomische Planung und das Außenhandelsmonopol. Er argumentierte dafür, dass Staat und Wirtschaft wieder unter die Kontrolle und Leitung der Arbeiterklasse geraten. Dies war, spätestens ab Beginn der 1930er Jahre, nur durch einen revolutionären Sturz der herrschenden Bürokratie möglich, die eine politische Konterrevolution – die politische Entmachtung der Arbeiterklasse – durchgeführt hatte. Trotzki sagte voraus, dass ohne eine solche politische Revolution, die eine sozialistische Entwicklung der Sowjetunion hätte einleiten können, eine Wiederherstellung des Kapitalismus drohe, die das Land weit zurück werfen würde. Später als vorhersehbar war, hat sich diese Perspektive 1989 bis 1991 bestätigt. Die Restauration des Kapitalismus stellte und stellt für die russischen Massen und die Bevölkerungen in den anderen ehemals stalinistischen Staaten eine soziale Katastrophe dar.
Trotzkis Stalinismusanalyse ist nicht nur von historischem Interesse. Abgesehen davon, dass sie auf die heutige Situation in Kuba anwendbar ist, bietet sie auch eine Leitlinie in Bezug auf die Bürokratisierung der venezolanischen Gesellschaft unter Hugo Chávez und jetzt Nicolás Maduro, auch wenn dort die kapitalistischen Verhältnisse bisher nicht abgeschafft wurden. Vor allem aber gibt sie eine Vorstellung von der sozialistischen Demokratie, die MarxistInnen anstreben. Sie führt zur Unterstreichung sozialistischer Prinzipien, die in der Pariser Kommune und der Oktoberrevolution ausgearbeitet wurden und wichtige Grundpfeiler für eine Arbeiterdemokratie darstellen müssen: die jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit von Funktionären, die Begrenzung von Funktionärsgehältern auf einen durchschnittlichen Arbeiterlohn, die Rotation von Ämtern, den Aufbau demokratisch strukturierter bewaffneter Staatsorgane (Milizen als Umsetzung der klassischen sozialistischen Forderung nach Volksbewaffnung) statt eines von der Gesellschaft abgehobenen stehenden Heers. Heute würden MarxistInnen aufgrund der Erfahrungen mit dem Stalinismus eine grundsätzliche Opposition gegen einen Ein-Parteien-Staat hinzufügen und das Recht zur Bildung von freien Gewerkschaften und Parteien fordern – selbstverständlich mit Ausnahme solcher faschistischer und konterrevolutionärer Parteien, die mit Waffengewalt gegen einen Arbeiterstaat vorgehen wollen.
Permanente Revolution im 20. und 21. Jahrhundert
Trotzki entwickelte aus den Erfahrungen der Russischen Revolution von 1905 und einer Analyse der russischen Gesellschaftsstruktur die These, dass in Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung nicht die nationale Kapitalistenklasse die offenen Aufgaben der bürgerlichen Revolution lösen kann, sondern nur die Arbeiterklasse dies erreichen kann. Diese könne aber in einem revolutionären Prozess nicht bei den bürgerlichen Aufgaben verharren, sondern müsse zur Festigung ihrer Macht und zur Durchsetzung ihrer Interessen unmittelbar an die Aufgaben der sozialistischen Revolution gehen. Diese Revolutionskonzeption ist als Theorie der Permanenten Revolution bekannt geworden und wurde von Trotzki später verallgemeinert auf ökonomisch unterentwickelte Länder angewendet. Sie ist auch heute noch zutreffend.
Die ehemals koloniale Welt befindet sich heute in einem Zustand wirtschaftlicher Abhängigkeit von den imperialistischen Staaten und ihren Institutionen, wie IWF und Weltbank. Der klassische Kolonialismus wurde von einem Neokolonialismus abgelöst, der zwar formelle Unabhängigkeit bedeutet, aber real nur eine neue Form der Abhängigkeit eingeführt hat. In Ländern wie Pakistan, Nigeria oder Kolumbien gibt es keine stabilen bürgerlichen Demokratien, es herrschen weiterhin halbfeudale Zustände auf dem Land, die nationale Frage ist (wo sie existiert) ungelöst. Offensichtlich haben sich die Kapitalistenklassen in diesen Ländern als zu schwach, unfähig und unwillig zur Lösung der Aufgaben der bürgerlichen Revolution gezeigt. Das hat seine Gründe in der enormen wirtschaftlichen und militärischen Dominanz der imperialistischen Staaten, aber auch darin, dass Kapitalistenklassen und Großgrundbesitzer in solchen Ländern weitgehend eine Personalunion bilden. Die Kapitalisten haben auf dem Land investiert und die Großgrundbesitzer haben in der Industrie investiert. Es gibt kein Interesse der Kapitalisten die Landfrage zu lösen. Mehr noch: die Angst vor der Arbeiterklasse hält das schwache Bürgertum in diesen Ländern davon ab, an die Lösung dieser Fragen heranzugehen. Denn würde die Arbeiterklasse mobilisiert, gäbe es für sie keinen Grund bei den bürgerlichen Aufgaben stehen zu bleiben. Sie würde ihre sozialen Interessen zur Geltung bringen und ihre eigenen Forderungen nach höherem Lohn, menschenwürdigen Arbeitsbedingungen, freien Gewerkschaften, Streikrecht, Sozialversicherungen etc. aufstellen und dafür kämpfen. Das würde sie in einen unüberbrückbaren Widerspruch zu den Interessen der einheimischen Kapitalisten bringen und die Frage der sozialistischen Revolution auf die Tagesordnung setzen. Genau das konnte man in vielen revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts beobachten.
