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Nordirlandkonflikt – 800 Jahre der Unterdrückung

Am 18. April 2019 wurde die junge Journalistin Lyra McKee von einem Mitglied der so genannten „Neuen IRA“ erschossen, als sie probierte, Ausschreitungen in der nordirischen Stadt Derry zu dokumentieren, und sich dabei in der Nähe der Polizei aufhielt. Der Mord versetzte die ganze Nation in Schock und ließ Erinnerung an die dunkelste Phase der jüngeren irischen Geschichte wiederaufleben: Den nordirischen Bürgerkrieg, auf Englisch „The Troubles“ genannt, welcher am Ende der 1960er Jahre begann und bis zum Karfreitagsabkommen aus dem Jahr 1998 3.300 Todesopfer und 42.000 Verwundete zu verantworten hatte. Diese neuere Phase des Konfliktes zwischen katholischen Republikanern und protestantischen Unionisten ist dabei durchaus bekannt und gut dokumentiert, doch um die tiefergehenden Hintergründe der Troubles zu verstehen und nachvollziehen zu können, warum diese vor allem aus linker Perspektive betrachtet von großem Interesse sind, muss man viele Jahrhunderte zurück gehen.

Die Wurzeln des Nordirlandkonfliktes liegen im Jahr 1171, als die Briten unter Führung des damaligen englischen Königs Heinrich II. das erste Mal nach Irland vorstießen und Land eroberten. Bis zur Herrschaft Heinrichs VIII., welcher von 1509 bis 1547 regierte, hatten sie jedoch nur einen 30–60 Kilometer langen Küstenstreifen um Dublin herum, „The Pale“ genannt, in ihren Besitz gebracht. Dies änderte sich, als Heinrich 1541 den Titel eines Königs von Irland annahm und die britischen Gebietsansprüche auf größere Teile der grünen Insel ausweitete. Vor allem in der nördlichen Provinz Ulster, heute als Nordirland bekannt, führte das zu immer wiederkehrenden Aufständen der dort ansässigen irischen Katholiken, welche nicht von dem protestantischen England aus fremdregiert werden wollten. Diese Aufstände mündeten im Neunjährigen Krieg von Mai 1593 bis März 1603, welcher schlussendlich von den Briten gewonnen wurde. Als Reaktion auf den Krieg fing die britische Krone im Jahre 1604 an, eine strikt anti-katholische Politik zu implementieren. Katholiken sollten konvertiert werden und um die britische Herrschaft über Irland abzusichern, wurden gezielt protestantische Schotten und Engländer angesiedelt, ebenfalls vor allem in Ulster. Diese Umsiedlungen bildeten den Grundstein der ethnischen Unterschiede in Nordirland, welche es bis heute gibt.

Die Wurzeln des Konflikts

Nach weiteren Aufständen der (noch) katholischen Mehrheitsgesellschaft radikalisierte sich die unterdrückerische, anti-katholische Politik immer weiter. Ab 1610 wurden immer mehr katholische Iren enteignet, von ihrem Land vertrieben und dieses an protestantische Kolonisatoren vergeben. Ebenfalls wurde es verboten, Land an Katholiken zu verpachten, welche der britischen Krone nicht die Treue schworen. Auch wenn dieses Verbot oftmals umgangen wurde, wurde die Pacht für Katholiken unverhältnismäßig hoch angesetzt, und diese damit in die Armut getrieben. Wer sich gegen diese Enteignungen wehrte, wurde hingerichtet. Unter dem Vorwurf, protestantische Siedler attackiert zu haben, mussten alleine zwischen 1616–1619 300 Iren ihr Leben lassen. Ab 1633 wurden Katholiken darüber hinaus gezwungen, hohe Summen zu zahlen, um ihre Religion ausüben zu dürfen, eine ernsthafte Tolerierung brachte ihnen das trotzdem nicht ein.

Im Herbst 1641 gab es durch diese diskriminierende Politik bedingt einen weiteren, größer angelegten Aufstand des katholischen Irlands, welcher bis zum Kriegsende 1653, vor allem durch den starken Gegenzug der Briten, 600.000 Leben forderte, rund 85 Prozent der Verstorbenen waren Katholiken. Wie bereits nach dem Neunjährigen Krieg führte jedoch auch dieser Aufstand am Ende nicht zu einer Verbesserung der Lage der irischen Bevölkerung. Genau das Gegenteil war der Fall. Durch den „Act for the Settlement of Ireland“ von 1652 wurde das restliche, sich noch in katholischer Hand befindliche Land enteignet und die Iren somit in eine komplette Abhängigkeit von den Protestanten gezwungen.

