Bild von Dimitris Vetsikas auf Pixabay

Menschen mit Nazihintergrund

Die derzeitige Diskussion um „importierten Antisemitismus“ verrät die deutsche Doppelmoral, wenn es um die eigene Geschichte geht. Antisemitismus war und ist zum Teil noch fest verankert in deutschen Familiengeschichten. Wenn wir Antisemitismus anklagen, dürfen wir uns unserer familiären Verantwortung nicht entziehen.

In meiner Familie war Antisemitismus tief verwurzelt. Vor drei Jahren fand ich in einer längeren Recherche heraus, dass mein Urgroßonkel ein beschuldigter Täter im Synagogenbrandprozess 1948 in Varel in Friesland war. Wie in so vielen Fällen damals konnten nicht alle Täter ausfindig gemacht werden. Man deckte sich gegenseitig. Ich weiß aber, dass er ein führender Kopf der NSDAP in dieser kleinen friesischen Stadt war und 1938, als die Synagoge der jüdischen Gemeinde brannte, vor Ort gewesen sein muss. Ich will mich gar nicht länger mit ihm beschäftigen. Es geht eher darum, dass sein familiäres Umfeld davon wusste.

Und zwar vor und nach dem Krieg. Es wäre zu leicht, den Antisemitismus meiner Familie auf meinen Urgroßonkel Kurt zu beschränken. Vor dem Krieg war er bereits 1930 in die NSDAP eingetreten und engagierte sich 1928 im Jugendverband des Stahlhelms. Er kam aus einem bürgerlichen Haushalt. Rund um Oldenburg grassierte der Faschismus schon früh und konnte auf einen weit verbreiteten Antisemitismus im Bürgertum aufbauen. Nach dem Krieg erhielt mein Urgroßonkel seine alte Stelle im Wasserbau wieder, bis er seelenruhig verstarb. Kein Wort mehr über den Krieg und schon gar nicht über die Vernichtung der Jüdinnen und Juden.

Importierter Antisemitismus

Wenn jetzt von „importiertem Antisemitismus“ gesprochen und diskutiert wird, lässt es mich jedes Mal erschaudern. Es ist der Grund, warum ich gerade kaum noch Nachrichten schaue, geschweige denn die Kommentarspalten lese. Ich lehne mich nicht weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass die meisten der bio-deutschen Medienschaffenden mit Studium und Abitur (genau mein soziales Milieu) sich nicht einmal ansatzweise mit der Nazi-Vergangenheit ihrer Familie auseinandergesetzt haben. Damit man mein erwähntes persönliches Beispiel nicht falsch versteht: Ich ziehe mich nicht aus der Verantwortung, nur weil ich mich mit meiner familiären Geschichte auseinandersetze. Ich möchte damit nur sagen, dass ich einer von sehr vielen Nachkommen der Täterinnen und Täter bin. Von diesen Beispielen gibt es etliche. Unsere Großeltern, Uronkel und -tanten, Opas und Omas (bei manchen vielleicht auch noch die Eltern) haben gemordet, geplündert, angezündet, entrechtet, geschlagen und Menschenrechte mit ihren Füßen getreten. Wir sind die Nachkommen einer Täterinnen-Generation, die eine faschistische Partei zur Macht verhalf, einen Weltkrieg mit unzähligen Toten anzettelte und schließlich sechs Millionen Jüdinnen und Juden industriell ermordeten. Und was wir auch noch ständig unterschlagen: Wir sind Nachkommen von Täterinnen und Täter, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu 99 Prozent nicht belangt wurden. Genau wie ich also ein klassisches deutsches Mittelklassen-Beispiel bin, ist mein familiärer Nazihintergrund nichts besonderes.