Als die iranischen Massen 1978/79 gegen die Diktatur des Schah Reza Pahlavi aufbegehrten, spielte die Arbeiterklasse durch einen wochenlangen Generalstreik die entscheidende Rolle, das verhasste Regime zum Sturz zu bringen. In ihren Mobilisierungen gegen den Schah stellte sie aber nicht nur demokratische Forderungen auf, sondern auch soziale. Räte entstanden und Forderungen nach Verstaatlichung, zum Beispiel der Ölindustrie, wurden erhoben. Eine Republik der Armen wurde gefordert, die nur erreichbar gewesen wäre, wenn die Revolution den bürgerlich-kapitalistischen Rahmen verlassen hätte. Um das zu verhindern, musste der Kapitalismus Zuflucht zu den Islamisten um Ayatollah Khomeini nehmen, der die Revolution von innen zerstören und die Arbeiterbewegung unterdrücken konnte. Ähnliche Phänomene konnte man in Indonesien in den 1960er Jahren oder in der portugiesischen Nelkenrevolution 1974 beobachten. Eine künstliche Beschränkung der sozialen Kämpfe auf bürgerlich-demokratische Forderungen entspricht nicht der gesellschaftlichen Situation und der Dynamik der Arbeiterkämpfe. Die Politik der an verschiedenen Schattierungen des Stalinismus orientierten Kräfte, auf Bündnisse mit bürgerlichen Kräften zur Erkämpfung einer kapitalistisch-demokratischen Etappe zu setzen, war zum Scheitern verurteilt. Diese auf der so genannten Etappentheorie basierende Politik verkennt, den schwachen und abhängigen Charakter des Bürgertums in diesen Ländern und schreibt diesem ein revolutionäres Potenzial zu, was es nicht hat.
Tatsächlich hat sich die Theorie der Permanenten Revolution auch in den Ländern bestätigt, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg der Kapitalismus abgeschafft wurde – wenn auch in verzerrter Form. In China, Kuba und anderen Ländern entwickelten sich aufgrund der Politik der die Arbeiterbewegung dominierenden stalinistischen und kleinbürgerlichen Kräfte zwar keine klassischen Arbeiterrevolutionen nach dem Vorbild der Oktoberrevolution, aber die Tatsache, dass der Kapitalismus unfähig war, diese Länder sozial und ökonomisch zu entwickeln, führte zu einem Vakuum, in das die Guerillas von Mao und Castro hinein stoßen konnten und das diese dazu zwang weiter zu gehen, als sie ursprünglich vor hatten (denn Mao war ein Anhänger der Etappentheorie und Castro nicht mehr als ein kleinbürgerlicher Demokrat) und die kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse zu überwinden und Staaten nach dem Vorbild der stalinistischen Sowjetunion zu schaffen.
Heute sehen wir, wie revolutionäre Bewegungen in Nepal oder Venezuela in die Sackgasse geraten können, wenn sie nicht bereit sind, die Grenzen des Kapitalismus zu sprengen. Die Politik der Maoisten in Nepal, die zum Sturz der Monarchie in eine bürgerliche Regierung eintraten, zeigt keine Perspektive auf, die großen sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lösen und muss zu einer Entfremdung der Massen mit ihnen führen. Unter den nepalesischen Maoisten hat das mittlerweile zu einer Debatte über die Ideen Trotzkis und über die Theorie der Permanenten Revolution geführt.
In Venezuela hatte Chávez eine Zeit lang einen positiven Bezug auf Trotzki und die Permanente Revolution propagiert, seine Ideen aber tatsächlich entstellt. Trotz einer Reihe zu unterstützender Sozialreformen und einiger Verstaatlichungen ist die Politik der venezolanischen Regierung nicht auf einen Bruch mit dem Kapitalismus ausgerichtet. Das führte in den letzten Jahren nicht nur zu einer Reduktion der Sozialprogramme aufgrund der Auswirkungen der kapitalistischen Krise, sondern auch zu einem Rückgang der Unterstützung für Chávez in der Bevölkerung. Insbesondere die stark gewachsene staatliche Bürokratie führt zu großem Unmut. Eine marxistische Politik für Venezuela und Nepal würde die selbständige Organisierung der Arbeiterklasse in den Mittelpunkt rücken und für ein Programm der Verstaatlichung der entscheidenden Wirtschaftsbereiche und der Bildung einer auf Fabrik- und Nachbarschaftskomitees basierenden Arbeiterregierung kämpfen.
Auch der so genannte Arabische frühling ist eine tragische, weil negative, Bestätigung der Theorie der Permanenten Revolution. Zum einen, weil in den beiden Ländern, in denen zumindest die Diktatoren erfolgreich gestürzt wurden – Tunesien und Ägypten – die Arbeiterklasse den entscheidenden beitrag zu diesen Umstürzen leistete. In Tunesien in Form der Mobilisierungen und Organisationskraft des Gewerkschaftsverbandes UGTT, in Ägypten waren die Massenstreiks, neben der andauernden massenhaften Besetzung des Tahir-Platzes in Kairo, der entscheidende Faktor, der Mubarak zum Rückzug zwang. Die Entwicklung seitdem zeigt aber leider auch, dass ohne eine unabhängige Politik der Arbeiterklasse für einen sozialistischen Umsturz, die sozialen Probleme dieser Gesellschaften nicht gelöst werden können und sich die Herrschaft der bürgerlichen und feudalen Eliten nur mit anderen Köpfen an der Spitze fortsetzen. Was in der Arabischen Revolution gefehlt hat, war eine revolutionäre Arbeiterpartei, die eine sozialistische Strategie in der Bewegung hätte durchsetzen können.
Trotzkis Faschismustheorie und antifaschistische Taktik
Trotzki erkannte wie kein Anderer die Gefahr, die in den 1920er und 1930er Jahren von den faschistischen Bewegungen für die Arbeiterklasse und die ganze Menschheit ausging. Immer wieder versuchte er auf die deutsche Arbeiterbewegung Einfluss zu nehmen, um die drohende Katastrophe abzuwenden.
