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Kursk: Eine neue Stufe im Krieg gegen die Ukraine

Das Vorrücken ukrainischer Soldaten in russisches Grenzgebiet markiert eine neue Stufe im Krieg Russlands gegen die Ukraine. Der Krieg wird damit „in das Gebiet des Aggressors verlagert“, gibt der ukrainische Präsident Wolodomyr Selenskyj zu. In ukrainischen Nachrichtenportalen argumentiert man noch ehrlicher. Dort heißt es, die Verlagerung des Krieges auf russischen Boden sei ein wichtiger strategischer Schritt zur Destabilisierung des russischen Energiesystems.

Die Region Kursk ist also nicht zufällig ausgewählt. Dort befindet sich die Stadt Sudscha. Sie beherbergt die letzte Gasstation, von der aus russisches Gas über die Ukraine nach Europa geleitet wird. 14 Milliarden Kubikmeter sind es im Jahr. Sie gehen nach Tschechien, in die Slowakei, nach Österreich oder Ungarn. Obwohl der Transitvertrag mit Russland der Ukraine hohe finanzielle Einnahmen beschert, hat Selenskyj kein Interesse daran, ihn über das Jahr 2024 hinaus zu verlängern. Glaubt man der ukrainischen Berichterstattung, dann haben die ukrainischen Truppen nicht nur die Stadt Sudscha, sondern auch eine Messstation der Gaspipeline erfolgreich erobert, was enorme Auswirkungen auf die Gasversorgung insbesondere für den Osten Europas haben könnte.

Zu fragen wäre nun, ob die Strategie, die russische Kriegsführung über die Destabilisierung der Energieinfrastruktur zu schwächen, auf die Erdgasinfrastruktur beschränkt bleiben wird. Denn neben Gas nimmt auch die Atomenergie eine wichtige Rolle bei der Energieversorgung des Landes ein. Russland versorgt sich zu knapp einem Fünftel mit Atomstrom und ist darüber hinaus aktiv mit der Weiterentwicklung der Kernenergie beschäftigt. 

Eines der 36 russischen Atomkraftwerke steht in der Region Kursk, in der Nähe der Stadt Kurtschatow, nur etwa 100 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. Die Internationale Atomenergieorganisation (IAEA) hat bereits vor möglichen Beschädigungen des AKW durch die Kämpfe gewarnt und alle Seiten zu größtmöglicher Umsicht aufgefordert. Auch die russische Atomenergiebehörde Rosatom warnte, die Gefahr von Angriffen der ukrainischen Armee auf das AKW sei „real“. 

Die Entwicklung zeigt, wie schnell die gefährliche Eskalationsspirale, die der Westen durch seine Strategie der permanenten Waffenlieferungen in Gang gesetzt hat, außer Kontrolle geraten kann. Ob es der Ukraine mit westlicher Unterstützung gelingt, den Krieg dauerhaft auf russisches Territorium zu verschieben und sich daraus möglicherweise gar ein Krieg der NATO gegen Russland auf russischem Boden entwickelt, wird sich zeigen. 

Dass es aber bereits die ersten Meldungen über deutsche Schützenpanzer in Kursk gibt, ist mit Blick auf die deutsche Geschichte ein mehr als unappetitlicher Fakt: 80 Jahre nach dem insbesondere für die Rote Armee und die sowjetische Bevölkerung so verlustreichen Ende des Zweiten Weltkrieges kämpfen also wieder deutsche Panzer auf russischem Territorium?

Wenn man bedenkt, wie zurückhaltend die Bundesregierung ihre Kritik am Vorgehen Israels im Gazastreifen mit Blick auf die deutsche Geschichte formuliert, wirft die mangelnde diplomatische Zurückhaltung gegenüber Russland viele Fragen auf. So wiederholte eine Sprecherin von Bundeskanzler Olaf Scholz, die von einem Eisatz deutscher Waffen in Kursk nichts gehört haben will, fast mantraartig: „Deutschland steht fest an der Seite der Ukraine und ist der größte Unterstützer der Ukraine in Europa, finanziell, wirtschaftlich und auch militärisch. Wir werden die Unterstützung so lange fortsetzen, wie dies notwendig ist.“ Beschwörungsformeln statt Erkenntnisse, um auch weiterhin das erhebliche Eskalationsrisiko außer Acht zu lassen, das in der Strategie von Waffenlieferungen liegt? 

Dabei ignoriert die Bundesregierung auch, wie sehr sich die deutsche Diskussion über Waffenlieferungen radikalisiert hat. Unmittelbar nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine stemmte sich Bundeskanzler Olaf Scholz noch wochenlang gegen die Lieferung sogenannter schwerer Waffen. Aus gutem Grund gab er Panzerabwehr- und Luftabwehrwaffen den Vorrang vor Leopardpanzern oder Kampfjets. Inzwischen hat Deutschland der Ukraine mindestens 18 Leopard-Kampfpanzer und 120 Schützenpanzer vom Typ „Marder“ geliefert, Luftverteidigungssysteme, Drohnen sowie weitere Rüstungsgüter. Außerdem hatte die Bundesregierung der Ukraine nach langer Debatte Ende Mai erlaubt, von ihr gelieferte Waffen gegen Ziele in Russland einzusetzen. Folgt man zudem den Äußerungen rüstungspolitischer Scharfmacher aus der Opposition wie Roderich Kiesewetter, wird klar, die Diskussion über die Lieferung von Kampfjets ist noch lange nicht vom Tisch. Auch der Debattenvorstoss zur Entsendung von Bodentruppen könnte vor dem Hintergrund der vielen ukrainischen Deserteure schnell wieder Fahrt aufnehmen.

Wirklich besorgniserregend aber ist die Leichtfertigkeit im Umgang mit dem Begriff der nuklearen Abschreckung. Nicht nur der Neoliberale Emmanuel Macron, auch die Sozialdemokratin Katarina Barley fordern diese, als handele es sich um einen harmlosen zwischenstaatlichen Akt. Dass die Stationierung weitreichender Mittelstreckenraketen das nukleare Risiko für Deutschland erhöht, wie Wolfgang Richter herausarbeitete, spielt in der öffentlichen Debatte dagegen kaum eine Rolle.

Scholz hat mit seiner Zeitenwenden-Rede die Büchse der Pandora geöffnet und den militaristischen Kräften in der Bundesrepublik den roten Teppich ausgerollt. Das Risiko größerer, weltkriegerischer Auseinandersetzungen steigt mit jedem Tag, das zeigt der ukrainische Vorstoß in Kursk deutlich. Eine Entwicklung, die nur durch einen außenpolitischen Kurs durchbrochen werden kann, der auf für zwischenstaatliche Abrüstungsabkommen und die Stärkung der Diplomatie wirbt. 

Wenn klar ist, dass Russland über nuklearfähige Iskander-Raketen und Kampfjets mit Hyperschallraketen verfügt, dann besteht die Sicherung des Friedens nicht in der Gegenstationierung gleichartiger Waffen. Die Abrüstungsbemühungen der 80er Jahre haben gezeigt: Waffengleichheit lässt sich auch durch eine Anpassung nach unten herstellen. Eine Regierung, die durch das Grundgesetz auf die Ächtung des Krieges und die Sicherung des Friedens verpflichtet wird, muss aus dieser Eskalationslogik aussteigen und dazu beitragen, dass die Bereitschaft beider Seiten zu Friedensverhandlungen herbeiverhandelt wird. Alles andere führt die Welt weiter an den Rand eines nuklearen Armageddons.

Widerspruch und Widersprüche – eine Kolumne von Ulrike Eifler

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