Seelische Not ist keine Privatsache

Morgens kurz vor Bibliotheksöffnung in der Prüfungsphase irgendwo in der BRD: Noch bevor die Wirkung des morgendlichen Kaffees einsetzt, schaust du dich vorsichtig um und blickst den Menschen ins Gesicht. Das ist der Moment, in dem du dich fragst, ob du nicht eher bei den Dreharbeiten zur neuen Staffel „The Walking Dead“ gelandet bist. Statt die Bildung mündiger Persönlichkeiten durch das lernende Bearbeiten gesellschaftlicher Probleme zu befördern, versetzt uns das aktuelle Studiensystem in den Zustand eines Zombies.

Krankenkassen schlagen Alarm

Seit einiger Zeit ist der Alarm der Krankenkassen zu psychischen Problemen bei Studierenden schon fast zur Routine geworden. Laut BARMER Arztreport 2018 ist allein zwischen den Jahren 2005 bis 2016 der Anteil der 18- bis 25-Jährigen mit psychischen Diagnosen um 38% und darunter bei Depressionen um 76% gestiegen. Demnach ist bei Studierenden inzwischen mehr als jede sechste Person von einer psychischen Diagnose betroffen. Das entspricht rund 470.000 Personen. Nicht wir, das  System ist offenbar falsch. Aber wie kommt‘s? Was ist die Ursache für diese Depressionsepidemie? Die Ursache für Burnout und Depression (in) der neoliberalen „Leistungsgesellschaft“ ist das Zurückdrängen eines gemeinwohlorientierten Sinns hinter Deadlines und Zielkennziffern zur Maximierung des Unternehmensprofits, ein konkurrenzgetriebenes „Rennen ohne Ankommen“, soziale Entsicherung und (gefühlte) Ausgeliefertheit an unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen. In die Hochschulen wurde diese Orientierung durch die Bologna-Reform gedrückt, welche maßgeblich vom European Roundtable Of Industrialists, der EU-Lobby- Organisation der 50 größten Konzerne, vorangetrieben wurde. Diese Umstellung auf das Bachelor-Master- System bedeutet eine engmaschige Kontrolle der Produktion von ArbeitskraftunternehmerInnen: Module, Credit Points, Dauerprüfungskaskade und Master-Hürde. Das Ergebnis: Wir leben in einer verkehrten Welt, in der Zweck und Mittel ausgetauscht wurden. Der Zweck unseres Studiums soll nicht etwa im gemeinsamen Verstehen der Welt zum Verbessern der Welt bestehen, sondern im studienplankonformen, konkurrenzgetriebenen „Erwerben“ von Credit Points, um damit später auf dem Arbeitsmarkt für Unternehmen nutzbar zu sein. Dieser Widerspruch zwischen (privatisierter) Hoffnung auf gesellschaftliche Verbesserung und verdinglichtem Alltag führt in die Blockade unserer Handlungsfähigkeit.

Was tun gegen das psychische Elend an den Hochschulen?

An der Universität Hamburg wird uns durch Workshop-Angebote wie „Weniger aufschieben – mehr erledigen“ oder „Zeit- und Selbstmanagement im Studium“ nahegelegt, das Problem seien unsere mangelnden Kompetenzen. Du gehst verloren zwischen Lohnarbeit und Prüfungsterror? Hol dir eine App zum Zeitmanagement! Du bist im Dauerstress? Wie wäre es mit einem zusätzlichen Termin: Yoga! Du hast eine Schreibblockade? Schon mal Ritalin probiert? Die heutigen Formen psychologischer Angebote sind also nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Burnout und Depression als Konsequenzen einer Gesellschaft, welche unsere marktkonforme Selbstoptimierung unter verschärft prekären Bedingungen verlangt, sollen durch ein Mehr an Selbstoptimierung behandelt werden. Andersherum wird ein Schuh draus: Psychische Genesung gibt es nur im kollektiven Widerstand zur neoliberalen Vereinzelung und Marktorientierung. Beispielsweise durch selbstorganisierte Projektseminare oder Themensemester hin auf die Abschaffung des Ba/Ma-Systems. So durchbrechen wir die ideologische Einrede der Eigenverantwortung für unsere Lage und die (gefühlte) Ausgeliefertheit an unsere Studien- und Lebensbedingungen.

Organisiert euch!

Wir begreifen die Veränderbarkeit des Status quo, befreien uns von internalisierten Fremdinteressen und gewinnen damit unmittelbar Handlungsfähigkeit. Die Organisierung in der LINKEN, im SDS oder in Hochschulgremien ist ein wesentlicher Beitrag zur gemeinsamen Gestaltung unserer Studien- und Lebensbedingungen und damit das wirksamste Mittel gegen Einsamkeit und Handlungsunfähigkeit. Dafür müssen wir aber dringend aufhören, uns gegenseitig ein Klarkommen vorzuspielen und offen über unsere gemeinsamen Probleme sprechen. Denn schon die gemeinsame Reflexion des Leidens im Bologna- Studium als politisch gewollte Erziehung zu Konformität ist enorm wichtig: statt uns selbst die Schuld zu geben, können wir gemeinsam etwas tun, für Kritische Wissenschaft und gegen die unternehmerische Hochschule. Nehmen wir unser Leben gemeinsam in die Hände!

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