Zwei Gedanken standen bei ihm im Mittelpunkt. Erstens, dass der Faschismus keine normale Form der bürgerlich-kapitalistischen Reaktion war. Mittels seiner Massenbasis im Kleinbürgertum (kleine Gewerbetreibende, Bauern, Beamte etc.) bauten die Faschisten eine terroristische Bewegung auf, deren Ziel die völlige physische Vernichtung jeglicher Formen von Arbeiterorganisationen war. Deshalb sah er im Kampf gegen Hitler die höchste Priorität für die deutsche und internationale Arbeiterbewegung. Er wies die Haltung der Kommunistischen Partei zurück, die den Faschismus-Begriff inflationär benutzte und ihn sowohl auf die halb-bonapartistischen Regierungen vor Hitler (Brüning, Papen, Schleicher) als auch auf die Sozialdemokratie anwendete. Damit wurde die besondere Gefahr, die von den Nazis ausging, relativiert und die Arbeiterklasse nicht auf die nahende Entscheidungsschlacht vorbereitet. Zweitens erkannte Trotzki, dass der Faschismus nur an die Macht gelangen kann, wenn die Kapitalistenklasse ihm dazu verhilft – wenn die Bosse und Bänker also auf die totale Vernichtung der Arbeiterbewegung setzen, um ihre Profitaussichten zu sichern und die drohende sozialistische Revolution abzuwenden. Daraus schlussfolgerte er, dass der Kampf gegen die Nazis auf einer proletarischen Klassenbasis und mit einer sozialistischen Perspektive geführt werden musste. Tatsächlich war die historische Alternative im Deutschland der frühen 1930er Jahre Sozialismus oder Faschismus . Darauf aufbauend argumentierte er für eine Einheitsfront der Arbeiterorganisationen zur Abwehr der Nazis und lehnte zum Beispiel ab, sich auf die Institutionen des bürgerlichen Staates, wie die preußische Polizei, im Kampf gegen Hitler zu verlassen.
Was können wir für den heutigen Kampf gegen NPD und Nazi-Kameradschaften daraus lernen? Natürlich ist die heutige Situation in vielerlei Hinsicht nicht mit den 1930er Jahren zu vergleichen. Weder steht der Kapitalismus kurzfristig vor der Notwendigkeit (noch wäre er dazu in der Lage) zu brutalen diktatorischen Herrschaftsmethoden zu greifen, noch besteht heute eine vergleichbare soziale Basis für eine faschistische Massenbewegung, denn das Kleinbürgertum ist in Deutschland heute viel kleiner als damals. Die Nazis haben dementsprechend keine aktive Massenbasis und erreichen in der Regel nur dann beachtliche Wahlerfolge, wenn sie ihre tatsächlichen Ziele verstecken und sich ein demokratisches Mäntelchen umlegen. Tatsächlich ist daraus das Phänomen rechtspopulistischer Parteien entstanden, die zwar extrem rassistisch und nationalistisch sein können, aber keine einer faschistischen Bewegung vergleichbare physische Bedrohung für die Arbeiterbewegung darstellen. Dass eine solche auch durch kleinere Nazi-Organisationen besteht, zeigten aber die Angriffe auf GewerkschafterInnen in den letzten Jahren. Und doch sind wichtige Gedanken Trotzkis auf heute anwendbar. Zum einen der Gedanke, dass der Faschismus keine normale Form der bürgerlichen Reaktion ist und deshalb auch nicht mit normalen Mitteln bekämpft werden kann. Daraus ergibt sich eine Politik der Konfrontation der Nazis: für die Verhinderung ihrer Aufmärsche und Versammlungen. Ihnen sind demokratische Rechte zu verwehren, weil sie diese nur dazu ausnutzen, Terror zu verbreiten und die Abschaffung demokratischer Rechte vorzubereiten. Zum anderen der Gedanke, dass der Faschismus nicht gemeinsam mit den Vertretern des Kapitalismus zu bekämpfen ist. Nazis ziehen ihre Unterstützung aus dem Image, die Interessen des kleinen Mannes zu vertreten. Sie präsentieren sich als Gegner des Establishments, der Politikerkaste und oftmals auch des kapitalistischen Systems. Wie soll es da möglich sein, gemeinsam mit Vertretern dieses Establishments Menschen, die sich wegen genau dieser Ablehnung von den Faschisten angezogen fühlen oder bereit sind, ihnen eine Chance zu geben, gegen diese zu mobilisieren? Nur wenn der Kampf gegen die Nazis mit einem Kampf gegen die gesellschaftlichen Ursachen, die ihr Wachstum ermöglichen, verbunden wird, kann er auch dauerhaft erfolgreich sein.
Für unabhängige Arbeiterpolitik
Trotzkis Verdienst war nicht zuletzt die Verteidigung von Prinzipien, die die marxistische Arbeiterbewegung über viele Jahrzehnte von Kämpfen und Debatten entwickelt hatte. Rosa Luxemburg führte schon um die Jahrhundertwende den Kampf gegen den so genannten Millerandismus – die Beteiligung von SozialistInnen an bürgerlichen, pro-kapitalistischen Regierungen. Das Mitglied der französischen Sozialistischen Partei Millerand war damals als Minister in die dortige Regierung eingetreten. Luxemburg erklärte, dass man als Mitglied einer Regierung Mitverantwortung für das gesamte Handeln der Regierung übernimmt und es nicht die Aufgabe von SozialistInnen sein kann, an der Verwaltung des Kapitalismus teilzunehmen. Die Bolschewiki verfolgten im Revolutionsjahr 1917 dieselbe Politik als sie sich weigerten in die Provisorische Koalitionsregierung aus bürgerlichen Kadetten, Sozialrevolutionären und Menschewiki einzutreten und diese auch nicht von außen unterstützten. Dieses Prinzip fußte auf der Einschätzung eines unüberbrückbaren Interessengegensatzes zwischen Kapitalistenklasse und Arbeiterklasse und der Unfähigkeit des Kapitalismus, auch bei so genannten Mitte-Links-Regierungen, eine dauerhafte fortschrittliche Entwicklung im Interesse der Masse der Bevölkerung zu ermöglichen. In pro-kapitalistischen Regierungen mussten die Arbeiterparteien zwangsläufig Kompromisse eingehen, die sie ihres sozialistischen und revolutionären Charakters berauben mussten, schließlich stand die Geschäftsgrundlage einer solchen Regierung im Widerspruch zum Sozialismus. Deshalb war eine unabhängige Organisierung und Politik der Arbeiterklasse notwendig und die Arbeiterparteien sollten eine solche betreiben und propagieren, nicht zuletzt um die Massen zu einem Klassenbewusstsein zu erziehen und eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft vorzubereiten.
