SYRIZAs Richtungswechsel ist unverzeihlich – Im Gespräch mit Winfried Wolf

Groß war der Jubel als SYRIZA im vergangenen Januar die griechischen Wahlen gewinnen konnte, eine Zeitwende schien eingeleitet, doch selten hat eine Regierung, die in sie gesetzten Hoffnungen so schnell zerstört wie SYRIZA.Wir haben mit Winfried Wolf Autor des Werks „Die griechische Tragödie“ über die Situation, die griechische Wirtschaft und neue Kämpfe gesprochen.

Die Freiheitsliebe: Vor wenigen Wochen ist dein Buch „Die griechische Tragödie“ erschienen, warum ist die Situation in Griechenland eine Tragödie?

Winfried Wolf: Es gab in Griechenland seit dem Jahr 2010, seit Etablierung der Troika mit dem Zwangssparen, das die EU auferlegte, einen fortgesetzten Niedergang der Ökonomie und der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung. Dagegen wehrten sich Gewerkschaften, Hunderttausende Menschen in Tausenden Initiativen und mit einem Dutzend Generalstreiks. All das schien vergeblich – bis am 25. Januar 2015 bei den Parlamentswahlen die linke und radikale Partei SYRIZA die relative Mehrheit erlangte und die Regierung übernahm. Ein halbes Jahr lang – vom 25. Januar bis zum 6. Juli 2015 – schauten Millionen Menschen auf dieses kleine Land und seine mutige Regierung mit Alexis Tsipras und Jannis Varoufakis als ihren Repräsentanten. Diese forderten die EU heraus und verlangten etwas, was ebenso selbstverständlich (für die Vernunft) wie empörend (für die Gläubiger) war: ein Ende des brutalen Sparkurses. Ein Ende der Kürzungen von persönlichen Einkommen und öffentlichen Ausgaben. Die Wiederherstellung der Würde der Menschen. Als dieser Kurs am 5. Juli in einem Referendum auch noch mit überwältigender Mehrheit bestätigt wurde – trotz massiver Erpressung durch die EU, trotz geschlossener Bankschalter und trotz einer breiten medialen Kampagne gegen die Syriza-Politik sagten 62,1 Prozent „OCHI“, „NEIN“, zu einem dritten Troika-Memorandum, also zu einem forcierten Austeritätskurs – kapitulierte bereits am 6. Juli die von Syriza geführte Regierung. Das neue Memorandum wurde unterzeichnet. Syriza spaltete sich. Die Hoffnungen von Millionen Menschen in Griechenland und in der ganzen EU wurden begraben.
Diesen gesamten Vorgang bezeichnen Nikos Chilas und ich, die Autoren des gleichnamigen Buchs, als „Griechische Tragödie“.

Die Freiheitsliebe: In diesem Buch beschreibt ihr den Niedergang der griechischen Wirtschaft in den letzten Jahren und die immer stärkere Abhängigkeit von Importen, woran liegt das?

Winfried Wolf: Das hat im Wesentlichen mit zwei Dingen zu tun: zum Einen mit dem Grundsatz des Freihandels und zum Anderen mit dem Euro als Einheitswährung.
„Freihandel“ heißt grundsätzlich, dass es keine Zollschranken und keine sonstigen „Handelshemmnisse“ gibt, dass also keinerlei „Protektionismus“ existiert. Das lateinische Wort „protegere“ heißt schützen; das Wort „protectio“ heißt dann der „Schutz“. Gemeint ist in diesem Fall ein Schutz von Ökonomien und Nationalstaaten mit relativ weniger entwickelter Produktivkraft vor konkurrierenden Ökonomien und Nationalstaaten mit höher entwickelter Produktivkraft, wobei als Mittel für einen solchen Schutz Zölle („Zollmauern“) und teilweise die Währungspolitik eingesetzt wurde und eingesetzt wird.
England gelangte im 18. und 19. Jahrhundert in die Position der weltweit führenden Handelsmacht durch jahrzehntelangen Protektionismus. Die USA als Weltwirtschaftsmacht im 20. Jahrhundert gelangten in diese Position ebenfalls als Resultat von mehr als einem halben Jahrhundert Protektionismus – um sich vor allem gegen die überlegende britische Ökonomie zu schützen. Auch Deutschland wurde erst nach einer langen Periode des Protektionismus zu einem der größten Exporteure der Welt. Das gilt nicht nur für die Zeit des 19. Jahrhunderts. Das war auch jahrzehntelang so nach dem Zweiten Weltkrieg, als die westdeutsche Währung Protektion bot: es gab eine billige DM, die lange Zeit im Verhältnis 1:4 gegenüber dem US-Dollar stand, was westdeutsche Exporte unverhältnismäßig billig machte und ausländische Importe verteuerte.

