Der politische Klimastreik ist möglich und nötig!

Um den Klimastreik zu unterstützen, könnten Gewerkschaften durchaus mehr tun, als ihre Mitglieder zum Ausstempeln aufzufordern. Von Uwe Fuhrmann

Nach anfänglicher Zurückhaltung haben inzwischen auch die Gewerkschaften Sympathien für die Schülerinnen und Schüler von Fridays for Future bekundet. Als der Aufruf für einen globalen Klimastreik im September kursierte, erklärte Frank Bsirske, zu diesem Zeitpunkt noch Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di, man werde „zur Teilnahme an den Veranstaltungen aufrufen“. Einige missverstanden dies als Streikaufruf. Bsirske hatte allerdings einschränkend klargestellt: „Wir rufen natürlich nicht zu einem ordentlichen Streik auf, das geht nicht. (…) Aber wer kann, sollte ausstempeln und mitmachen. Ich werde jedenfalls hingehen.“

Ausstempeln zum Klimastreik, das wirft Fragen auf. Die angegebene Begründung ist mau: Ordentlicher Streik – „das geht nicht“. Auch der DGB signalisierte auf seiner Homepage Unterstützung für die Forderung von Fridays for Future. Aber auch er schränkte ein: „Ein Streik ist eine Arbeitskampfmaßnahme, zu der Gewerkschaften nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen aufrufen können. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich mit den Aktionen von Fridays for Future solidarisieren und an Demonstrationen teilnehmen wollen, sollten das geltende Arbeitsrecht beachten und sich für diese Zeit freinehmen.“

Was sind diese „ganz bestimmten Voraussetzungen“, unter denen die Gewerkschaften – jenseits der Tarifverhandlungen – zum Streik aufrufen dürfen? Am Streik Teilnehmende sind nur dann ziemlich sicher vor rechtlichem Ärger, wenn eine Gewerkschaft zu diesem Streik aufgerufen hat, daher ist die Frage von Bedeutung. Ihre Beantwortung hat mindestens zwei Seiten: eine juristische und eine politische. Beide können ohne ihre historische Dimension kaum verstanden werden.

Klimastreik ist möglich

Zuerst zur rechtlichen Seite: Politischer Streik ist an sich weder durch das Grundgesetz noch anderweitig untersagt. Doch durch die Rechtsprechung im Anschluss an ein Urteil aus dem Jahr 1952 (ergangen im Rahmen der Auseinandersetzung um das Betriebsverfassungsgesetz) sind Streiks, die andere als tarifvertragliche Ziele zum Gegenstand haben („politische Streiks“), immer wieder eingeschränkt worden. Diese Rechtsprechung wurde vor allem durch den NS-Karrieristen Hans-Carl Nipperdey befördert. Nipperdey hatte das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ von 1934 maßgeblich kommentiert und wurde zum führenden Arbeitsrechtler im NS. In besagtem Gesetz hieß es in Paragraph 1: „Im Betriebe arbeiten der Unternehmer als Führer des Betriebes, die Angestellten und Arbeiter als Gefolgschaft gemeinsam zur Förderung der Betriebszwecke.“ In den mitveröffentlichten Erläuterungen wurde geschwärmt, das Gesetz sei „aus nationalsozialistischem Geiste geboren“.

Im Jahre 1954 wurde Nipperdey erster Präsident des Bundesarbeitsgerichtes und führte die restriktive Auslegung des Streikrechts fort. Kein Wunder also, dass diese deutsche Tradition durch internationale Normen mittlerweile stark unter Druck geraten ist, etwa durch die Europäische Sozialcharta, die Europäische Menschenrechtskonvention oder durch verschiedene ILO-Normen. Die Rechtsprechung seit den 1950er Jahren ist ohne die personellen Kontinuitäten aus der NS-Zeit also kaum zu verstehen und mitverantwortlich für die weit verbreitete Einschätzung, „politische Streiks“ seien in Deutschland verboten.