Nach vielen weiteren Konflikten war Irland zu Beginn des 18. Jahrhunderts komplett besetzt. Aus Angst vor immer wieder aufflammenden Aufständen wurde ab 1695 ein neues Strafgesetzbuch, die „Penal Laws“, in Kraft gesetzt. Durch dieses bekam die britische Segregationspolitik ein ganz neues, noch brutaleres Gesicht. Katholiken wurde es verboten, Waffen zu tragen, ihre Kinder zur Schule zu schicken oder Pferde zu besitzen, die mehr als fünf Pfund wert sind. Sie durften weiterhin kein Land erwerben, auch bei Pachtungen gab es äußerst strenge Regelungen. Darüber hinaus wurden sie vom Wahlrecht zum irischen Parlament ausgeschlossen, Tätigkeiten in kommunalen Behörden, in der Justiz wurden untersagt und auch ein Studium war verboten. Auch wenn die verarmten Katholiken aufgrund ihrer Lage ohnehin nicht die Mittel dazu gehabt hätten, Land zu erwerben oder wählen zu dürfen, wurden die neue Gesetze als Unterwerfung angesehen.

Durch die neue Verfassung von 1782 wurden diese Regelungen nach fast einem Jahrhundert teilweise wieder aufgehoben. Katholiken war es ab diesem Jahr unter Beschränkungen erlaubt, Land zu erwerben. 1793 bekamen sie zumindest theoretisch das aktive Wahlrecht.

Armut und Religion hängen zusammen

Wirklich tiefgreifende Verbesserungen bedeuteten diese Lockerungen jedoch nicht. Ende des 18. Jahrhunderts war weiterhin eine strikte soziale Trennlinie zu erkennen. Protestanten dominierten den Landbesitz und die akademischen Berufe, während Katholiken überwiegend arme Landarbeiter und Landpächter waren.

Selbst diese nur minimalen Zugeständnisse machte die britische Krone jedoch nicht ohne Hintergedanken. Man fürchtete sich vor einer Invasion Frankreichs, weshalb man sich die Loyalität der Katholiken durch mehr Rechte erkaufen wollte. Wirklich funktionieren tat dies aber nicht. Vor allem in den ländlichen Regionen gab es wegen der zu hohen Besteuerung der katholischen Iren immer wieder Auseinandersetzungen, aufgrund welcher sich auf beiden Seiten Kampfbünde bildeten. 1795 eskalierte die Situation im Norden Armaghs dann durch die Vertreibung hunderter katholischer Familien, auch mit französischer Hilfe resultierte dies bis 1798 in vielen Aufständen mit insgesamt 30.000 Toten. Durch die immer wieder aufkommenden Konflikte vertiefte sich die Segregation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiter. Gab es früher auch noch teilweise Protestanten, die sich für mehr irische Unabhängigkeit einsetzten, waren diese nun fast ohne Ausnahme für die Union mit Großbritannien, während ein Großteil der Katholiken die irische Unabhängigkeit forderte, um sich von der unterdrückerischen Kolonialherrschaft der Briten zu befreien. Die klare Unterscheidung zwischen katholischen Nationalisten und protestantischen Unionisten, welche auch heute noch die Politik und den Alltag in Nordirland prägt, wurde immer mehr möglich.

Die Antwort der britischen Krone auf die Aufstände ließ die irischen Ambitionen für einen unabhängigen irischen Staat jedoch in immer weitere Ferne rücken. 1801 wurde Irland mit Großbritannien vereinigt, war also kein Kolonialgebiet mehr, sondern ein integraler Bestandteil des Vereinigten Königreichs. Das irische Parlament wurde abgeschafft und das britische Parlament, welches bereits vorher jedes Gesetz des irischen Parlamentes absegnen musste, wurde zur legislativen Hoheit in Irland. Den Katholiken wurde in diesem Zuge gleiche Rechte versprochen, wie früher wurde das Versprechen aber vorerst nicht eingehalten. Erst im Jahre 1829 wurde nach Druck einer Massenbewegung, geführt von Daniel O`Connel, durch das Emanzipationsgesetz für Katholiken die rechtliche Gleichstellung erwirkt. Durch die dadurch gewonnenen besseren Partizipationsmöglichkeiten irischer Katholiken in der Politik wurden die Forderung nach einer Umverteilung des Landes, und durch die Repeal-Bewegung auch die Aufhebung der Union mit Großbritannien, immer weiter in die Öffentlichkeit getragen. Die britische Regierung antwortete jedoch nicht mit Kompromissbereitschaft, sondern mit der Stationierung von immer mehr Soldaten in Irland, um die Idee im Keim zu ersticken.