Die stalinisierte Kommunistische Internationale brach dieses Prinzip nachdem ihre ultralinke Politik der so genannten Dritten Periode in der nahezu widerstandslosen Machtergreifung der Nazis geendet war. Nun schüttete sie das Kind mit dem Bad aus und propagierte im Kampf gegen den Faschismus die Bildung von Koalitionsregierungen mit bürgerlich-demokratischen Parteien zur Verteidigung der kapitalistischen Republik. Die bekanntesten Beispiele für solche Regierungen entstanden in Frankreich und Spanien und wurden Volksfront-Regierungen genannt. Sie spielten eine direkte Rolle bei der Verhinderung einer sozialistischen Revolution. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg traten Kommunistische Parteien in Westeuropa in bürgerliche Koalitionsregierungen ein und leisteten einen Beitrag zu Konsolidierung des Kapitalismus nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, die in vielen Ländern zu starken revolutionären Bewegungen führte. Grund für diese konterrevolutionäre Politik der stalinistischen Parteien waren die Interessen der Moskauer Bürokratie. Diese sah in einer Arbeiterrevolution in einem anderen Land eine Bedrohung ihrer Machtposition, denn die Entwicklung von Arbeiterräten und sozialistischer Demokratie hätte auch für die sowjetische Arbeiterklasse ein Beispiel sein können.
Trotzki führte einen erbitterten Kampf gegen diese Volksfrontpolitik. Er erkannte, dass eine Beschränkung des antifaschistischen Kampfes in Zeiten der sozialen Revolte auf die Verteidigung der kapitalistischen Republik, und damit der kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse, diesen nicht stärkt, sondern schwächt und prophezeite im Fall Spaniens, dass dies zur Niederlage der Republik führen würde. Und er betonte den konterrevolutionären Charakter solcher Volksfrontregierungen und warb für einen Bruch der Arbeiterparteien mit diesen.
Nun befinden wir uns heute nicht in einer revolutionären Periode, wie im Spanien oder Frankreich der 1930er Jahre. Die Frage der Regierungsbeteiligung von linken bzw. Arbeiterparteien mit bürgerlichen, pro-kapitalistischen Parteien ist aber brandaktuell. In Italien führte die Beteiligung der Partido Rifondazione Comunista (Partei der Kommunistischen Neugründung) an der pro-kapitalistischen Prodi-Regierung zum Niedergang der Partei, weil sie mitverantwortlich für den Sozialabbau war, von ihr als kommunistischer Partei aber eine grundlegend andere Politik erwartet wurde. Heute gibt es in Italien keinen sozialistischen oder kommunistischen Parlamentsabgeordneten – in dem Land, das einstmals die stärkste Kommunistische Partei Westeuropas vorweisen konnte!
In Deutschland hat die Partei DIE LINKE in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und aktuell in Brandenburg und Thüringen Koalitionsregierungen mit der SPD bzw. mit SPD und Grünen gebildet und dort den Kapitalismus mit verwaltet – und oftmals Sozial- und Stellenabbau und Privatisierungen mitgetragen -, statt alle Kraft darauf zu verwenden Selbstaktivität und Selbstorganisation der arbeitenden Bevölkerung gegen Stellen- und Sozialabbau zu fördern. Eine solche Politik, auch wenn sie mit der Motivation betrieben wird, schlimmeren Sozialabbau zu verhindern, ist mit einer sozialistischen Perspektive unvereinbar, entfremdet die bewusstesten Teile der Arbeiterklasse von der LINKEN und schwächt den Aufbau einer Gegenbewegung gegen den Kapitalismus. Sie schwächt auch DIE LINKE, wie man an den Wahlergebnissen der PDS nach den ersten Regierungsperioden in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg sehen konnte.
TrotzkistInnen sind scharfe GegnerInnen einer solchen Politik des Klassenkompromisses und fordern den Austritt der LINKEN aus solchen Regierungen. Wenn Linke in der LINKEN eine unklare Haltung zu dieser Frage einnehmen, machen sie einen schweren Fehler. Das gilt zum Beispiel für die Landesverbände in Nordrhein-Westfahlen und Hessen in der Vergangenheit. In NRW sprach sich DIE LINKE zum Beispiel nicht deutlich gegen eine Koalition mit SPD und Grünen aussprach, sondern weckte die Illusion, ein Politikwechsel im Interesse der Arbeiterklasse sei mit diesen Hartz IV-Parteien möglich. Das gilt auch für die hessische LINKE, die einer Tolerierung einer SPD/Grüne-Minderheitsregierung zustimmte, was nichts anderes ist, als eine Regierungsbeteiligung ohne Ministerposten (denn auch eine Tolerierung bedeutet einen politischen Block zu bilden, der SPD und Grünen für eine ganze Legislaturperiode die parlamentarische Unterstützung zusichert). Und es gilt für Bernd Riexinger, der auch immer wieder den Eindruck erweckt, dass SPD und Grüne zu einem linken Lager gehören würden und eine Koalition mit diesen Parteien grundsätzlich anzustreben sei.
Für ein sozialistisches Übergangsprogramm
Jede politische Organisation oder Bewegung definiert sich in letzter Instanz durch ihr Programm. Ein Programm hat aber nicht nur die Aufgabe politischen Ziele zu benennen, sondern beinhaltet auch eine Methode, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Programme können Lippenbekenntnisse sein, wenn sie so formuliert sind, dass ihre Zielsetzungen mit der konkreten Politik der jeweiligen Organisation wenig zu tun haben. Wer glaubt der SPD zum Beispiel, dass sie für demokratischen Sozialismus eintritt, obwohl dies Teil ihres Grundsatzprogramms ist?