Mit dem Beitritt Griechenlands in die EWG (die spätere EG bzw. EU) im Jahr 1981 sah sich die griechische Wirtschaft bald diesen Freihandelsgesetzen ausgesetzt. Das trug mit dazu bei, dass ein großer Teil der griechischen Industrie bald nicht mehr konkurrenzfähig war und dass zunehmend die Importe die Exporte überwogen. Allerdings konnte sich Griechenland in dieser Phase und bis 2001 aus diesem Dilemma oftmals dadurch retten, dass die nationale Währung, die Drachme, abgewertet wurde – oftmals drastisch.
Mit dem Beitritt Griechenlands zur Eurozone im Jahr 2001 entfiel auch diese Möglichkeit; es gibt seither keine Chance mehr auf einen Schutz durch Abwertungen. Seither hat sich der Deindustrialisierungsprozess in Griechenland beschleunigt.

Die Freiheitsliebe: Im Rahmen des Niedergangs Griechenlands wurde die sogenannte „Troika“ gebildet bzw. diese agierte und agiert in Griechenland mit einem Diktat. Wie kam es zur Bildung dieser Institution und was waren und sind ihre Forderungen?

Euro Griechenland Rettung Sparpakete MemorandumWinfried Wolf: Als die griechische Krise 2009/2010 erstmals offen ausbrach – nach der Abwahl der konservativen Regierung unter Karamanlis (Nea Demokratia) und nach Bildung der neuen Regierung unter Giorgios Papandreou (PASOK) – und nachdem die neue PASOK-Regierung die EU um Beistand in der schweren Wirtschafts- und Verschuldungskrise gebeten hatte, wurde die sogenannte Troika gebildet. Diese besteht aus der Europäischen Zentralbank (EZB), der Europäischen Kommission und dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Idee war, dass diese „Troika“ Griechenland in der Krise „helfen“ sollte. Rein formal ist zunächst verblüffend, dass man bis heute nicht weiß, wer genau (und wer dann wann) den Beschluss zur Bildung dieser „Troika“ fällte. Einiges spricht dafür, dass die „Eurogroup“ diesen Beschluss fällte oder einen solchen Beschluss zumindest absegnete. Als „Eurogroup“ wird die Versammlung aller Finanzminister derjenigen EU-Staaten, die den Euro eingeführt haben, verstanden. Hier ist dann wiederum interessant: Es gibt rein formal keine Eurogroup; jedenfalls gibt es für diese keine rechtliche Grundlage. Als der damalige griechische Finanzminister Jannis Varoufakis nach einem ersten Eurogroup-Treffen, an dem er teilnahm, nach den Statuten dieser Gruppe fragte, wurde ihm just dies bedeutet: Es gibt keinerlei formale Grundlagen dieser Institution; keine Geschäftsordnung. Als er nach einem Protokoll der letzten Sitzung fragte, wurde ihm geantwortet: Da es keine rechtliche Grundlage für diese Gruppe gibt, gibt es auch keine Protokolle. Dennoch übt diese Gruppe eine entscheidende, wenn nicht die entscheidende Macht im Euroraum aus. Dies gilt ganz besonders für die Memoranda, die sie für Griechenland festgelegt hat.

Die Freiheitsliebe: Welche Auswirkungen hatten diese?

Winfried Wolf: Die drei Memoranda oder auch Austeritätsprogramme, die seit 2010 von der Troika aufgzwungen wurden, hatten immer den gleichen Vierer-Mix: Es geht erstens um Steuererhöhungen und zwar solche, die die breite Mehrheit treffen (meist Mehrwertsteuer-Anhebungen), zweitens um die Kürzung von Renten und öffentlichen Ausgaben, drittens um eine allgemeine Liberalisierung und um Lohndumping (Senkung der Mindestlöhne; verbesserte Kündigungsmöglichkeiten, Deregulierung freier Berufe) und viertens um den Verkauf öffentlichen Eigentums und um Privatisierungen. Die Folgen seit 2010 sind ein um gut 25 Prozent gesunkenes Bruttoinlandsprodukt, eine Senkung des Einkommens der arbeitenden Menschen und der Rentnerinnen und Rentner um bis zu 40 Prozent und ein Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 25 Prozent im Allgemeinen, der Jugendarbeitslosigkeit auf mehr als 50 % und eine enorme Zunahme des sozialen Elends (wachsende Zahl der Obdachlosen, rasant in die Höhe geschnellte Zahl der Menschen, die auf Armen-Suppen angewiesen sind; ein Drittel der Bevölkerung, die keine Krankenversicherung mehr haben). Kurz: Die Folgen der Troika-Sparprogramme sind sozial und ökonomisch katastrophal. Selbst beim behaupteten Hauptziel der Reduktion der öffentlichen Schulden gibt es die entgegengesetzte Wirkung. All diese Sparprogramme wurden damit gerechtfertigt, die Verschuldung Griechenlands sei zu hoch. 2010 lag die Schuldenquote – der Anteil der öffentlichen Schulden am Bruttoinlandsprodukt – bei 120 Prozent. Heute liegt er bei 190 %. Er wird 2017 auf mehr als 200 Prozent angestiegen sein.