Im Jahr 1845 kam die neuartige Kartoffelfäule nach Irland und führte zu Missernten, welche die bis 1849 dauernde Große Hungersnot auslöste, in dessen Zuge eine Million Iren verhungerten und bis zu zwei Millionen darüber hinaus auswanderten. Auch wenn die Hungersnot ursprünglich von Parasiten ausgelöst wurde, wurde sie zum Symbol der brutalen Herrschaft des britischen Empires im besetzten Irland. Denn die damals konsequent durchgeführte Laissez-faire-Politik der Regierung verbot es zu intervenieren und die Kartoffelexporte vorerst auszusetzen. So kam es dazu, dass die wenigen Erträge, die in Irland trotz der Kartoffelfäule erzielt wurden, nach England und in andere Länder exportiert wurden, während die vor allem katholischen Landpächter, die diese Kartoffeln geerntet hatten, verhungern mussten. Auch der Vorwurf des Völkermordes kann durchaus erhoben werden, weil einige britische Politiker verlauten ließen, dass die Hungersnot etwas Gutes wäre, da man so dem irischen Überbevölkerungsproblem beikommen könnte. Erst nach zwei Jahren, in denen täglich unzählige Menschen verhungern mussten, führte die britische Regierung kostenlose Massenspeisungen ein, um die Auswirkungen der Hungersnot einzuschränken.

Landverteilung

Auch wenn es mittlerweile legale Möglichkeiten für Katholiken gab, Land zu erwerben, war die Landverteilung in Irland weiterhin ein großes Problem. 1876 gehörten 200 Menschen fast 70 Prozent des Grundes, während drei Millionen überwiegend katholische Pächter fast gar kein Land besaßen. Diese gesellschaftliche Realität bestärkte die weit verbreitete irische Forderung nach „Home-rule“, also einem eigenständigen irischen Parlament, nur noch mehr. Die erste und zweite Gesetzesvorlage zur Home-rule im britischen Parlament (1886 und 1893) scheiterten jedoch beide. Und da durch mehrere Gesetze bis 1903 deutliche Verbesserungen in der Landfrage erreicht wurden, verschwand die Debatte vorerst, bis 1913 der dritte Gesetzesentwurf angenommen wurde. In den Jahren dazwischen hatten sich die Fronten aber immer weiter verhärtet. Vor allem in Ulster beschafften sich militante Unionisten immer mehr Waffen und gründeten paramilitärische Organisationen, irische Nationalisten taten es ihnen im Gegenzug gleich. Aufgrund dieser Ausgangssituation wurde die Umsetzung des Home-rule-Gesetzes nahezu unmöglich, da die unionistischen Paramilitärs jegliche Form der irischen Selbstbestimmung nicht hinnehmen wollten und auch die britische Armee zum größten Teil auf unionistischer Seite stand. Spannungen nahmen immer weiter zu, sowohl Unionisten als auch Republikaner waren schwer bewaffnet und ein Bürgerkrieg stand kurz bevor. Bevor die Lage eskalierte begann jedoch der Erste Weltkrieg, welcher den Konflikt in Irland vorerst beendete.

Da das eigentlich beschlossene Home-rule-Gesetz nie hinreichend durchgesetzt wurde, gründete sich 1916 erstmals die IRA (Irish Republican Army) mit dem Ziel, eine unabhängige irische Republik mit militärischen Mitteln zu erzwingen. Im Rahmen des Osteraufstandes 1916 besetzten rund 900 Kämpfer der IRA wichtige Gebäude in Dublin und riefen die irische Republik aus. Nach fünftägigen Kämpfen mussten die Aufständischen jedoch kapitulieren. Der Großteil von ihnen wurde zeitnah wegen Hochverrats angeklagt und erschossen. Auch wenn der Osteraufstand nicht erfolgreich war, legte er den Grundstein für den militanten republikanischen Widerstand gegen die britische Besatzung, der das Land das ganze weitere Jahrhundert lang in seinen Bann ziehen sollte. Bei den Wahlen im Jahr 1918 erreichte die 1905 gegründete nationalistische Partei Sinn Fein, welche der IRA nahestand, einen bedeutenden Sieg. Anstatt jedoch ihre Plätze im irischen Parlament einzunehmen, gründeten die Abgeordneten am 21. Januar 1919 ein eigenes, irisches Parlament, während die IRA mit einem Guerillakrieg den irischen Unabhängigkeitskrieg gegen die britische Besatzung startete. Als der Aufstand auch nach Ulster übersprang, entwickelte sich ein tödlicher Konflikt, der zwischen 1920 und 1922 557 Menschen das Leben kostete, während in Belfast rund 23.000 Katholiken aus ihren Häusern vertrieben und 500 Geschäfte zerstört wurden.