Was machen diese Nachkommen jetzt? Sie echauffieren sich über den angeblich importierten Antisemitismus. Sie stimmen gemeinsam und ausgerechnet mit der AfD in den Chor ein, dass nun „Die Lunte hochgeht, die […] mit der Einwanderungspolitik“ (Beatrix von Storch 19. Mai) gelegt worden sei. Sie sind darin Expertinnen und Experten geworden, in jedem Protest für eine friedliche Lösung in Nahost Antisemitismus zu sehen. Als Konsequenz fordern sie Abschiebungen für Menschen aus der palästinensischen Community oder hüllen sich in israelische Fahnen. Es ist eine abstrakte Verquerung.

Vor der eigenen Haustür kehren

Wenn Parteivertreterinnen und -vertreter jetzt zusammenkommen und davon sprechen, dass „wir vor der eigenen Haustür kehren müssen“ und mit „aller Härte des Rechtsstaats“ vorgehen sollen, meinen sie sicher nicht, rechte Netzwerke in der Polizei oder in der Bundeswehr zu bekämpfen. Sie sprechen auch nicht in aller Deutlichkeit an, dass der größte Teil aller antisemitischen Straftaten von rechtsextremen Deutschen ausgeht. Und sie meinen ganz sicher nicht, ihre Familiengeschichte genauer anzuschauen, oder sich zu fragen, woher das gute Silberbesteck von den Großeltern tatsächlich kommt. Es sind Auswüchse des ignoranten Bürgertums der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die versucht, Antisemitismus mit antimuslimischen Rassismus bekämpfen zu wollen. All diejenigen mit Nazihintergrund stört das nicht – sie sind fein raus, denn sie haben am 9. November #weremember getwittert.

Nach einer repräsentativen Studie der Universität Bielefeld und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft berichten lediglich 18 Prozent der befragten Deutschen von einer Mittäterschaft ihrer Verwandten während der nationalsozialistischen Diktatur. Genauso viele behaupten, dass ihre Verwandten potenziellen Opfern geholfen hätten. Nach Auffassung der Nazi-Nachkommen gab es also genauso viele Wiederstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer wie Nazis. Das öffentliche Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs ersetzt eben nicht das Persönliche. Im Gegenteil: Die öffentliche Inszenierung dient als Entlastungsritual. Deutschland, der Weltmeister der Aufarbeitung.

Max Czollek („Desintegriert Euch!“) nennt das Versöhnungstheater. Kurz zusammengefasst bedeutet das, dass es in der deutschen Erinnerungskultur nicht um eine Verhinderung der Geschichte geht. Die deutsche Seite leistet Erinnerungsarbeit, weil sie sich davon etwas verspreche, um sich als „gutes und geläutertes Deutschland neu erfinden zu können“. Czollek: „Als sei die lang überfällige Beschäftigung mit den diversen deutschen Gewaltgeschichten unmittelbar an Versöhnung gekoppelt, die Aufarbeitung an die Bewältigung, das Eingeständnis von Schuld an die Begnadigung durch die Überlebenden.“

Die Erinnerungskultur soll letztlich in einer neuen Normalität übergehen. Und allem Anschein nach funktioniert das auch. Fragt man meine Nazi-Nachkommen-Generation in ein paar Jahren, ob es Mittäterschaft in der Familie gab, sind wir wahrscheinlich schon bei null Prozent anstelle von 18.