Ein Verdienst Trotzkis war es zur Gründung der Vierten Internationale einen Programmentwurf vorzulegen, der nicht nur die politischen Ziele und Prinzipien der neu zu gründenden Organisation zusammenfasste, sondern auch die Herangehensweise an die Entwicklung eines marxistischen Programms, wie sie schon von den Bolschewiki 1917 und der jungen Kommunistischen Internationale zu Beginn der 1920er Jahre praktiziert wurde, zu verallgemeinern. Dabei geht es um die Propagierung so genannter Übergangsforderungen, also um das Aufstellen eines Übergangsprogramms. Das Gründungsdokument der Vierten Internationale, das den Titel „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale“ trug, ging dementsprechend als das „Übergangsprogramm“ in die Geschichte ein.
Das Übergangsprogramm geht von einem Widerspruch zwischen der objektiven Reife der gesellschaftlichen Situation (Krise des Systems einerseits, hoher Entwicklungsstand der Produktivkräfte und von Wissenschaft und Technik andererseits) für eine sozialistische Veränderung und der subjektiven Unreife der Arbeiterklasse (Unklarheit im Bewusstsein, Schwäche und verräterische Führung ihrer Organisationen) aus. Wie schon Rosa Luxemburg sagte, besteht die Aufgabe darin, um die Macht zu erobern, erst einmal die Massen zu erobern. Ein Übergangsprogramm soll dem Rechnung tragen und eine Brücke darstellen zwischen dem aktuellen Bewusstsein und dem bestehenden Stand der Klassenkämpfe und dem Ziel der sozialistischen Revolution. Es beschreibt dementsprechend nicht die aufzubauende sozialistische Gesellschaft, sondern die Aufgaben im Übergang zu dieser und formuliert Forderungen, die dazu dienen sollen, die Arbeiterklasse von der Eroberung der Macht zu überzeugen und dafür zu mobilisieren. So heißt der Untertitel des Gründungsdokuments der Vierten Internationale: „Die Mobilisierung der Massen um Übergangsforderungen als Vorbereitung zur Eroberung der Macht“.
Was bedeutet diese Methode für die heutige Zeit? Der von Trotzki genannte Widerspruch zwischen der objektiven Reife und subjektiven Unreife für den Übergang zum Sozialismus besteht heute in noch weitaus größerer Art als 1938. Damals konnte man die Krise der Arbeiterklasse in der Krise ihrer Führung zusammen fassen, aber immerhin gab es ein weit verbreitetes sozialistisches Bewusstsein unter ArbeiterInnen und es gab starke Arbeiterparteien mit sozialistischem Anspruch, auch wenn sie von sozialdemokratischen und stalinistischen Apparaten besetzt waren. Heute gibt es nicht nur eine Krise der Führung der Arbeiterbewegung, sondern auch eine Krise des Bewusstseins und der Organisation: es gibt in der Masse der Arbeiterschaft in den meisten Ländern, sicherlich in Deutschland, kein sozialistisches Bewusstsein (wenn auch viel Sympathie für sozialistische Ideen, für Marx und große Ablehnung der Banken und Konzerne) und es gibt in den meisten Ländern keine Massenparteien der Arbeiterklasse. Auf diesen Umstand muss in der Formulierung und Präsentation eines sozialistischen Programms Rücksicht genommen werden. Das darf aber nicht so weit gehen, dass dem Programm der sozialistische Inhalt genommen wird. Die zu bauende Brücke muss tatsächlich beide Enden verbinden: das derzeitige Bewusstsein und die Notwendigkeit den Kapitalismus durch eine sozialistische Demokratie zu ersetzen. Halbe Brücken führen in den Abgrund.
Leider haben in den letzten Jahren einige Linke, darunter auch solche, die sich als TrotzkistInnen verstehen, nur halbe Brücken gebaut – und dies auch noch als Übergangsprogramm bezeichnet! Führende ProtagonistInnen der heutigen marx21-Strömung haben es in der Gründungsphase der WASG explizit abgelehnt für die WASG ein sozialistisches Programm vorzuschlagen und erklärten das mit dem fehlenden sozialistischen Bewusstsein in der Bevölkerung. Dies vergaßen sie dann ganz schnell, als im Vereinigungsprozess von WASG und PDS (so gut wie) niemand mehr in Frage stellte, dass das Parteiprogramm einen sozialistischen Bezug haben sollte. Seitdem geht es eher um die spannende Frage, was Sozialismus eigentlich ist und wie er erreicht werden kann. Der Mitherausgeber der Zeitschrift „Sozialismus“, Joachim Bischoff, hat in den letzten Jahren auch für ein Übergangsprogramm argumentiert, so wie der britische Professor und Repräsentant der dortigen Socialist Workers Party, Alex Callinicos, in seinem Antikapitalistischen Manifest von 2003. Doch beide bezeichneten ein Programm als Übergangsprogramm, das in den Grenzen keynesianischer Regulierung und Staatsintervention im Rahmen der Marktwirtschaft verharrte. Ähnliches konnte man in der Erklärung zur Euro-Krise verschiedener europäischer trotzkistischer und antikapitalistischer Organisationen im Jahr 2010 sehen. Statt für die Notwendigkeit der Überwindung der Marktwirtschaft zu argumentieren, forderte die Erklärung die demokratische Kontrolle über die Finanzmärkte – als ob etwas demokratisch kontrolliert werden kann, das blind nach eigenen Gesetzen wütet und dessen wesentliche Institutionen, Banken und andere Finanzinstitute, nicht der Gesellschaft, sondern wenigen Privatkapitalisten und Großaktionären gehören.