Zwei irische Staaten

Die immer weiter eskalierende Gewalt machte auch der britischen Regierung klar, dass man eine Lösung für den Konflikt finden müsse. Bereits am 23. Dezember 1920 wurde daher, ohne Einfluss von Sinn Fein, der Government of Ireland Act beschlossen. Dieser sah vor, Irland in zwei Staaten zu teilen. Ulster wurde damit am 22. Juni 1921 offiziell zu Nordirland, bekam ein eigenes Parlament, eine eigene Exekutive und ein eigenes Rechtssystem, blieb aber weiterhin ein Teil Großbritanniens. Der Süden Irlands wurde durch den anglo-irischen Vertrag am 6. Dezember 1921 zu einem Freistaat als Dominion im britischen Empire. Damit wurde der Süden größtenteils eigenständig und selbstverwaltend. Doch die weiterhin vorhandene Verbindung zu Großbritannien führte zu einem Bürgerkrieg zwischen den Befürwortern des Vertrages und den Vertretern des 1919 gegründeten Parlamentes, welche sich größere Unabhängigkeit und mehr sozialistische Prinzipien wünschten. Dieser Krieg fand jedoch im Mai 1923 mit einem Sieg des irischen Freistaates ein Ende. Die komplette Unabhängigkeit Irlands erfolgte zwei Jahrzehnte später im Jahr 1949.

Nachdem sich der Süden Irlands also erfolgreich von der britischen Unterdrückung befreit hatte, verlagerte sich der Konflikt in den Norden. Dort war der nordirische Staat stark unionistisch geprägt und es gab weiterhin eine institutionalisierte Diskriminierung gegen Katholiken. Die Einstellung von Katholiken im höheren öffentlichen Dienst wurde verhindert und die Wahlkreise wurden so festgelegt, dass Unionisten fast überall die Mehrheit hatten. Außerdem wurde der soziale Wohnungsbau gestoppt, welcher aufgrund der sozialen Zusammensetzung der Gesellschaft vor allem Katholiken zu Gunsten kam. Immer wieder kam es auch zu Aufständen und Konflikten zwischen beiden religiösen Gruppen, wie beispielsweise 1935, als Ausschreitungen 13 katholischen Zivilisten das Leben kosteten. Im Dezember 1956 formten sich daher erstmals Teile der IRA wieder neu und starteten eine Kampagne gegen den nordirischen Staat, welche größtenteils aus Bombenattentaten und Mordanschlägen auf Polizisten bestand. Wegen massiver staatlicher Repressionen wurde diese jedoch Anfang 1962 wieder eingestellt.

Liberalisierung und Konflikte

In der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs hatte Nordirland eine stark schwächelnde Wirtschaft, weshalb so genannte Wachstumszonen geschaffen wurden, in denen neue Infrastruktur sowie Universitäten errichtet und Steuererleichterungen für Unternehmen eingeführt wurden. Diese Zonen befanden sich jedoch fast ausschließlich in protestantischen Gebieten, was die Gesellschaft noch weiter spaltete. Darüber hinaus erfolgte 1966 die Gründung der unionistischen UVF, der Ulster Volunteer Force, welche der IRA öffentlich den Krieg erklärte und Mordanschläge auf vermeintliche IRA-Männer durchführte. In Verbindung mit einer weiterhin gesellschaftlich schweren Diskriminierung, wie einem konfessionell geteilten Schulsystem, Bevorzugung von Protestanten bei der Zuteilung von Wohnraum und der Diskriminierung auf der Arbeit, waren weiterhin viele irische Katholiken extrem unzufrieden mit der Situation in Nordirland und gründeten daher nach Vorbild der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung am 14. Januar 1964 die „Campaign for Social Justice“, welche sich mit friedlichen Aktionen für mehr Rechte und Gleichstellung einsetzte. Bei einer Demonstration am 5. Oktober 1968 in Derry kam es jedoch zu willkürlichen Angriffen der Polizei auf friedliche Demonstranten und auch Unbeteiligte. Im katholischen Viertel „Bogside“ entwickelte sich daraufhin ein Straßenkampf. Diese Eskalation durch die nordirische Polizei wird heute als Anfang des blutigen Bürgerkrieges gesehen, welcher das Land in den nächsten 30 Jahren beschäftigen sollte. Die Troubles hatten begonnen.