Doch selbst im ursprünglichen Urteil von 1952 durch das Landesarbeitsgericht (LAG) Freiburg hieß es: „Sollte durch vorübergehende Arbeitsniederlegung … gegen hohe Preise demonstriert werden, dann könnte dieser politische Streik wohl kaum als verfassungswidrig angesehen werden.“ Die hier angeführten „hohen Preise“ bezogen sich direkt auf den Auslöser des letzten deutschen Generalstreiks vom 12. November 1948, denn die Preishöhe hatte damals die Lebensgrundlage von Millionen Menschen bedroht.

Lebensgrundlage im Mittelpunkt

Die Lebensgrundlage steht auch beim Klimastreik im Mittelpunkt. Nur geht es nicht um zu hohe Preise heute, sondern um eine verwüstete Welt morgen. Für eine rechtliche Bewertung ist aber entscheidend, dass unser Handeln jetzt erforderlich ist, und nicht erst, wenn unser aller Lebensgrundlage in fünf, zehn oder 30 Jahren unwiederbringlich dahin ist. In der Logik des Urteils von 1952 wäre wohl auch ein massiver Klimastreik „nicht verfassungswidrig“.

Außerdem ist seit 1994 der Artikel 20a des Grundgesetzes Teil der „verfassungsmäßigen Ordnung“ der BRD. Er lautet: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere.“

Die Einschätzung des Klimawandels und dessen Folgen für diese „natürlichen Lebensgrundlagen“ liefert vor allem die Wissenschaft. Und ihre Aussage kann deutlicher nicht sein, denn alle Forschung und fast 27.000 Wissenschaftler*innen der Scientists for Future sagen: Unsere Lebensgrundlagen sind akut bedroht. Das Handeln der Regierung arbeitet nicht dagegen, sondern verschärft die Situation erheblich. Das dürfte wohl eine klare Missachtung von Art. 20a des Grundgesetzes durch die Regierung sein.

Politischer Druck

In der Diskussion, ob politische Streiks erlaubt sein können, wird zudem oft auf den Grundgesetzartikel 20 Absatz 4 (Recht auf Widerstand) verwiesen. Dieser ermöglicht es, „Widerstand“ (auch durch Generalstreik) zu leisten gegen „jeden, der es unternimmt,“ die „Ordnung“ – gemeint ist Artikel 20, 1-3 (Demokratie usw.) – „zu beseitigen“. Nun ist die Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlage inhaltlich gesehen unweigerlich die Beseitigung dieser „Ordnung“ und das Widerstandsrecht müsste greifen, aber ich weiß nicht, ob Jurist*innen das ohne politischen Druck gelten lassen wollen.

Kann vor diesen Hintergründen ein von Gewerkschaften ausgerufener politischer (General-)Streik, der sich für die Erhaltung der Lebensgrundlagen der Menschheit einsetzt, verfassungswidrig sein? Es scheint mir plausibel, dass er es nicht ist. Vielleicht könnten sich die Rechtsabteilungen des DGB und der Gewerkschaften mal darüber unterhalten – und es hilft sicher bei der Entscheidungsfindung, wenn sie ein paar engagierte Jugendliche zu der Diskussion einladen.

Zur Frage politischer Streiks gehört aber auch, dass die juristische Argumentation – vor allem hinsichtlich eines Generalstreiks – nicht unbedingt die entscheidende ist. Denn was würde passieren, wenn der DGB und seine Gewerkschaften auf den ganzen Rechtskram pfeifen und einfach zum Generalstreik aufrufen würden? Und wenn die Mitgliedschaft mitziehen würde?

Generalstreik und Gewalt

Die Antwort sollte die Erfahrungen der letzten etwa 100 Jahre berücksichtigen, gerade weil dieser Fall so selten ist. Trotz der gerichtlichen Illegalisierung gab es in der Bundesrepublik immer wieder politische Streiks zu verschiedenen Themen – beispielsweise 1968, 1972, 1996 und 2007 –, die nicht bestraft wurden. Nötig ist dafür immer die Bereitschaft der Arbeitenden, gesellschaftliche Relevanz und eine soziale Mobilisierung.

