Am 16. August 2020 wurde der langjährige malische Präsident Ibrahim Boubacar Keita (IBK) aus dem Amt geputscht. Wie es dazu kommen konnte und welche Verantwortung die Bundesregierung und ihre internationalen Verbündeten tragen, erklärt Christine Buchholz anlässlich des Jahrestags des Militärputsches vom August 2020.
Massenbewegung als Gefahr für IBK
Die Sammlungsbewegung »Bewegung des 5. Juni« (Mouvement du 5 Juin – Rassemblement des Forces Patriotiques, M5-RFP) forderte im Jahr 2020 monatelang den Rücktritt des damaligen Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta. Neben der Koordinierungsstelle der Bewegungen, Vereine und Sympathisant*innen von Mahmoud Dicko (CMAS) umfasste das Bündnis Vertreter und Vertreterinnen der globalisierungskritischen Bewegung wie etwa den Regisseur Cheikh Oumar Sissoko, den Anti-Korruptions-Aktivisten Professor Clémént Dembélé sowie den Vorsitzenden der Partei Solidarité africaine pour la démocratie et l’indépendance (SADI), Oumar Mariko, einer Schwesterpartei der LINKEN.
M5-RFP rief zu Aktionen zivilen Ungehorsams auf. Straßensperren legten den Verkehr lahm, während Streiks Schulen, Gesundheitswesen und Justiz zum Erliegen brachten. Die Antwort der Regierung war Repression: Die von Frankreich aufgebaute und durch die EU-Ausbildungsmission EUTM Mali trainierte Antiterroreinheit Force spéciale antiterroriste (FORSAT) eröffnete das Feuer auf Zivilisten. Mindestens 14 Menschen verloren dabei ihr Leben.
Am Mittag des 18. August 2020 nahm die später als »Nationalkommittee zur Rettung des Volkes« agierende Militärjunta um den Oberst Assimi Goita Präsident Ibrahim Boubacar Keïta und Premierminister Boubou Cissé fest. Schnell verkündete der Junta-Sprecher Ismael Wagué, bis dahin Vize-Stabschef der Luftwaffe, es handele sich nicht um einen Coup d’État, sondern um einen Coup de Tete – gestürzt worden sei der Präsident als eine Person, die nur ihr Eigeninteresse und nicht den Staat verkörpert habe. Die Militärjunta verkündete, sie habe das Werk der Oppositionsbewegung »vollendet«.
Das Militär griff in einem Moment nach der Macht, in dem die herrschende Ordnung von einer starken Bewegung in Frage gestellt wurde. Anstatt jedoch das Werk der Bewegung zu »vollenden«, setzte sich das Militär an deren Spitze, um sie einzuhegen. Mit dem Putsch vom 18. August verhindert das Militär eine weitere Radikalisierung und Zuspitzung der Massenproteste.
Das verdeutlicht auch die Positionierung der Junta gegenüber der sogenannten Internationalen Gemeinschaft. Mit der UN-Mission MINUSMA, EUTM Mali und Operation Barkhane wolle man weiterarbeiten. So kommt die Beschreibung der CNSP als »Realo-Putschisten« von Charlotte Wiedemann nicht von ungefähr. Ihrer Einschätzung nach wollen die CNSP »innenpolitisch aufräumen und an größeren Kräfteverhältnissen nicht rühren«. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass sämtliche Putschisten in Deutschland, Frankreich und den USA ausgebildet wurden.
Ziviler Übergang ist eine Farce
Dessen ungeachtet war die erste Reaktion der sogenannten internationalen Gemeinschaft auf den Putsch im August 2020 feindselig. Für sie markierte der Militärputsch ein Desaster. Die deutsche Bundesregierung verurteilte die Vorgänge und forderte alle Seiten auf, zur »verfassungsmäßigen Ordnung« zurückzukehren. Aufgrund der Teilnahme des Prediger Mahmoud Dicko wurde in deutschen Medien und auch von der Bundesregierung das Bild einer religiös geprägten Bewegung gezeichnet. Doch diese Bild verschleiert, dass die Formierung von M5-RFP ihren Ursprung in den seit Jahren stattfindenden gewerkschaftlichen Kämpfen hat. In den verschiedensten wirtschaftlichen Sektoren – beispielsweise in Schulen und in Goldminen – sowie den immer wieder stattfindenden Straßenprotesten bildete sich eine breite oppositionelle Bewegung.