Vorfälle dieser Art blieben keine Einzelfälle. Am Neujahrstag 1969 starteten 40 Mitglieder von „People`s Democracy“ einen Protestmarsch von Belfast bis nach Derry. Kurz vor Derry geriet der Marsch in einen Hinterhalt, militante Unionisten griffen mit Steinen und Eisenstangen an, die Polizei unternahm nichts dagegen. Am Abend desselben Tages wurde die Bogside gestürmt, Passanten angegriffen und Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Als Reaktion auf diese Angriffe wurde die Bürgerrechtsbewegung ebenfalls radikaler, es häuften sich Eskalationen auf Demonstrationen, die Situation wurde immer angespannter. Nach dem „Battle of the Bogside“ am 12. August 1969, als katholische Jugendliche eine unionistische Parade angriffen, und der Ausbreitung der Gefechte auf die nordirische Hauptstadt Belfast wurde schließlich die britische Armee nach Nordirland beordert, um die Konflikte zu unterbinden. Zu dieser Zeit entstanden auch die ersten „Peace-lines“, also große Mauern zwischen katholischen und protestantischen Wohnvierteln, die beide Parteien voneinander trennen sollten.

Die IRA war in den Jahren der Bürgerrechtsbewegung geschwächt und zur Randerscheinung geworden. Im Dezember 1969 spaltete sie sich aufgrund ideologischer und taktischer Differenzen in die „Official IRA“ und die „Provisional IRA“, kurz Provos. Die Armee wurde daraufhin wieder aufgebaut, bis Mitte der 70er Jahre zählte sie 1.500 Kämpfer, 800 davon in Nordirland. Im Februar 1971 wurde erstmals wieder ein Polizist durch die IRA ermordet, was den Anfang ihres erneuten bewaffneten Kampfes gegen die britische Besatzung markierte. Immer öfter kam es zu Bombenanschlägen auf britische und kommerzielle Infrastruktur. Am 9. August 1971 begann die massenhafte Internierung Verdächtiger. In den Internierungszentren wurden auch Methoden, die man als Folter bezeichnen kann, wie beispielsweise Elektroschocks, Schläge und Erniedrigungen, angewandt, um die Verdächtigen zu Geständnissen zu bringen. Diese Repressionsmaßnahmen intensivierten den Krieg nur noch mehr. Am 30. Januar 1972 kam es dann zu dem weltweit wohl bekanntesten Ereignis der Troubles: An diesem Tag, besser bekannt als „Bloody Sunday“, wurden bei einer friedlichen Demonstration 14 Demonstranten durch die britische Armee umgebracht. Dieses Ereignis radikalisierte immer mehr katholische Iren, die vorher die gewaltvolle Kampagne der IRA noch abgelehnt hatten.

Zunahme der Gewalt

Ab April 1972 stiegen auch unionistische paramilitärische Organisationen immer mehr in den bewaffneten Kampf ein und starteten Vergeltungsschläge gegen Katholiken, worauf hin die Provos reagierten und Protestanten attackierten. Somit entstand eine Spirale der Gewalt, welche dazu führte, dass im Sommer 1972 die größte Intensität des Konfliktes zu verzeichnen war. Am „Bloody Friday“, dem 21. Juli 1972 starben neun Menschen an Bombenanschlägen der IRA, über 100 wurden verletzt. Seit 1973 fanden auch in England vermehrt Anschläge statt. Im Laufe der 1970er Jahre nahm die Gewalt insgesamt ab, verweilte jedoch immer noch auf einem hohen Niveau. Als im Jahr 1976 den republikanischen Gefangenen der Status als politische Gefangene aberkannt wurde, waren inhaftierte Republikaner gewillt, zu immer radikaleren Maßnahmen zu greifen. Um bessere Haftbedingungen zu erzwingen, gingen einige Häftlinge am 27. Oktober 1980 in den ersten, am 1. März 1981 in den zweiten Hungerstreik. Einer von ihnen war der bekannte IRA Kommandant Bobby Sands, der, als er am 5. Mai 1981 durch den Hungerstreik starb, eine weltweite Welle der Empörung auslöste. Neun weitere Gefangene verstarben in britischer Haft, was für einen enormen Druck auf die Regierung sorgte.