Ein sozialistisches Übergangsprogramm muss Rücksicht auf das bestehende Bewusstsein nehmen, darf aber nicht zu einem systemimmanenten, reformistischen Programm degradiert werden. Es muss die Unfähigkeit des Kapitalismus, die Krisen und Probleme der Welt zu lösen, zum Ausgangspunkt nehmen und davon Forderungen ableiten, die an diese Ursache herran gehen. In der heutigen Zeit der größten kapitalistischen Weltwirtschaftskrise seit achtzig Jahren, der massiven Überkapazitäten und der drohenden profitgetriebenen ökologischen Katastrophe gilt das umso mehr. Deshalb hat kein Programm die Bezeichnung sozialistisch oder Übergangsprogramm verdient, das nicht die Eigentumsfrage als wesentliche Frage aufwirft und die Verstaatlichung unter demokratischer Arbeiterkontrolle und -verwaltung der Banken und Konzerne und von Unternehmen, die Massenentlassungen planen und Produktionsstätten schließen, fordert.
Doch ein Programm existiert nicht nur auf dem Papier. Es muss im Klassenkampf angewendet werden. TrotzkistInnen sind keine HinterzimmerrevolutionärInnen. Sie bringen sich auf allen Ebenen aktiv in Bewegungen und Kämpfe ein, versuchen diese zu stärken, machen Vorschläge für erfolgversprechende Strategien und tragen in diese Kämpfe ein sozialistisches Programm und eine sozialistische Perspektive.
Revolutionäre Organisation
Nicht selten werden TrotzkistInnen belächelt, weil es relativ viele Organisationen gibt, die sich auf den Trotzkismus beziehen. Ihnen wird Sektierertum, Dogmatismus und Spaltungswut vorgeworfen. Es gibt gute und schlechte Gründe für die Aufspaltung der trotzkistischen Bewegung in viele verschiedene Verbände. Es ist nicht Aufgabe dieses Artikels diese darzulegen. Jedoch kommt in der Existenz dieser Organisationen eine Grundidee Trotzkis zum Ausdruck, die dieser wiederum von Lenin aufgenommen und verteidigt hat: die zentrale Bedeutung einer revolutionär-marxistischen Organisation mit einer klaren politischen Vorstellung, sei sie noch so klein und schwimmt sie noch so sehr gegen den Strom. Die Geschichte des Bolschewismus ist dafür der wichtigste historische Beleg.
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist voll von Beispielen für die Bedeutung einer revolutionären Organisation in revolutionären Situationen – bis auf die erfolgreiche Oktoberrevolution leider Negativbeispiele. In unzähligen Situationen haben die Massen unter Beweis gestellt, dass sie Revolution „machen können“. Deutschland 1918/19, Ungarn 1919, Spanien 1936, Ungarn 1956, Iran 1978/79, Frankreich 1968, Portugal 1974 – die Liste ließe sich fortsetzen. Doch Revolution machen ist eine Sache. Sie zu einem dauerhaften Erfolg führen und eine neue staatliche Ordnung schaffen und verteidigen eine andere. Die Geschichte hat gezeigt, dass dies ohne eine starke, vorbereitete und mit politischer Klarheit ausgestattete revolutionäre Organisation nicht möglich ist. Das war der entscheidende Unterschied in Russland 1917. Hier war die bolschewistische Partei in der Lage die Mehrheit in den Arbeiter- und Soldatenräten zu gewinnen und diese mit einem Programm und einer Strategie zur erfolgreichen Machteroberung zu führen. Die Notwendigkeit einer revolutionären Organisation ergibt sich daraus, dass die Arbeiterklasse kein monolithischer Block ist. Sie besteht aus verschiedenen Schichten mit unterschiedlichen Erfahrungen und Bewusstsein. Die Zusammenfassung der fortgeschrittensten Teile der Klasse in einer Organisation ist nötig, um ein Programm, eine Strategie und Taktik auszuarbeiten und in revolutionären Situationen zur Anwendung kommen zu lassen. Eine solche Organisation kann nicht in einer Revolution selber geschaffen werden. Ihr Kern muss vorher gebildet, geschult, vorbereitet werden. Das hat nicht zuletzt der tragische Verlauf der deutschen Novemberrevolution gezeigt, als die neu gebildete Kommunistische Partei Deutschlands zu unreif und zu schlecht organisiert war, um im Verlauf der Revolution die Mehrheit der Arbeiterschaft von ihrem Programm zu überzeugen. Die Aufrechterhaltung einer marxistischen Organisation in nicht-revolutionären Zeiten dient aber nicht nur zur Vorbereitung, sondern auch zur Weiterentwicklung der marxistischen Theorie. Ohne eine marxistische Theorie, die auf der Höhe der Zeit ist, kann diese auch keine Anleitung zur Aktion in revolutionären Situationen sein. Sie muss permanent diskutiert, geprüft, getestet werden. Das ist nur in einem kollektiven Prozess der Diskussion und des Handelns möglich und kann nicht die Aufgabe von Einzelpersonen sein, mögen sie auch noch so genial sein. Auch Trotzki brauchte den Austausch mit seinen GesinnungsgenossInnen. In der heute noch komplexeren Welt gilt das umso mehr. Die Beteiligung am Aufbau einer revolutionär-marxistischen Organisation ist deshalb für jeden Trotzkisten und jede Trotzkistin unverhandelbare Kernaufgabe.
Der Aufbau einer solchen Organisation ist aber nicht gleichbedeutend mit Sektierertum oder Spalterei und steht nicht im Widerspruch zum Aufbau breiter Organisationen der Arbeiterklasse, seien es Gewerkschaften, Aktionskomitees oder auch breite Arbeiterparteien. Dies zu unterstützen ist eine Anerkennung der Tatsache, dass die Arbeiterbewegung nach dem Zusammenbruch des Stalinismus stark geschwächt wurde. Die Schaffung einer Massenpartei von ArbeiterInnen wäre in der heutigen Situation ein großer Fortschritt, auch wenn diese nicht auf einem klaren sozialistischen Programm basieren würde, solange sie die grundlegenden Klasseninteressen der ArbeiterInnen verteidigt. Eine solche Partei böte ein Forum zum gemeinsamen Kampf und zur Debatte über die Frage, wie ein sozialistisches Programm und eine sozialistische Politik aussehen sollen. Die WASG war ein Schritt in Richtung des Aufbaus einer solchen Partei und deshalb war es richtig, dass MarxistInnen sich an diesem Projekt beteiligten. Auch DIE LINKE bietet einen Ansatz zur Schaffung einer Arbeiterpartei, wenn dies auch durch den offen sozialliberalen Flügel der BefürworterInnen von Regierungskoalitionen mit der SPD verkompliziert wird. Deshalb sollten MarxistInnen in der LINKEN aktiv sein, ohne aber ihre eigene Identität und Organisation aufzuheben und sie sollten deutlich für die Bildung eines starken linken, sozialistischen Flügels als Opposition gegen den Kurs der Regierungsbeteiligung eintreten.