Die westafrikanische Staatengemeinschaft ECOWAS erließ Sanktionen, um ihrer Forderung nach einer Übergangsphase von einem Jahr Nachdruck zu verleihen. Alle Land- und Luftgrenzen wurden geschlossen, Finanztransaktionen gestoppt und alle Wirtschafts- und Handelsströme zwischen den Mitgliedsstaaten und Mali lahmgelegt. Ausgenommen davon waren Grundnahrungsmittel, Medikamente, und Produkte die zur Behandlung von Covid-19 eingesetzt werden sowie Erdölprodukte. Dies hatte gravierende Folgen. Die Importe gingen um 30 Prozent zurück.
Im ganzen Land fanden Beratungen unter Beteiligung zivilgesellschaftlicher Gruppen statt. Die Protestbewegung machte immer wieder klar: Das, was »verfassungsmäßige Ordnung« genannt wird, ist eine Farce. Der malische Staat ließ die Menschen im Stich und erlaubte ihnen keine Gestaltungsmöglichkeiten. Auch die ECOWAS besaß keine Glaubwürdigkeit in Sachen Demokratie.
Letztendlich kam es zu einem Ausgleich zwischen ECOWAS und der Militärjunta: Sie vereinbarten einen 18-monatigen Übergang. Für diese Zeit sind die Sanktionen aufgehoben und Mali erhält seinen Mitgliedsstatus in der ECOWAS zurück. Zentrale Positionen wie das Amt des Vizepräsidenten, das Amt des Verteidigungsministers und des Ministers für Nationale Versöhnung besetzten Putschisten.
Während die Bundesregierung den politischen Übergangsprozess in Mali lobte, wurde im Land selbst von der »Kolonialisierung« der Staatsapparate durch das Militär gesprochen. Zahlreiche Militärs setzte die Junta als Gouverneure ein. Als im Mai 2021 der Direktor des größten Krankenhauses im Land durch einen Militär ersetzt wurde, kam es erneut zu Protesten. Der Druck der ECOWAS und ihrer internationalen Partner legitimierte den Machtanspruch des Militärs, während er die zivile Opposition marginalisierte.
Im Lager der Opposition traten Widersprüche offen zutage, die zuvor durch den gemeinsamen Fokus auf den Rücktritt IBKs verdeckt waren. Das Bündnis Mouvement démocratique et Populaire (Demokratische Volksbewegung, MDP), bestehend aus Bürgerinitiativen und linken Parteien, darunter auch die Linkspartei SADI, trat aus M5-RFP aus. Im Zentrum der Kritik der MDP stand, dass die Übergangsregierung nicht mit der internationalen Gemeinschaft und ihren Militäreinsätzen bricht. Der durch starken Druck von außen geprägte Übergang habe dazu geführt, dass »alle sozialen und politischen Forderungen unbeantwortet geblieben« seien. Auch die Bewegung um Imam Dicko ist nicht mehr länger Teil der Bewegung.
Widerstand von unten – Proteste und Streiks
Die Übergangsregierung unter Staatschef Bah N’daw und seinem Vizepräsidenten, dem Oberst Assimi Goita stand von Anfang an unter Druck. Die soziale Lage verschärfte sich, nicht zuletzt auch wegen der Corona-Krise. Die angeordneten Grenzschließungen und die Krisentendenzen auf dem Weltmarkt raubten den Menschen weitere Lebensgrundlagen. Es formierte sich eine soziale Front, die ihren Forderungen mit Streiks und Protesten, etwa gegen zu hohe Lebensmittelpreise, Ausdruck verlieh.