Eigene Geschichte wird verleugnet

Auch ich gehe seit 2018 mit meiner Familie an jeden 9. November zum jährlichen Gedenkgang der Pogrome von 1938 in Varel. Ich will diese Initiativen, die es vielfach in ganz Deutschland gibt, nicht schlecht reden. Sie sind und bleiben wichtig. Meine Nazi-Nachkommen-Generation hat es sich nur zu einfach gemacht. Sie suhlen sich in ihrer moralischen Erhabenheit. Die derzeitige Erinnerungskultur hat jede individuelle Auseinandersetzung mit der Täterschaft der Vorfahren und deren Antisemitismus unmöglich gemacht. Jeder Bezug zu Nazis in der eigenen Familie wird dadurch immer schwerer und am Ende sogar verleugnet. Es ist zur Normalität geworden zu denken, nach 1945 hätte es keine Nazis mehr gegeben. Bisweilen gibt es sogar eine Tendenz zum eigenen Opfernarrativ. Viele Deutsche mit Nazihintergrund wollen plötzlich Opfer von Bombenkrieg sein, von Flucht oder Vertreibung. Bis wir eben am Ende alle am 8. Mai befreit wurden. Mein Urgroßonkel wurde nicht befreit. Er kam in ein Gefangenenlager für NSDAP-Funktionäre (aus dem er nach zwei Jahren ohne Konsequenzen entlassen wurde). Bei den Reichen wechselten lediglich die Auftraggeber. Quandt, Thyssen, Bahlsen … sie alle konnten weiter produzieren.

Als ich gerade meine Recherche zu meinem Nazihintergrund veröffentlich hatte, rief mich meine Tante an, um mit mir darüber zu sprechen. Es folgte kein interessiertes Gespräch an meiner Recherche oder wie wir noch mehr Geheimnisse lüften könnten, nein. Es folgte der Vorwurf, ich würde sie mit Nazis in Verbindung bringen. Was ja richtig war. Wie konnte ich es nur wagen, das öffentlich auszusprechen? Es ist wie mit dem Geld: Über den Nazihintergrund spricht man nicht, man hat ihn. Diese Reaktion ist symptomatisch. Wir haben gelernt, es nicht anzusprechen, und man sollte bloß nicht in die Nähe von Nazis gerückt werden. Wenn der Nazi in der Familie nicht verleugnet werden kann, dann war Opa eben nur Mitläufer, der es nicht besser wusste. Falls Opa noch im Weltkrieg war, war er bloß Funker oder LKW-Fahrer.

Es war schon immer ein Tabu in der Familie, darüber Fragen zu stellen. Im gegenwärtigen deutschen Narrativ sind die Nazis oder die Antisemiten die Hitlers, Goebbels, Görings, Mengeles oder Freislers, die in Institutionen wie der NSDAP oder SS gewesen sind. Fertig. Doch damit muss endlich Schluss sein. Wenn wir uns mit der Geschichte unserer Familien auseinandersetzen, dann beschäftigen wir uns auch mit der Entstehung und der Bedeutung von Faschismus, Antisemitismus oder Rassismus. Unsere Vergangenheit ragt in die Gegenwart und wird relevant für das Heute. Persönliche Aufarbeitung der Familiengeschichte ist gelebter Antifaschismus. Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit bekämpfen wir unter anderem in unseren Familien – dort, wo er zum größten Teil herkommt.

Ein Beitrag von Martin Wähler, Linksaktivist und Antifaschist

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2 Antworten

  1. Ich weiß sehr gut um den Antisemitismus der Deutschen, wie auch anderer Nationen. Ich kenne die beispiellosen Verbrechen der Deutschen in der Shoa. Davon abgesehen kommt ein neuer, anders gearteter Antisemitismus aus den arabischen Ländern. Der macht sich sehr viel sichtbarer in Demos mit z.B. verbrennen der israelischen Flagge. Auch wir Deutsche haben das Recht, diesen Antisemitismus zu kritisieren. Und er ist importiert. Fakt. Es muss alles betrachtet werden

  2. Die Wortwahl macht den Artikel stellenweise fragwürdig. Da „echauffieren“ sich die Nachkommen. Oder eine Generation „suhl[t] sich in ihrer moralischen Erhabenheit“.

    Das auch die Statistik über solche Angriffe fragwwürdug ist und eben nicht eine Analyse über Täter und Taten zuläßt ist eigenltich auch bekannt.
    https://www.tagesschau.de/faktenfinder/hintergrund/antisemitismus-147.html

    Für mich liest sich der Artikel genau so, wie das was er angreiften möchte. Er argumentiert aus einer moralischen Erhabenheit und mit dieser Keule meint die Menschen belehren zu müssen. Aber genau das ist, meiner Ansicht nach, die Tradition in der auch die Judenvernichtung in deutschland entstehen konnte.

