Angesichts der Geschwindigkeit des heutigen Informationsflusses und der riesigen Informationsmenge in den Massenmedien kann man schnell das Gefühl bekommen, dass es mehr Konflikte denn je gibt, und alle zur gleichen Zeit gleichsam dringlich sind. Demnach kann wohl eine friedliche Auseinandersetzung wie zwischen Katalonien und der Zentralregierung in Madrid nicht mehr Aufmerksamkeit erwarten als die Konflikte, die Bilder voller Gewalt um den Erdball schicken oder Flüchtlingswellen, die Europa erschüttern. Aber vielleicht bedarf trotzdem oder gerade deshalb ein Vorgang wie in Katalonien besonderer Aufmerksamkeit.
Vor nicht ganz einem Jahr, am 09.11.2014, hat in Katalonien eine Volksbefragung stattgefunden, organisiert von Bürgerinitiativen, an der sich 2,34 Mio. Bürger beteiligten und von denen über 80 Prozent für die Unabhängigkeit stimmten – trotz der gerichtlichen Klagen der spanischen Zentralregierung gegen die Abstimmung, gegen die Art der Durchführung, ihre Organisatoren und damit letztlich gegen den Beschluss des katalanischen Parlaments, das seinerzeit in demokratischer Abstimmung mit einer Mehrheit von 79 Prozent eine Bürgerbeteiligung zur Frage der Selbstbestimmung und Sezession Kataloniens eingefordert hatte, und der gleichzeitig von 96 Prozent der Kommunen unterstützt wurde. Aus der ursprünglichen Volksabstimmung wurde schließlich ein symbolischer „Beteiligungsprozess“, da alle anderen Wege einer demokratischen Abstimmung am Nein der Zentralregierung gescheitert waren. Aber auch dieser bürgerliche Beteiligungsprozess wurde vom Verfassungsgericht ausgesetzt und nachträglich als illegal erklärt.
Die Wahlen vom 27. September waren schließlich das Referendum, das nicht anderweitig stattfinden konnte. Es wurden parteiübergreifende Wahllisten erstellt, um das nötige, von den Bürgern geforderte Plebiszit herbeizuführen. Am 27. September stimmten bei einer außergewöhnlich hohen Wahlbeteiligung1 48 Prozent2 für die Unabhängigkeit (gegenüber 39 Prozent der Stimmen dagegen), sodass die Unabhängigkeitsbefürworter mit 72 von 135 eine absolute Mehrheit der Sitze erreichten. Was sie legitimiert, mit der schrittweisen Abnabelung Kataloniens vom spanischen Zentralstaat zu beginnen. Ob man sich mit 48 Prozent der Stimmen dafür als legitim berufen fühlen darf, ist eine Debatte, die nicht nur in Spanien, sondern auch in deutschen Medien geführt wird. Letztlich entscheidet darüber das katalanische Volk, und momentan scheinen die klaren Gewinner der Wahl und damit des Plebiszits diese Legitimität zu genießen.
Trotzdem – oder gerade deshalb – wurden der katalanische Präsident Artur Mas, seine Kultusministerin Irene Rigau und die ehemalige Vizepräsidentin Joana Ortega für ihre Unterstützung der nachträglich vom spanischen Verfassungsgericht als illegal erklärten Volksbefragung vom 9. November 2014 diese Woche vor Gericht geladen. Die Bekanntgabe dieses Termins fand kurz nach den Regionalwahlen statt, weil man – wie es offiziell aus Madrid hieß – die Wahl nicht beeinflussen wollte, was einen klaren Verstoß gegen die Trennung von Justiz und Politik darstellt.
Ausgerechnet der 15. Oktober wurde als Termin für die Einberufung des Präsidenten der katalanischen Regierung angesetzt. Derselbe Tag, an dem vor 75 Jahren ein anderer Präsident Kataloniens, Lluís Companys, nach Auslieferung durch die Gestapo vom Franco-Regime ohne ordentlichen Prozess hingerichtet wurde – als einziger demokratisch gewählter Präsident während des Faschismus. 1990 bat Hans-Dietrich Genscher im Namen Deutschlands um Verzeihung3, eine Geste, die von spanischer Seite trotz mehrerer Anträge der katalanischen Behörden bis heute ausgeblieben ist.
Mit diesem wenig versöhnlichen Schachzug unterstreicht die Madrider Regierung ihre Machtposition und provoziert die Katalanen. Dieses Detail scheint nicht nur ein Zeichen von kolonialer Überheblichkeit, sondern auch eine politische Botschaft an jeden, der es wagen sollte, als eigenständiges politisches Subjekt agieren zu wollen.
