Die Gewerkschaften haben den Industriellen und Kanzler Christian Kern am 1. Mai die Rute ins Fenster gestellt: Ihr Nein zum 12-Stunden-Tag hat den ÖVP-Putsch in Gang gesetzt. Die Unternehmer wollten Mehrarbeit ohne die Bezahlung von Überstundenzuschüssen. Das wäre nichts als „brutaler Lohnraub“ gewesen, rechnete die Gewerkschaft vor. Rund 1,6 Milliarden Euro pro Jahr wollte man den Lohnabhängigen so wegnehmen.
Der Konflikt wurde in den Monaten zuvor offen ausgetragen. Der Präsident der Industriellenvereinigung (IV), Georg Kapsch, sagte kurz nach der Präsentation des neuen Regierungsprogramms im Jänner: „Die Zeiten des Abdealens sind vorbei.“ Dass die Verhandlungen über den 12-Stunden-Tag an die Sozialpartner ausgelagert worden sind, wäre „eindeutig das falsche Signal für Wirtschaftsstandort und Arbeitsplätze“ gewesen.
Kanzler der Unternehmer
Der Kanzler, der die Flexibilisierung zur Priorität in seinem „Plan A“ gemacht hat, drohte den Gewerkschaften seinerseits Anfang April auf einer Veranstaltung vor hochrangigen Vertretern der Wirtschaft in Wien: „Ich hoffe, dass die Drohung mit einem Gesetz wirkt. Wenn die Sozialpartner bis 30. Juni keine Lösung finden, werden wir (die Regierung, Anm.) das einer Lösung zuführen.“ Kern ließ sogar den SPÖ-Parteitag zu verschieben, um Kritik zu unterdrücken.
Die Gewerkschaften und SPÖ-Parteibasis reagierten auf die Kampfansage mit einem Gegenangriff. Am Wiener SPÖ-Parteitag wurden fünf Anträge zu einer Arbeitszeitverkürzung eingebracht, alle fünf wurden angenommen. In Sitzungen und Ausschüssen der Partei war die Arbeitszeit immer wieder Thema – eine ganz klare Reaktion auf Kerns „Plan A“. Die Junge Generation in der SPÖ (JG) sammelte Unterschriften für den 6-Stunden-Tag. Unter anderem wurde die Liste auf der SPÖ-Frauenkonferenz herumgereicht.
Klassenkampf
Die Arbeiterkammer führte eine umfassende Umfrage zum 12-Stunden-Tag durch, an der sich 16.000 Menschen beteiligten und in der 9 von 10 Befragten sagen, es wäre für sie „sehr oder eher schwierig“, wenn der Arbeitgeber jederzeit 12-Stunden-Arbeitstage verlangen könnte. Die Gewerkschaften vida, GPA-djp und Pro-GE riefen aktiv dazu auf, sich an der Umfrage zu beteiligen. Betriebsräte machten mit Video-Botschaften Stimmung gegen die Industrie. Die Arbeiterkammer Oberösterreich antwortete mit einem Video, in dem sie einen Konzernmanager als skrupellosen Kapitalisten und Ausbeuter darstellte.
Spätestens auf den Aufmärschen zum 1. Mai wurde die Stimmung für alle sichtbar. Aus vielen Sektionen und Bezirken wurde die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung aufgestellt. Die Sozialistische Jugend (SJ) trug ein Banner „12-Stunden-Arbeitstag, Verrat am Proletariat“. Die sozialdemokratische Gewerkschaftsfraktion (FSG) marschierte mit einem Leittransparent gegen die Arbeitszeitflexibilisierung am Wiener Rathausplatz ein. ÖGB-Präsident Erich Foglar wetterte dort vor den Augen des Kanzlers: „Überstunden bleiben Überstunden, und sind als solche mit Zuschlägen zu bezahlen. Mehrarbeit zum Nulltarif – nicht mit uns!“
Sieg eines Prinzips
Am 6. Mai war die nächste Verhandlungsrunde für die Arbeitszeitflexibilisierung angesetzt. Wieder hieß es Njet von ÖGB und Arbeiterkammer, und Finanzminister Hans Jörg Schelling warf das Handtuch: „Die Sozialpartnerschaft ist tot. Sie weiß es nur noch nicht.“ Tags darauf, am 7. Mai attackierte Innenminister Sobotka den Kanzler und meinte, dieser hätte „versagt“. Damit war der ÖVP-Putsch in Gang gesetzt.
Karl Marx hat vor mehr als 150 Jahren die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit und die Einführung des 10-Stunden-Tages als „Sieg eines Prinzips“ gefeiert: „Zum ersten Mal erlag die politische Ökonomie der Mittelklasse (also der Unternehmer, Anm.) in hellem Tageslicht vor der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse.“ Dieser Sieg blieb erhalten, wie es die Erkämpfung des 8-Stunden-Tages im 20. Jahrhundert blieb, weil die Gewerkschaften diese Errungenschaften erfolgreich verteidigten.