In der Zwischenkriegszeit war ein Zehntel der Bevölkerung Mitglied in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). Im Gegensatz zu Deutschland ließen sich die Arbeiterinnen und Arbeiter nach Ende des Ersten Weltkrieges nicht entwaffnen. Mit dem Roten Wien verfolgte die SDAP ein welthistorisch einzigartiges Aufbauprojekt. Trotz dieser Macht wurde die Arbeiterbewegung vom Faschismus geschlagen. Einer der Gründe war die versöhnlerische Politik der Parteiführung.
In der Zwischenkriegszeit führte sozialdemokratische Politik zu einer gigantischen Verbesserung sowohl des materiellen als auch des kulturellen Lebens der Arbeiter. So bedeutend diese Fortschritte auch waren, gingen die Reformen nicht weit genug. In einer historischen Epoche des offenen Kampfes zwischen Bürgertum, repräsentiert durch die Christlich-Soziale Partei (ÖVP), und Arbeiterklasse, hielt die SDAP an der Idee eines Konsenses zwischen den Klassen fest. Die ehemalige Sozialdemokratin Ilona Duczyńska brachte das Problem auf den Punkt: „In ihrem Bemühen, den Bürgerkrieg, wenn nicht zu vermeiden, so doch wenigstens hinauszuschieben, wich sie (die SDAP) Schritt für Schritt vor den Kräften der Reaktion und des Faschismus zurück.“
In keinem Land, außer in Russland, war der Zusammenbruch der alten Ordnung nach Ende des Ersten Weltkrieges so vollkommen wie in Österreich.
Ende Erster Weltkrieg
Die österreichischen Frontsoldaten waren beinahe geschlossen in das Lager der Linken übergelaufen. Die Entstehung von sozialistischen Räterepubliken in Ungarn und Bayern ließ die Frage der Revolution auch in Österreich aufkommen. Um in dieser Phase der kollektiven Radikalisierung nicht die Kontrolle über die Arbeiterklasse zu verlieren, musste die Sozialdemokratie (SDAP) auf radikale Politik setzen. Achtstundentag, Sozialgesetzgebung und Arbeitslosenversicherung waren nur einige der Fortschritte, die von der SDAP erreicht wurden. Der Höhepunkt war die Einrichtung einer Sozialisierungskommission unter der Führung von Otto Bauer. Mit dem Ende der ungarischen Räterepublik im August 1919 war die revolutionäre Situation aber vorbei und die Sozialisierungskampagne wurde wieder eingestellt. Diese Niederlage der revolutionären Bewegung 1919, in Kombination mit der trotzdem noch vorhandenen radikalen Stimmung innerhalb der Arbeiterklasse, ermöglichte die Entstehung des Roten Wiens.
Gemeindebauten
Die SDAP unter Otto Bauer setzte alles daran, Wien als Vorzeigemodell zu präsentieren und so die Mehrheit in ganz Österreich zu erobern. Die Arbeiterräte, welche im Zuge der Österreichischen Revolution entstanden, kollektivierten von 1919 bis 1925 zirka 45.000 leerstehende Zweitwohnungen. Daran knüpfte die SDAP nach ihrer Machtübernahme im Mai 1919 in Wien an. Zwischen 1920 und 1933 wurden 65.000 neue Wohnungen und 5.257 Siedlungsbauten errichtet.
Die Plätze in den Gemeindebauten wurden nach Bedarf vergeben, die Miete betrug 4% des durchschnittlichen Arbeiterlohns. Es gelang der Wiener Stadtregierung nicht nur, genügend Wohnungen zu bauen und die Lebensqualität der Arbeiterinnen und Arbeiter auf ein nie zuvor gekanntes Niveau zu heben; die Gemeindebauten waren auch von einem künstlerischen Standpunkt aus Meisterleistungen. Die Gemeinde beschloss eine Maximalverbauung von 40% der Baugründe (zuvor 85%), dadurch wurden die großen Innenhöfe mit Grünflächen zum neuen Standard. Die 400 Gemeindebauten wurden von 200 unterschiedlichen Architekten geplant, dieser Stilpluralismus macht ihre Einzigartigkeit aus. Jeder war einzigartig, man vergleiche das einmal mit dem tristen immer gleichen Grau-in-Grau der DDR-Plattenbauten.
Soziale Maßnahmen
Neben den Gemeindebauten gab es weitere gigantische soziale Fortschritte. Durch die Steigerung der Sozialausgaben wurde die Säuglingssterblichkeit um mehr als die Hälfte vom Vorkriegsstand reduziert, genauso gingen die Tuberkulose-Erkrankungen zurück. Für jeden Säugling gab es ein Gratis-Wäschepaket. Es entstanden Kindergärten und Horts, um die berufstätigen Mütter zu entlasten. Eine umfassende proletarische Kultur aus Bildungs- und Sporteinrichtungen entwickelte sich.
Das Praterstadion wurde extra für die erste Arbeiterolympiade erbaut. Reihenweise neue Bibliotheken, oft in Gemeindebaukomplexen, und neue Bäder wie das Amalienbad wurden errichtet. Eheberatungseinrichtungen, um gegen Gewalt in der Familie vorzugehen, wurden gegründet. Eine Bildungsreform ermöglichte den kostenlosen Schulbesuch, die Abschaffung körperlicher Bestrafung und vieles mehr.