Im Dezember rief die Nationale Arbeitergewerkschaft von Mali (UNTM) zu einem landesweiten Generalstreik auf. Ab dem 17. Mai bestreikten die Arbeiterinnen und Arbeiter für fünf Tage das ganze Land. Die Gewerkschaft forderte unter anderem Lohnerhöhungen und 20.000 zusätzliche Stellen in der Verwaltung. Dabei legten die Streikenden auch Banken und den öffentlichen Dienst lahm. Der Streik war ein riesiger Erfolg. Auch Teile der Gold- und übrigen Bergbauindustrie – die Hauptexportzweige Malis – waren betroffen. Im Vorfeld warnten Ökonomen vor den massiven Folgen für die Wirtschaft des Landes und schätzten, dass der Streik einen »Verlust von schätzungsweise mehr als zwanzig Milliarden CFA-Francs« (rund 30 Millionen Euro) bedeute.
Proteste und anhaltende Streiks führten dazu, dass der Übergangspräsident die Regierung am 14. Mai auflöste. Die internationale Gemeinschaft erhöhte den Druck auf die Regierungsspitze. Bei der Regierungsumbildung sollten die Militärs der Militärjunta durch höherrangige Militärs ersetzt werden. Weil sich die Militärs um den ehemaligen Putschistenführer und alten und neuen Vizepräsidenten Assimi Goita nicht ausreichend bei der Regierungsbildung berücksichtigt fanden, intervenierten sie und nahmen Übergangspräsidenten Bah N’Daw und Übergangspremierminister Moctar Ouane fest. Der Putschistenführer Assimi Goita erklärte, die Übergangsregierung habe einen Zustand der »allgemeinen Verwirrung, markiert durch fortdauernde Streiks« verwaltet. Das malische Militär verwies in seiner Begründung für das undemokratische Eingreifen auf den unbegrenzten Streik, den die Nationale Arbeitergewerkschaft von Mali (UNTM) angekündigt hatte. Dadurch drohe die »malische Wirtschaft effektiv« zu ersticken.
Der zweite Militärputsch war erneut ein Schachzug, um den Widerstand von unten gegen die soziale Krise und einen als undemokratisch empfundenen Übergangsprozess einzudämmen. Die UNTM setzte ihren unbefristeten Streik im Nachgang des Putsches aus und nahm damit der Streikbewegung den Wind aus den Segeln. Mit dem zweiten Putsch innerhalb eines Jahres vom 25. Mai 2021 unterstrich die Militärjunta, wer im sogenannten Übergangsprozess die Zügel in der Hand hielt.
Die Krisen bleiben ungelöst
Berlin und Paris geht es bei ihrer Mali-Politik letztlich um einen verlässlichen Partner für die militärische Zusammenarbeit. Dieser Partner ist zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres abhandengekommen. Deutschland hält seine Bundeswehr-Soldaten ungeachtet des offensichtlichen Scheiterns des militärischen Ansatzes im Land. Dieses Scheitern wird durch den Anschlag auf Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr unterstrichen. Die Zusammenarbeit – ob mit IBK oder Goita – wird nicht infrage gestellt, das malische Militär weiter ausgebildet.
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Frankreich nutzt die Gunst der Stunde und kündigt die Neuorientierung des französischen militärischen Engagements in der gesamten Sahel-Region an. Militärbasen in Nordmali sollen bis 2023 geschlossen werden. Niger soll künftig stärker als Dreh- und Angelpunkt des »Kampfes gegen den Terror« genutzt, europäische und regionale Armeen sollen stärker eingebunden werden.
Das letzte Jahr hat uns vor Augen geführt: Die Militarisierung der Sahel-Region stärkt militärische Akteure. Sie führt dazu, dass der Handlungsspielraum für zivile Oppositionsgruppen, Gewerkschaften und linke Kräfte enger wird. Die Streiks und Massenmobilisierungen zeigen, dass es in der malischen Bevölkerung ein Potential gegen die herrschende Klasse Malis gibt. Diese Menschen wollen ein soziales, gerechtes und friedliches Mali. Ihr Handeln wird entscheidend für eine Perspektive für die Bevölkerung in Mali. Die Bundesregierung, die französische Regierung und ihre Partner haben hingegen wiederholt bewiesen, dass es ihnen darum ausdrücklich nicht geht. Ihr Drängen führte dazu, dass das Militär wiederholt gegen den Widerstand von unten intervenierte.
Die Bundeswehr muss endlich aus Mali abziehen!
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