Als sich Anfang 2020 die Verbreitung des neuen Coronavirus Sars-CoV2 zu einer Pandemie entwickelte, konnte man fasst glauben, es würde sich etwas an den Dogmen des Neoliberalismus ändern, zumindest im Gesundheitsbereich. Angela Merkel, Emanuel Macron und andere Regierungschefs sprachen plötzlich davon, dass die damals noch ersehnten und inzwischen existierenden Impfstoffe gegen Covid19 ein „globales öffentliches Gut“ sein und weltweit gleichberechtig verteilt werden müssten.
Mit Covax wurde ein Programm der UNO-Weltgesundheitsorganisation WHO geschaffen, das bis Ende 2021 zwei Milliarden Impfdosen vor allem an Länder des globalen Südens ausliefern soll.
Ein Jahr später sieht die Bilanz mehr als ernüchternd aus und die großen Reden wirken wie bloßes Geschwätz. Im Januar rechnete WHO-Generalsekretär Tedros Adhanom Ghebreyesus vor, dass in 49 wohlhabenden Staaten bereits 39 Millionen Dosen Impfstoff verabreicht worden seien. In einem der ärmsten Länder der Welt hingegen lediglich 25 Dosen: „Nicht 25 Millionen, nicht 25.000, nur 25.“ Im Mai sah es nicht wesentlich besser aus: 44 Prozent aller Impfdosen waren in die wohlhabendsten Staaten gegangen, die lediglich 16 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. In den ärmsten 29 Staaten waren lediglich 0,3 Prozent angekommen. Viele Länder könnten erst 2022 oder gar 2023 in relevantem Ausmaß impfen.
Die Covax-Initiative klagt über Unterfinanzierung und wird trotz erster erfolgreicher Auslieferungen vermutlich wesentlich weniger bzw. langsamer liefern können, als erhofft. Und während im Mai in den Ländern des globalen Nordens schon über die Impfung der glücklicherweise deutlich weniger durch Covid19 gefährdeten Kinder und Jugendliche diskutiert wird, sind in vielen Ländern des Südens die Risikogruppen und Beschäftigte des Gesundheitswesens noch weit vom Impfschutz entfernt, weshalb WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus die Staaten geradezu anflehte, zunächst für besonders gefährdete Menschen zur Verfügung zu stellen, bevor Kinder geimpft werden.
Leben ist nicht gleich viel wert
All dies zeigt, dass – wieder einmal – nicht jedes Leben gleich viel wert ist. Denn würde solidarisch und international mit vereinten Kräften gehandelt, könnte der Ungerechtigkeit beim Zugang zu Impfstoffen beigekommen werden. Einerseits müssten so schnell wie möglich die Patente freigegeben werden, um alle Produktionskapazitäten ausnutzen zu können. Immerhin sind die USA aus der Allianz der Blockierer ausgeschert und stimmen nach monatelanger Weigerung einer Ausnahmeregelung im Trips-Abkommen der WTO – dem sogenannten Trips-Waiver – zu. Auch das EU-Parlament und die Parlamentarische Versammlung des Europarates haben auf Initiative der dortigen Linksfraktion die Unterstützung des Trips-Waivers gefordert. Deutschland und die Staaten der EU bleiben jedoch bislang hart und stellen die Profite der Pharmaunternehmen über die Gesundheit der Menschen in den ärmeren Ländern.
Doch auch jenseits der Patenfrage hat die Impfpolitik eine klar geopolitische Dimension erlangt. Längst ist der Kampf um die Vakzine auch ein Kampf um Einflusssphären geworden – mit teils absurden Ausprägungen. Denn während die reichsten Länder sich mit Impfstoffen eindecken und die Lockerung der geistigen Eigentumsrechte blockieren, versuchen sie teilweise sogar Lieferungen aus China und Russland zu verhindern. So berichtete die Washington Post darüber, dass die US-Regierung Druck ausübte, damit Brasilien sich dem russischen Impfstoff Sputnik V verweigert – was dann auch geschah. Dass Geopolitik notfalls über Leichen geht, ist keine neue Erkenntnis. Sie wird an dieser Stelle aber erschreckend deutlich.
Kein Impfstoff aus Russland und China
Den Vogel schossen kürzlich die Berliner Grünen ab, als die SPD-geführte Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit mit Russland Gespräche über eine spätere Lieferung des Impfstoffs Sputnik V führen wollte. Dies für den Fall, dass die Europäische Zulassungsbehörde für Arzneimittel (EMA) den Impfstoff für den europäischen Markt zulässt. Durch ein Veto der Grünen Wirtschaftssenatorin Ramona Pop sind die Gespräche dann aber abgebrochen worden. Warum? Die Grünen begründeten ihr Veto explizit mit dem Fall Nawalny, weil aus ihrer Sicht von einer Vereinbarung über den Impfstoff allein Putin und der Kreml profitierten. Das grenzt an unterlassene Hilfeleistung und ist eine inakzeptable Politisierung einer gesundheitlichen Frage.
Auch medial blickt man im Westen größtenteils argwöhnisch auf russische und chinesische Impfstofflieferungen. Sei es als „trojanisches Pferd“ oder „nicht ganz ohne Hintergedanken“ – irgendeine böse Absicht muss doch dahinter stecken, wenn China und Russland ihre Impfstoffe in alle Welt liefern. Wenn wir die Länder des Südens hingegen am langen Arm verhungern lassen, geschieht das aus moralischer Überlegenheit? Mitnichten. So wirkt auch die Verzögerung bei der Zulassung von Sputnik V in der EU politisch motiviert – zumal der Impfstoff bereits in mehreren EU-Ländern zugelassen ist.
Geopolitische Aufladung
Nun hat die geopolitische Aufladung der Impfstoffe auch ganz konkrete Auswirkungen. Denn durch die Kopplung bestimmter Rechte wie beispielsweise der Freizügigkeit in der EU an den Impfstatus, ergeben sich fragwürdige Probleme: Werden auch jenen Menschen die Rechte gewährt, die sich mit anderen, vielleicht noch nicht in der EU zugelassenen Vakzinen haben immunisieren lassen? In Deutschland ist die Regelung der Covid19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung an Impfstoffe gekoppelt, die durch das Paul-Ehrlich-Institut zugelassen sind. An der Wirksamkeit von Sputnik V, das auch schon in mehreren EU-Ländern, im europäischen Kleinstaat San Marino und vielen anderen europäischen Staaten verimpft wird, bestehen kaum Zweifel. Dennoch sind bislang Sputnik-Geimpfte von den Ausnahmen ausgeschlossen.
Diese Politisierung der Pandemiebekämpfung stellt ein großes Problem dar und muss überwunden werden. Gerade bei einem sensiblen Thema wie der Zulassung und Verwendung von Impfstoffen sollte einzig die fachliche Bewertung zählen und nicht (geo)politische Erwägungen. Angesichts der großen Macht der Pharmaindustrie und deren Profitinteressen, ist es legitim und wichtig, bei der Entwicklung und Zulassung von Impfstoffen und Medikamenten kritisch und genau hinzusehen. Totale Transparenz in Bezug auf die Wirksamkeit und die Sicherheit ist entscheidend, um Vertrauen zu generieren und missbräuchliches und gesundheitsgefährdendes Verhalten auszuschließen. Sie würde dazu beitragen, dass gar nicht erst der Verdacht entstehen kann, dass Interessen von Pharma-Unternehmen oder geopolitischen Akteuren tonangebend sind und nicht die Gesundheit. Um diese muss es zuvorderst gehen. Dafür müssen Profitinteressen und Geopolitik hinten angestellt werden.
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