Internationalismus
Der Marxismus war von Beginn an eine internationalistische Lehre, zusammen gefasst in dem berühmtem Schlusssatz des Kommunistischen Manifests: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ Die Organisation, für die dieses Manifest verfasst wurde – der Bund der Kommunisten – verstand sich als eine internationale Verbindung. Diese Einsicht ergab sich aus der Analyse der kapitalistischen Gesellschaft, die einen Weltmarkt geschaffen hat, aber den Nationalstaat nicht überwinden kann. Sie setzt die ArbeiterInnen verschiedener Betriebe und verschiedener Länder, Stichwort „Standortsicherung“, in Konkurrenz zueinander. Nur durch die überbetriebliche und internationale Vereinigung der Beschäftigten kann dieser Versuch der Spaltung gekontert werden. Gleichzeitig kann es keinen Sozialismus in einem Land geben. Sozialismus knüpft an der höchsten im Kapitalismus erreichten Produktivkraftentwicklung an, dazu gehört die Internationalisierung von Produktion und Handel. Eine auf ein Land oder einige Ländern begrenzte Revolution, das zeigt das Beispiel Sowjetrusslands, kann auf Dauer keine sozialistische Entwicklung einleiten. Deshalb ist der Gedanke der internationalen Revolution ein Kernbestandteil der Theorie der Permanenten Revolution. Deshalb ergriffen die Bolschewiki im Oktober 1917 die Macht mit dem Gedanken, dass sie diese nur werden halten können, wenn die Revolution auch im Rest Europas siegen würde.
Dieser Internationalismus der marxistischen Arbeiterbewegung wurde von den Reformisten und Stalinisten verraten. Diese haben sich letztlich auf nationale Standpunkte gestellt. Die reformistischen Sozialdemokraten auf den Standpunkt der eigenen nationalen Kapitalistenklasse, die Bürokratie in den stalinistischen Ländern entwickelten ebenso nationalistische Positionen, was zu Konflikten und Brüchen, zum Beispiel zwischen Moskau und Belgrad und zwischen Moskau und Peking führte.
Es waren Trotzki und die TrotzkistInnen, die am klassischen Internationalismus der Arbeiterbewegung festhielten und das Erbe von Rosa Luxemburg und Lenin, für die die Schaffung einer neuen Internationale nach dem Verrat der sozialistischen Zweiten Internationale die höchste Aufgabe war, retteten.
Trotzkismus bedeutet deshalb immer internationalistische Politik und das Einnehmen einer internationalistischen Perspektive. Trotzkismus bedeutet auch den Kampf um die Schaffung einer Arbeiterinternationale fortzusetzen.
Fazit
Trotzkismus ist kein Relikt der Vergangenheit, sondern nichts weiter als moderner Marxismus. Er hat sich mit dem Zusammenbruch des Stalinismus nicht überlebt, sondern bietet weiterhin die entscheidenden Ideen und Anleitungen um den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts richtig zu analysieren und eine Strategie zu seinem Sturz auszuarbeiten. Am Trotzkismus, und auch an der Begrifflichkeit, festzuhalten ist nicht Ausdruck von Rückwärtsgewandtheit oder Dogmatismus, sondern einem Verständnis der historischen Entwicklung des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung und eine Verteidigung der in 150 Jahren erarbeiteten und in zähen Kämpfen verteidigten revolutionären und internationalistischen Grundsätze.
Dieser Artikel ist eine aktualisierte Fassung eines 2010 im Magazin sozialismus.info erschienen Textes.
Sascha Stanicic ist Bundessprecher der SAV und verantwortlicher Redakteur der Zeitung Solidarität und des Magazins sozialismus.info. Er ist aktiv in der LINKEN Berlin-Neukölln, der Antikapitalistischen Linken (AKL) und im Bündnis „Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus“.
9 Antworten
Ich bin ja so froh das ich den Artikel gelesen habe, jetzt weis ich das zumindest ein teil der Trotzkisten einen „Führer“ brauchen. Auch wenn mich das erwartet was in Venezuela tobt und auch sonst so bei der „Die Linke“ wie die Frage nach bürgerlich Parlamentarische Wahlen wird mit ganz übel und ich weis damit will ich nichts zu tun haben.
Da hängt man einen alten Honigtopf auf.
Trotzkismus heißt zuerst Massensterben z. B. in der Ukraine durch die Einziehung der Lebensmittel durch dien Trotzkisten.
Internationalismus ist der heutige Globalismus.
Der heutige Kapitalismus ist der beste Trotzkismus den es je gegeben hat.
„er hat nicht nur die Rote Armee aus dem Nichts geschaffen und zum Sieg im Bürgerkrieg gegen die konterrevolutionären und imperialistischen Truppen geführt.“
So kann man die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes natürlich auch unter den Tisch kehren. Ein Aufstand, der sich gegen die autoritäre Herrschaft der Bolschewiki (man könnte auch Diktatur sagen) und ihren Meinungsterror richtete, sich für eine Linke (!) Opposition zur KPR B und eine echte soziale Revolution einsetzte.
Den größten Denkfehler, den auch Trotzkis (bei weitem nicht schlechte) Philosophie besitzt, ist nach wie vor die Liebe zur staatlichen Ordnung und die letztendliche Befürwortung einer führenden Partei (und eines Führers).