    Man sollte aufhören zu glauben, dass der eigene moralische Kompaß schon damals galt. Für viele Menschen damals war der Antisemitismus eine logische und gute Sache. Die Menschen haben nicht geglaubt, etwas Schlechtes zu machen. Daher ist unser Maßstab nicht hilfreich dabei zu verstehen, wie es soweit kommen konnte.

    Auch wenn richtig ist, dass eben nicht die Nazigrößen die alleinig Verantwortlichen waren, so haben sie nur eine Stimmung ausgenutzt, die damals weit verbreitet war und die in mehr oder weniger starken Ausprägungen auch in anderen Ländern existierten. Daher fiel die Propaganda des „bösen Judens“ auf fruchtbaren Boden und in Verbindung mit der Niederlage im verlorenen Weltkrieg, konnte dieser Gedanke das der Jude Schuld an „unserem Unglück“ ist, zu dem führen was wir heute mit Abstand anders bewerten können.

    Daher ist diese Credo wir müssen darüber sprechen, nicht ausreichend, sondern wir müssen unseren Narrativen mißtrauen und über Wirken und Wirkung sprechen. Und die Rolle von staatlicher Propaganda bei moralischen Dingen verhindern. Das ist aber genau das was im Augenblick geschieht und von vielen ausgenutzt wird. So entsteht der Hass auf Menschen, egal ob Jude, Moslem oder „Querdenker“. Wer sich überlegen und im Besitz der Wahrheit glaubt muss den anderen – den Feind – hassen. Mit diesen Antipoden werden Kriege geschürt und Macht zementiert. Da diese dann im Auftrag der „richtigen“ Seite agiert.

    Und diese moralische Überhöhung ist auch bei dieser spezifischen Diskussion das Hauptproblem. Ich sehe aktuell keine Stimmen denen es wirklich darum geht, wie die Menschen in Israel oder Palästina leben und welche Probleme es dabei gibt. Ich sehe Raketen, Panzer, Steine, Gewehre. Ich sehe Kampf um Resourcen und die Zerstörung von Infrastruktur, die für die Menschen wichtig ist. Und frage mich, wie kann ein Linke darüber streiten, welche Waffen im Recht sind oder welche Fahnen geschwungen oder verbrannt werden dürfen.

    Was aber am wenigsten etwas bringt, zu denken das ein Schuld-Katechismus die Positionierung einfacher machen würde. Damit stellt man sich lediglich in die Reihe derer, die sich der Wahrheit unterwerfen wollen und verkennt, das diese nicht endgültige Deutung hat wie man sie aus der Bewertung des Holocaust folgern könnte. Was Lager und Selektion angeht sollten wir genauer in die Gegenwart schauen, als in die Vergangenheit. Zumal demnächst sowieso niemand mehr lebt der die Zeit des Holocaust in Erinnerung hat oder gar daran beteiligt war.

    Man sollte sich als Linker eigentlich klar sein das in der Welt in der wir leben, es immer darum geht, dass Strukturen der Macht erhalten bleiben und alle Konflikte nur innerhalb dieser Strukturen entstehen. Die Menschen an sich wollen keine Kriege und Kämpfe.

    Erfolgreich kann die Linke nur sein, wenn sie ihren Fokus auf die Bedürfnisse der Menschen richtet und sich nicht mit den Kämpfen der Mächtigen beschäftigt. Aber in Europa gibt es diesen Fokus aktuell nicht. Hier ist die Linke mittlerweile völlig verstrickt in diesen und den Propagandaschlachten, welcher Moral die bessere ist. Was zu einer immer größeren Zerrisenheit der Basis führt, wie auch die letzten Wahlen gezeigt haben. Immer mehr zweifeln daran, dass es eine Linke Partei gibt, die in ihren Interesse handelt.

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