Darüber hinaus steht die Frage eines Referendums im Unabhängigkeitslager sowohl für die linksradikale CUP als auch die Mitglieder der Plattform Junts pel Sí („Gemeinsam für das Ja“), die parteiübergreifende Wahlliste aus Linksrepublikanern (ERC), Mitgliedern der liberal-bürgerlichen Demokratische Konvergenz (CDC) und Vertretern von Bürgerinitiativen sowie Intellektuellen, längst nicht mehr zur Debatte. Liz Castro, die internationale Vertreterin der Katalanischen Nationalversammlung (ANC), der Bürgerinitiative, die den „Prozess“ die letzten Jahre vorangetrieben und Druck auf Regierung und Institutionen ausgeübt hatte und deren Ex-Präsidentin Carme Forcadell auf Platz 2 der Liste von Junts Pel Sí kandidierte, hat dies zudem erst kürzlich in ihrer ablehnenden Antwort auf Alex Salmonds Vorschlag einer Vermittlung Schottlands für ein Referendum deutlich gemacht.
Es wäre doch glatte Ironie, wenn Artur Mas, der stets als gemäßigter und verhandlungsbereiter Präsident galt und gerade auf bestem Weg ist, von Madrid außer Gefecht gesetzt zu werden, jetzt vom Verfolgten zum „Retter in der Not“ werden sollte, in der Hoffnung, er würde nach den Generalwahlen einen „Status Quo Plus“ für Katalonien aushandeln. Hier stieße man aber auf einen Irrtum, in dem Glauben, dass Artur Mas kein Unabhängigkeitsbefürworter sei. Gemäßigt und gesprächsbereit zu sein steht heutzutage nicht mehr im Widerspruch zur Forderung einer demokratischen Lösung für eine Sezession, wie unter anderem der Fall Schottlands beweist.
Aber selbst wenn ein „Freispruch“ von Artur Mas noch ein intelligentes Einlenken angesichts der drohenden Radikalisierung der katalanischen Frage wäre, wird es vor den spanischen Gesamtwahlen im Dezember wohl kaum im Interesse der spanischen Regierungspartei sein, in irgendeiner Art Zugeständnisse gegenüber Katalonien zu machen. Der spanischen Regierungspartei, dem Partido Popular (PP), steht ein harter Wettlauf gegen die jungen spanischen Konservativen, Ciudadanos („die Staatsbürger“), bevor, die die Führung des PP ins Wanken bringen könnten. Und der große Hoffnungsträger vom vergangenen Jahr, Pablo Iglesias, Vorsitzender von Podemos hat sich zu schnell auf eine schwache Seite geschlagen: Offensichtlich unterschätzt er die Überlebensfähigkeit des franquistischen Gedankenguts in den Köpfen vieler Spanier, denn wenn jemand im Land das wenigste Vertrauen der Wähler genießt, sind es die linken Kräfte, die immer noch oft per se als „Kommunisten“ abgestraft werden.
Vor dieser gesamtspanischen Gemengelage werden die CUP und Junts pel Sí in Katalonien wie Tolkiens Frodo Beutlin und Samweis Gamdschie geduldig und stetig ihren steinigen Weg weiterverfolgen – mit einem einzigen Ziel klar vor Augen: die Freiheit zu erlangen, um ein neues Land nach ihren Vorstellungen aufzubauen, ein Zukunftsprojekt umzusetzen, das die Chance bieten soll, die Dinge zu verbessern.
Denn neben anderen Gründen für die Unabhängigkeitsbestrebungen wie Identität, Steuerdefizit oder massiver Rezentralisierung scheint dies der Knackpunkt zu sein: Welches Zukunftsprojekt hat Spanien im Gepäck? Gar keins. Doch offensichtlich immer noch die Demütigung Andersdenkender.
Katalonien dagegen würde, wie der irische Wirtschaftswissenschaftler Edward Hugh im Gespräch erklärt, in einigen Jahren junge, qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Nachbarland Spanien gut gebrauchen können. Schließlich haben sich manche der neu entstandenen kleinen Staaten Europas mit wesentlich schlechteren Startbedingungen als die Katalanen zu richtigen Tigerökonomien entwickelt. Gerade Deutschland sollte ein unabhängiges Katalonien begrüßen, denn zu glauben, so Hugh, dass das reformresistente Spanien aus der Krise ist und sich erholen wird, sei ein Trugschluss. Dagegen sei einer der Gründe, warum Katalonien die Unabhängigkeit anstrebe, gerade die Möglichkeit, produktivere Wirtschaftsmodelle umzusetzen, was langfristig zu Stabilität und Wohlstand in Südeuropa führen würde.
