Demokratie im Libanon? Nur mit Schuldenschnitt!

Als ich im Mai 2019 den Libanon besuchte, demonstrierten in der Hauptstadt Beirut Soldaten und Veteranen, denen die Regierung im Finanznotstand ihre Pensionen kürzen wollte. Währenddessen erklärten uns libanesische Politiker ihren Plan für die Überwindung des Haushaltsdesasters, in das eine korrupte Herrschaftselite das Land durch ihre Politik gebracht hat: Scharfe Austeritätsmaßnahmen, höhere Steuern für die breite Bevölkerung und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen sollten das Defizit begrenzen.

Außerdem klagten sie immer wieder über die Belastung durch die bis zu 1,5 Millionen syrischer Kriegsflüchtlinge im Land, die allerdings keinerlei materielle Unterstützung seitens des libanesischen Staates erhalten, sondern im Gegenteil den Zusammenbruch der libanesischen Wirtschaft durch ihre Konsumausgaben und ihre billige Arbeitskraft möglicherweise um Jahre hinausgezögert haben.

Im Jahr 2019 hat das Parlament erstmals seit 9 Jahren überhaupt einen Haushaltsplan aufgestellt, eine der Bedingungen, die der Internationale Währungsfonds, die EU und Saudi-Arabien gestellt hatten, um dem Land weitere Kredite zu bewilligen.

Der Libanon befindet sich schon lange in einer tiefen Wirtschaftskrise. Die Staatsschulden betragen 150% des Bruttoinlandsproduktes und könnten bis 2030 auf 180% ansteigen. Ohne die Rücküberweisungen und Geldanlagen der etwa 10 Millionen Auslandslibanesinnen und geschickte Tricksereien der Banken, die mit hohen Zinsen Anleger anlocken, wäre das Land schon längst bankrott gewesen. Ohne nennenswerte Realwirtschaft bleibt der Libanon abhängig von Importen, vom Bankgeschäft und von Krediten der internationale Geldgeber.

Beobachterinnen und Beobachter sehen einen engen Zusammenhang zwischen dem dysfunktionalen politischen System des Libanon und der Krise, weswegen auch die Proteste sich nicht nur gegen einzelne politische Maßnahmen, sondern gegen die gesamte Regierung und alle Parteien richtete. Das libanesische politische System ist für Außenstehende schwer nachzuvollziehen. Es ist eine Art Kastensystem, in dem die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft entscheidend ist für den Zugang zu Bildung, Arbeit, sozialen Leistungen und politischer Teilhabe. Nach dem Ende des Bürgerkriegs 1990 wurden die zentralen Entscheidungsfunktionen zwischen den Religionen aufgeteilt: So ist der Ministerpräsident immer ein Sunnit, der Parlamentspräsident ein Schiit und der Präsident ein Christ. Es gibt kein ziviles Familien- und Erbrecht, kein staatliches Sicherungssystem bei Arbeitslosigkeit oder Krankheit, für all diese Fragen sind die Religionsgemeinschaften zuständig. Bei einem meiner Besuche sagten mir selbst Atheisten, dass sie sich offiziell einer Religion zuordnen müssen, um nicht vollständig ohne soziales Netz zu sein. Die reichen Familien hingegen nutzen den Staat als Selbstbedienungsladen und schieben Verwandten und Freunden hemmungslos lukrative Jobs oder Aufträge zu. Gerade der zurückgetretene Ministerpräsident Saad Hariri und seine Familie sind dafür beispielhaft: Nach dem Bürgerkrieg hat sich die Familie Hariri die gesamte Altstadt von Beirut unter den Nagel gerissen und ohne Rücksicht auf alteingesessene Familien und Geschäftsinhabende ein neues Beirut aus Glas, Stahl und Beton errichtet, dessen hohe Mieten zu massiven Leerständen führen. Gleichzeitig ist Saad Hariri Hauptaktionär der BankMed, die sich durch hochverzinsliche Staatsanleihen und niedrige Steuern ihr Geschäftsmodell subventionieren lässt. Familien wie die Hariris gibt es nicht nur unter Sunniten, sondern auch unter Schiiten, Christen oder Drusen. Die libanesische Gesellschaft ist eine Oligarchie, eine Herrschaft weniger Familien, auf der Basis einer religiösen Segmentierung.

Der Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens hat all dies schwer geschadet. Nirgendwo in der Region sind die öffentlichen Dienste wie Nahverkehr, Wasser- und Energieversorgung oder Müllentsorgung so teuer und so desolat wie im Libanon. 

Die Proteste unter dem Zeichen der libanesischen Nationalflagge sind nicht nur ein Aufstand gegen die Sparpolitik auf dem Rücken der Bevölkerung, sondern auch ein Versuch, gemeinsame Klasseninteressen über die religiöse Spaltung zu stellen. Das ist immerhin ein Hoffnungsschimmer. Auch, dass die Protestierenden explizit nicht die syrischen (überwiegend sunnitischen) Flüchtlinge zu Sündenböcken machen, lässt hoffen.

Allerdings darf man nicht vergessen, dass jede neue Regierung, ob aus eingesetzten „Technokratinnen und Technokraten“ oder aus Neuwahlen hervorgegangen, die in Jahrzehnten aufgelaufenen ökonomischen und finanziellen Probleme des Libanon quasi erben würde. Eine Demokratisierung und Säkularisierung des Libanon und die Überwindung der wirtschaftlichen Probleme ist ohne einen Schuldenschnitt nicht denkbar. Die Menschen im Libanon haben den ersten Schritt zur Ablösung der korrupten Politikerkaste gemacht. Jetzt sind die internationalen Geldgeber dran: so oder so werden sie ihre Kredite nicht zurückbekommen und die Zinszahlungen fressen den Haushalt des kleinen Landes auf. Einen erneuten Bürgerkrieg will im Libanon niemand. Ob er zu verhindern ist, entscheiden nicht zuletzt die internationalen Geldgeber und Einflussnehmer. Auch die Bundeswehr ist noch immer im Rahmen des UNIFIL-Einsatzes im Libanon stationiert. Die Bundesregierung muss jetzt ihre Verantwortung wahrnehmen und sich für einen Schuldenschnitt für den Libanon unter einer demokratisch gewählten, inklusiven neuen Regierung stark machen.


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