Es gibt keine Freiheit in der Herrschaft.
*“Tisch“ meint natürlich „Teppich“.. Ha, diese deutschen Redewendungen!
alle bisherigen kommentare hier sind ein solcher vollschrott (wenn auch aus gegensätzl. richtungen), daß wirklich zeit und mühe zu schade sind, dies alles im detail zu widerlegen.
der artikel ist ziemlich gut, vielleicht mit ausnahme der stelle, wo die immer noch illusionen in die linkspartei haben, die sich erledigt hat.
ich habe den artikel für gegendenterror.square7.ch übernommen.
Das ist freilich erstmal nur Ihre Meinung. Und da Sie, nachdem Sie alle Kommentare zu „Vollschrott“ erklärt haben, nicht ein einziges Wort darüber verlieren warum Sie das so sehen, ist Ihr Kommentar leider nur eins: Vollschrott.
Davon abgesehen, dass mir der Text auch recht gut gefällt, geben Kommentare 1 und 3 doch ganz interessante Denkanstöße. Es sei denn man traut sich nicht aus der eigenen heilen trotzkistischen Welt hinaus zu blicken ;-)
Liebe Grüße
nein, andreas kurz, bin momentan zufällig lebensgefährlich erkrankt, habe aber trotzdem 1000 dinge um die ich mich kümmern muß, und nun einfach nicht die zeit und kraft alles im net ausführlich zu kommentieren. habe dies in der vergangenheit oft genug getan, so daß mir ihre vermutung, ich wüßte nichts zu sagen, am arsch vorbeigeht. sie unterstellen dinge an personen die sie nicht kennen und nicht wissen können.
nur kurz soviel: marxisten mit dem begriff „führer“ in verbindung zu bringen ist dumme demagogie (posting 1- im übrigen können sie gar nicht wissen, ob ich wirklich trotzkist bin oder ihn nur gegen bestimmte leute verteidige, wie stalinisten) und zu kronstadt (posting 3) gibt es soviel artikel &broschüren zu den anarchist. legenden um kronstadt, daß sie sich da erstmal sachkundig machen sollten. so hat z.b. der historiker broue in den geöffneten moskauer archiven den briefwechsel entdeckt, wo weißgardisten mit einigen führern des aufstandes verabredeten, wie die als „kritische kommunisten“ posieren sollten. auch hatte die weißgardistische exilliteratur immer offen gesagt: wenn kronstadt geklappt hätte, wäre dies unser weg zurück gewesen. die matrosen beim aufstand waren doch nicht mehr dieselben gewesen, welche eine starke rolle in der okttoberrevolution hatten.
Herr Edel, ich habe Ihnen gar nichts unterstellt. Sie sollten sich auch nicht angegriffen fühlen, denn das war gar nicht meine Intention.
Ich habe mich lediglich etwas darüber amüsiert wie Sie alle anderen Kommentare mal eben so als „Vollschrott“ abstempeln (ob berechtigt oder nicht), diesen dann aber überhaupt nichts entgegnen. Deshalb habe ich mit ihrem Kommentar, aus Spaß, kurzerhand einfach dasselbe getan.
Es mag sein, dass Sie sich an anderer Stelle schon oft genug geäußert haben, das spielt hier aber doch überhaupt keine Rolle.
Zu Posting 1: Ob sie es Führer, Vorsitzender, XYZ oder was weiß ich nennen ist mir herzlich egal. Es geht um die Existenz von Führungspersonen und die „Kultur“ (nenne ich es jetzt mal) die damit zusammenhängt. Nur damit Sie mich nicht missverstehen, ich rede nicht von Führerkult, sondern von Herrschaftsverhältnissen, Machtkonzentration etc..
Was Onyx13 selbst letztendlich meinte weiß ich nicht aber so könnte ein Denkanstoß aussehen.
Zu Posting 3: Es ging mir nicht um Kronstadt sondern um den letzten Absatz des Kommentars, der Denkanstöße in eine ähnliche Richtung, wie oben ausgeführt, geben könnte.
Nur so viel zu Kronstadt: Genauso kritisch wie Sie die vermeintlichen anarchistischen Legenden betrachten, sollten Sie auch solche Dokumente (Briefwechsel) betrachten. Es ist ja kein Geheimnis, dass in der späteren SU, in stalinistischer Ära allerhand gefälscht und die Geschichte umgebogen wurde um Zusammenhänge zu konstruieren und so weiter. Gerade Trotzki konnte zu späterem Zeitpunkt ein Lied davon singen. Ich möchte nicht behaupten, dass so ein Briefwechsel in jedem Fall unauthentisch ist, man sollte jedoch kritisch bleiben auch wenn es einem so gut in den Kram passt.
Nebenbei, gibt es zu diesem Briefwechsel auch Untersuchungen von anderen Historikern? Ich würde mich gerne etwas näher damit beschäftigen aber ein trotzkistischer Historiker erscheint mir etwas zu „befangen“ zu sein. Falls Sie zufällig Zeit finden, würde ich mich über ein paar interessante Links freuen!
Allerdings finde ich es jedoch etwas bedenklich die „Maßnahmen“ der Bolschewiki, die auf Kronstadt folgten, bei diesem Thema unerwähnt zu lassen. Ich denke daran gibt es auch nichts zu beschönigen.
Dass Sie sich von der „eigenen heilen trotzkistischen Welt“-Formulierung angesprochen fühlen, dafür kann ich nichts. Das war allgemein gesagt (weil Trotzkismus im 21. Jh ja das Thema des Artikels ist) und davon kann sich jeder der mag, beziehungsweise es zulässt, angesprochen fühlen. Vielleicht war das in dem Kontext etwas missverständlich adressiert.
Liebe Grüße und eine gute Besserung wünsche ich Ihnen!
Wer soll denn sowas lesen? Der Artikel ist nicht nur viel zu lang, er ist auch so von vorgestern. Ab auf den Müllhaufen der Geschichte, um es mit Lenin zu sagen. Aber flott, flott!