Die Freiheitsliebe: Gab es Widerstand gegen diese Maßnahmen?

Winfried Wolf: Es gibt seit rund sechs Jahren den breiten Widerstand der großen Mehrheit der Bevölkerung gegen diese Austeritätspolitik – mit regelmäßigen Generalstreiks, Demonstrationen, Kundgebungen. Es gibt hunderte soziale Initiativen, vor allem solche der Selbstorganisation – am bekanntesten sind die solidarischen Praxen, in denen Ärztinnen und Ärzte und anderes medizinische Personal gratis eine elementare Gesundheitsversorgung gewährleisten.

Die Freiheitsliebe: Eine Folge des Widerstands und der Proteste war der Aufstieg von SYRIZA, welche Rolle hat die Partei gespielt in Streiks und sozialen Bewegungen?

Winfried Wolf: Syriza spielte bis Juli 2015 eine maßgebliche, oft eine führende Rolle bei all diesen Widerstandsaktivitäten. Das hat sich seit dem vergangenen Sommer deutlich, wenn nicht radikal geändert. Syriza wird inzwischen – wie ich meine zu Recht – als Regierungspartei wahrgenommen, die die Politik von EU und EZB umsetzt und die sich damit also gegen die Mehrheit der Bevölkerung stellt.

Die Freiheitsliebe: Ihr Versprechen eines Bruchs mit dem Troika-Diktat konnte die Partei nicht umsetzen, lag das nur am äußeren Druck oder auch an ihrer eigenen Politik?

Griechenland-OXI-Streik-990x660Winfried Wolf: Natürlich gab es eine Erpressung seitens der Troika und hier insbesondere seitens der EU und der deutschen Regierung. Dass jedoch Syriza nach dem Referendum vom 5. Juli 2015 bedingungslos kapitulierte und dass sie die Seite gewechselt hat und das Programm der Gläubiger umsetzt – das kann man nicht ausschließlich mit äußeren Umständen gleichsetzen. Zumal Syriza mit dem bereits angeführten Ochi-Sieg vom 5. Juli ein eindeutiges Mandat seitens von fast zwei Drittel der Bevölkerung hatte (die Anhänger der Kommunistischen Partei, der KKE, stimmten ungültig; realistischerweise muss man deren 5-Prozent-Stimmen-Potential zum „Nein“ hinzurechnen), jedes weitere Memorandum abzulehnen. Dass Syriza wenige Stunden nachdem dieses Wahlergebnis feststand, einen 180-Grad-Richtungswechsel vornahm, ist unverzeihlich und stellt eine deutliche Verachtung des Willens der Bevölkerung dar.

Die Freiheitsliebe: Welche Alternativen gibt es heute in Griechenland oder ist die Situation erst einmal verloren?

Winfried Wolf: Aktuell sind alle Kämpfe in Griechenland defensiv. Die Grundstimmung ist die von Demoralisation, Depression, bitterer Enttäuschung über Syriza, einem hunderttausendfachen Rückzug ins Private und einem jährlichen Exodus von Zehntausenden – vor allem von jungen Menschen. Dennoch gibt es weiterhin Tausende Menschen, die bewundernswerte solidarische Arbeit leisten – etwas im Rahmen der Betreuung von Flüchtlingen und, wie beschrieben, im Gesundheitssektor.
Ich bin skeptisch, dass es einen neuen Aufschwung „von innen heraus“ – allein in Griechenland – geben kann. Eine Wiederbelebung kann es nur geben, wenn es in anderen Teilen Europas – etwas als Folge der Entscheidung über einen Brexit am 23. Juni oder als Ergebnis eines linken Wahlsiegs in Spanien am 26. Juni oder als Folge der Politik der linken Regierung in Lissabon (wo soeben die Wiedereinführung der 35-Stunden-Woche beschlossen wurde) oder als Resultat der aktuellen sozialen Kämpfe, der Streiks und der nuits debout-Bewegung in Frankreich – zu einer demokratischen Bewegung und zu einer grundsätzlichen Infragestellung der Austeritätspolitik kommt.
Dies zu erreichen, muss unser Ziel, muss das Ziel von Sozialistinnen und Sozialisten, von Gewerkschaften und von einer breiten, demokratischen Bewegung für ein soziales und solidarisches Europa sein.

Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.

Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac und Verfasser von Büchern in den Bereichen Globalisierung/Weltwirtschaft und Verkehrspolitik.

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