Noch viele weitere Jahre litt Nordirland unter der alltäglichen Gewalt und den unzähligen Verlusten, die die Gesellschaft auf beiden Seiten zu verzeichnen hatte. Doch langsam aber sicher entstand der gemeinsame Wille, eine Lösung für den Konflikt zu finden. Gerry Adams, ehemaliger IRA-Kämpfer und mittlerweile Präsident von Sinn Fein, war offen für Friedensgespräche. Und nach jahrelangen Verhandlungen und vielen Rückschlägen wurde am 10. April 1998 das Karfreitagsabkommen unterzeichnet, was das Ende des bewaffneten Kampfes bedeutete. Unter anderem wurden in diesem Abkommen festgelegt, dass Großbritannien der Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland zustimmen würde, wenn sich die Mehrheit der nordirischen Bevölkerung dafür aussprechen sollte, alle paramilitärischen Gruppierungen ihre Waffen abgeben und Nordiren neben dem britischen auch einen irischen Pass beantragen können, wenn sie dies wollen.

Auch wenn heutzutage Angriffe wie der auf Lyra McKee selten sind, stehen sie doch symbolisch dafür, wie gespalten Nordirland auch jetzt noch ist. Meterhohe Peace-walls ziehen sich weiterhin durch nordirische Städte wie Belfast und Derry, katholische Kinder spielen nur mit katholischen Kindern, dasselbe auf der anderen Seite. Gemeinsame Sportvereine oder Pubs sind eher die Ausnahme als die Regel. Und beide Seiten halten, oftmals auch auf provokative Art und Weise, ihre Traditionen hoch. Die republikanischen und unionistischen Märsche gehen oftmals durch die Wohngebiete der jeweils anderen Partei. Immer wieder kommt es dabei zu Auseinandersetzung. Überall gibt es große Wandbilder und Graffitis, die an verstorbene Kämpfer und den Konflikt erinnern. Vor allem auch der Brexit ist ein Streitthema, da sich die Mehrheit der Nordiren gegen den Austritt aus der EU entschieden hat, und aufgrund der Zugehörigkeit zu Großbritannien trotzdem austreten musste.

Das brisanteste Thema von allen mag aber die demografische Entwicklung Nordirlands sein. Denn in einigen Jahren könnten die Katholiken erstmals seit langem die Bevölkerungsmehrheit stellen. Wenn dies geschieht, könnte den Unionisten das Karfreitagsabkommen zum Verhängnis werden, da dort wie bereits erwähnt festgelegt wurde, dass eine Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland möglich sei, wenn die Mehrheit der Gesellschaft dies wünscht.

Der Nordirlandkonflikt wird in Zukunft also eher wieder aktueller als veralteter werden. Und genau deswegen sollte es auch innerhalb der deutschen Linken selbstverständlicher werden, sich solidarisch mit den irischen Republikanern zu zeigen und sie in ihrem Kampf gegen den britischen Imperialismus zu unterstützen, so wie es in großen Teilen der linken Szene auch bei den Kurden und Palästinensern der Fall ist. Der Nordirlandkonflikt ist schon lange kein Konflikt mehr zwischen Konfessionen, viele Menschen sind mittlerweile nicht mehr wirklich religiös. Es ist ein Konflikt zwischen einer ethnischen Gruppe, die seit Jahrhunderten systematisch unterdrückt, vertrieben, diskriminiert und getötet wird, und einer Gruppe, die der Kolonialmacht, welche diese Verbrechen begeht, den Rücken stärkt. Niemand kann ernsthaft wollen, dass der bewaffnete Konflikt wieder ausbricht. Jede Seite profitiert davon, wenn die Differenzen mit demokratischen Mitteln und friedlich beigelegt werden. Aber für genau diesen friedlichen Kampf sollten wir den irischen Republikanern zur Seite stehen, vor allem auch deswegen, weil es ebenfalls größtenteils linke und sozialistische Gruppen in Nordirland sind, die sich für eine Wiedervereinigung und die Freiheit von britischer Fremdbestimmung einsetzen. Sie benötigen unsere Solidarität. Nordirland ist eine der letzten Kolonien des britischen Empires, die noch nicht in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Es bleibt zu hoffen, dass die Iren, nach mittlerweile über 800 Jahren, bald endlich ein vereinigtes und freies Volk sein dürfen.


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