Breitner-Steuern
Entscheidend für das Rote Wien war, dass diese sozialen Verbesserungen durch Besteuerung der Reichen erreicht wurden. Die Steuerpolitik des Finanzstadtrats Hugo Breitner zielte darauf ab, nicht die Masse zu treffen, sondern die Besitzenden. 1926 kamen 61% der gesamten Steuereinnahmen Wiens aus Besitzsteuern. Die Bedeutendste war die Wohnbausteuer, deren stark progressive Ausrichtung dazu führte, dass die reichsten 0,5% der Immobilienbesitzer etwa 45% des Steueraufkommens erbrachten. Die neuen Gemeindebauten wurden zu 40% aus dem Ertrag der Wohnbausteuer finanziert. Neben diesen Besitzsteuern wurden auch Luxussteuern auf Alkoholkonsum, Nachtlokale, Pferderennen usw. beschlossen.
Otto Bauer sah in den Breitner-Steuern eine „sozialistische Finanzpolitik“, bzw. eine „revolutionäre Tat der Verwaltung“. Die sozialdemokratische Geschichtsschreibung verklärt die Steuerpolitik des Roten Wiens zu einer radikalen, aber institutionalisierten und dadurch unblutigen Form des Klassenkampfes. Der austromarxistische Mythos eines Mittelweges zwischen bolschewistischer Revolution und zahnlosen Reformen (Revisionismus der deutschen Sozialdemokratie) hat hier seinen Ursprung.
Der austromarxistische Weg unterschied sich aber nicht grundlegend von dem der anderen sozialdemokratischen Parteien. Die Finanzpolitik des Roten Wien verteilte den Reichtum um, während an den kapitalistischen Produktionsverhältnissen nichts geändert wurde. Die Erfolge, welche die SDAP im Gegensatz zu vielen anderen sozialdemokratischen Parteien einfuhr, hatten ihren Ursprung nicht in der weitsichtigen Politik ihrer Führer, sondern, wie der russische Revolutionär Leo Trotzki treffend analysierte: „Die österreichische Sozialdemokratie zog ihre Kraft vor allem aus der außerordentlich schwachen Position, in die die österreichische Bourgeoisie nach Krieg und Revolution geraten war.“
Von den 17 bis 1923 eingeführten neuen Steuern unterstützten die Christlich-Sozialen zehn. Von den sechs beschlossenen Luxussteuern wurden vier mit Zustimmung der Konservativen eingeführt. Zuweilen verlangten Konservative viel härtere Steuermaßnahmen als die Sozialdemokratie; der Vordenker des Neoliberalismus und damalige Finanzstaatssekretär Joseph Schumpeter forderte bspw. eine bis zu 150%-ige Versteuerung von ausländischem Essen und Alkohol.
Dieses Abstimmungsverhalten der Christlich-Sozialen ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Reformen der SDAP, so bedeutsam sie auch waren, das Bürgertum verschonten. 1919 mussten die Kapitalisten noch fürchten, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter die Kontrolle über „ihre“ Fabriken übernehmen und sie enteignet und entmachtet würden. Das Bürgertum war jedoch relativ glimpflich davongekommen, 1923 mussten sie lediglich mehr für den monatlichen Besuch der Pferderennbahn zahlen. Trotzdem konnten sich viele bürgerliche Politiker nicht mit der Arbeiter-freundlichen Politik abfinden und arbeiteten systematisch an der Zerstörung des Roten Wiens.
Land ignoriert
Die SDAP konzentrierte ihre ganze Kraft auf den Aufbau des Roten Wiens. Sich als linke Partei auf die industrielle Arbeiterklasse zu konzentrieren, ist absolut richtig, aber diese war erstens nicht alleine in Wien zu finden und zweitens ignorierte die SDAP die Landarbeiterinnen. Diese arbeiteten in kleinen land- und forstwirtschaftlichen Betrieben und waren von der Sozialversicherung genauso wie vom Betriebsrätegesetz ausgeschlossen. Das ökonomische Elend, gemischt mit dem Fehlen der Wiener Erfahrungen, trieb diese Landarbeiter in die Defensive gegenüber den Kapitalisten und den bewaffneten Heimwehrverbänden.
Keine Dankbarkeit
Das Rote Wien zeigt sowohl die Möglichkeiten reformistischer Politik, Verbesserungen zu erreichen, wenn die Bedingungen günstig sind, aber genauso zeigt es auch ihre Grenzen auf. Im Zuge der 20er-Jahre wurde das Bürgertum und die Christlich-Soziale Partei, begünstigt durch Wahlerfolge und das Entstehen der Heimwehren, wieder selbstbewusster. Im Gegensatz zur SDAP setzten sie nicht auf Konsens, sondern wollten die alleinige Macht. Im März 1933 putschte sich die Christlich-Soziale Partei an die Macht. Im darauffolgenden Jahrzehnt versuchten zuerst das klerikalfaschistische Regime und dann der Nationalsozialismus alle Fortschritte des Roten Wiens zunichte zu machen. Es ist ihnen aber nicht vollständig gelungen, die Gemeindebauten stehen nach wie vor und ermöglichen noch immer ein leistbares Wohnen in Wien.
Dieser Beitrag von David Reisinger erschien zuerst in der Linkswende.