Für einen politischen Generalstreik gelten dabei ganz besondere Spielregeln, denn ein solcher wirkt vom Charakter her rechtsetzend. Er ist die einzige Gewalt im bürgerlichen Zeitalter, die neben dem Staat aus sich selbst heraus legitim ist. Walter Benjamin schrieb in seinem rechtsphilosophischen Aufsatz „Kritik der Gewalt“ von 1921 wörtlich: „Die organisierte Arbeiterschaft ist neben den Staaten heute wohl das einzige Rechtssubjekt, dem ein Recht auf Gewalt zusteht“. Mit „Gewalt“ ist bei Benjamin nicht eine Barrikade, sondern legitime Machtausübung gemeint – durch den Streik.

Dies ergänzend lässt sich vielleicht formulieren: Ein Generalstreik, der ausgerufen und befolgt wird, demonstriert durch sich selbst seine demokratische Legitimität. Er ist an sich der Beweis, dass der Staat gegen die Interessen „seiner“ Bevölkerung handelt – der oben angeführte Art. 20 (4) (Recht auf Widerstand) ist eine Art bürgerlicher Zerrspiegel dieser Auffassung.

Massenstreiks beendeten den Ersten Weltkrieg, ein Generalstreik im März 1920 rettete die Weimarer Republik vor einem rechten Putsch und ein weiterer zwang im Herbst 1948 Ludwig Erhard zu einer zumindest „sozialen“ Marktwirtschaft. Legal? Illegal? War nicht von Bedeutung.

Gibt es Alternativen zum Klimastreik?

Insbesondere der Streik am 12. November 1948 kann als Anschauung dienen, denn es waren bereits ähnliche Akteure wie heute beteiligt: der DGB und das spätere Spitzenpersonal der BRD (insbesondere Ludwig Erhard), hinzu kamen nur die Besatzungsmächte. Zwar musste die DGB-Spitze 1948 von ihrer Basis dazu gedrängt werden, doch spätestens am 2. November 1948 war beschlossene Sache, dass es einen Generalstreik geben würde. Sämtliche Entscheidungsträger gingen nach diesem klaren Beschluss auf die Gewerkschaften zu: Die Besatzungsmächte äußerten keine Einwände und sogar Ludwig Erhard und Co. erklärten Übereinstimmung mit vielen gewerkschaftlichen Zielen. Was hätten sie auch tun sollen? Bei 4,5 Millionen DGB-Mitgliedern streikten schließlich am 12. November neun von den insgesamt 12 Millionen Erwerbstätigen. Der Streik führte zu einer Neukonfiguration der Wirtschafts- und Sozialpolitik der im Entstehen begriffenen Bundesrepublik.

Und heute? In einer Umfrage von Zeit Campus und dem Meinungsforschungsinstitut Ipsos stimmte im August 2019 knapp die Hälfte der 18- bis 30-jährigen Befragten Greta Thunbergs Aussage zu, derzufolge unser Haus in Flammen steht. Die einschlägigen Wissenschaften sind sich sogar komplett einig und Teile der Jugend seit Monaten auf der Straße. Dennoch wird eine Julia Klöckner vermutlich selbst dann noch Konzernlobbyarbeit betreiben, wenn der Nordseestrand an ihrem Ministerium angelangt ist. Was also bleiben für Alternativen zum Streik?

(Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift ak – analyse & kritik, Nummer 651.)

Uwe Fuhrmann ist Historiker und hätte diese Debatte lieber nachgelesen als selbst geführt. Er hat aber dazu wenig gefunden und es drängt ja die Zeit. Ansonsten schrieb er – zuletzt Bücher über die Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft und die Gewerkschafterin Paula Thiede.


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