Wie auch Tolkien in seinem „Herr der Ringe“ verdeutlicht, sind Umwege und Rückschläge unvermeidbar, ja sogar nötig, um die notwendige Reife und Kraft aufzubringen, sich einem Goliath zu stellen. Und dazu gehört bei aller Friedfertigkeit und Verhandlungsbereitschaft eben auch, irgendwann Tatsachen zu schaffen. Dass dies von Madrid nicht unbeantwortet bleiben wird, wissen die Unabhängigkeitsbefürworter. Bereits vor dem 9. November 2014, als man beschloss, trotz der Aussetzung durch das Verfassungsgericht die Volksabstimmung durchzuziehen, stellte David Fernández von der CUP gegenüber den Vertretern der spanischen Regierungspartei klar: „Wenn Sie mit dem Strafrecht drohen, dann nehmen wir die Konsequenzen auf uns.“ Und im gleichen Sinne äußerte sich damals Artur Mas, als er trotz Drohungen seitens der spanischen Regierung bestätigte, dass die Generalitat zur Abstimmung aufriefe.
Schon beim ersten Plenum des neuen katalanischen Parlaments soll es nun zu Deklarationen des Ungehorsams kommen, die den Beginn des Abspaltungsprozesses eindeutig einleiten würden, auch wenn dieser in der Praxis erstmal eher symbolisch als faktisch wäre. Das wird aber wiederum die spanischen Konservativen nicht davon abhalten, den schon warm gelaufenen Justizapparat unermüdlich einzusetzen.
Die Katalanen kennen die europäische Realpolitik gut. Und die reagiert bekanntlich erst, wenn es richtig kracht.
Krystyna Schreiber. Autorin und Kommunikationswissenschaftlerin.
1 Die Wahlbeteiligung bei den Regionalwahlen in Katalonien 2015 lag bei 77,44 Prozent.
2 Anm. und damit auch prozentual mehr Stimmen als der derzeit mit absoluter Mehrheit in Madrid regierende Partido Popular unter seinem Vorsitzenden Mariano Rajoy bei den letzten spanischen Wahlen erreichte (44,62 Prozent).
3 Im Zentralarchiv des „Departament de Presidència de Catalunya. Fons President Pujol“.
Eine Antwort
Ein guter Text, der die wichtigsten Ereignisse noch einmal zusammenfasst.
Was mich allerdings irritiert ist folgender Satz:
„Gerade Deutschland sollte ein unabhängiges Katalonien begrüßen, denn zu glauben, so Hugh, dass das reformresistente Spanien aus der Krise ist und sich erholen wird, sei ein Trugschluss.“
Herr Hugh scheint diesbezüglich eine etwas naive Sichtweise zu besitzen.
Ich denke nicht, dass Deutschland (bzw. die „Austeritäts-Akteure“) ein großes Interesse hieran hätten.
Sicherlich haben viele der europäischen Länder (deren Regierungen), die heute in der „Krise“ stecken, eine Mitschuld an dieser. Die Autorin verkennt aber, welche Rolle besonders Deutschland hierbei gespielt hat und immer noch spielt. Der zutiefst verschuldete und gelähmte Süden der EU ist gewollt (!). Nicht nur um den „Gläubigern“ „ihr“ Geld zurück zu beschaffen, sondern vor allem um eine deutsche Vormachtstellung in der EU zu festigen. Das gilt sowohl für politische Akteure als auch – und besonders – für das deutsche Kapital.
Ein Katalonien wäre zwar in Relation ökonomisch relativ unbedeutend – das heißt kein Konkurrent für die deutsche Industrie – könnte jedoch, gerade als Land des Südens, ein unangenehmer Akteur werden, sollte es zu einer Unabhängigkeit des Landes kommen, die nicht nur auf dem Papier besteht.
Das heißt kurz gesagt: Von der EUropäischen Führungsmacht abhängige Staaten sind dieser logischerweise allemal lieber als selbstbewusste, unabhängige Staaten, weshalb die „Krise“ in der sich ein großer Teil Europas befindet im Zentrum der Macht auch kaum jemanden traurig macht.