Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sagte am 12. Oktober: „Das Leid und die Not der Zivilbevölkerung im Gazastreifen werden eher noch wachsen. Auch dafür trägt die Hamas mit ihrem Angriff auf Israel Verantwortung.“ Ist denn dieses Leid grenzenlos, weil Sie und Ihre Kollegen im Westen Israel grenzenlose Unterstützung zugesagt haben
Werden Sie hinnehmen, dass 2000 palästinensische Kinder getötet werden? Ist der Tod von 80.000 älteren Menschen, die an Dehydrierung sterben könnten, weil es in Gaza kein Wasser gibt, in Ihren Augen eine legitime Vermehrung von Leid?
Leid und Not werden wachsen
Sie haben auch gesagt: „Unsere eigene Geschichte, unsere aus dem Holocaust erwachsene Verantwortung macht es uns zur immerwährenden Aufgabe, für die Existenz und für die Sicherheit des Staates Israel einzustehen.“ Aber Scholz, zwischen diesem Satz und dem oben Zitierten gibt es einen Widerspruch!
„Das Leid und die Not … werden eher noch wachsen“ ist ein Blankoscheck für ein verletztes und versehrtes Israel, hemmungslos loszuschlagen, zu zerstören, zu töten und zu riskieren, uns alle in einen regionalen Krieg, wenn nicht sogar in einen Weltkrieg hineinzuziehen, der Israels Sicherheit und Existenz aufs Spiel setzen würde. „Verantwortung, die aus dem Holocaust erwächst“ bedeutet doch, alles nur Erdenkliche zu unternehmen, um einen Krieg zu verhindern, der zu Verheerungen führt, die zu Kriegen führen und das Leiden in einem endlosen Kreislauf vermehren.
Das habe ich von meinem Vater gelernt, einem Überlebenden der deutschen Viehwaggons. Jedes Mal, wenn ich 1992 mit Berichten über die israelische Repression aus Gaza zurückkehrte, hat er mir gesagt: „Ja, das ist kein Genozid, wie wir ihn mitgemacht haben, aber für uns endete der nach fünf oder sechs Jahren. Für die Palästinenser geht das Leiden immer weiter, schon jahrzehntelang.“ Es ist eine nie endende Nakba.
Ihr Deutschen habt schon längst eure „aus dem Holocaust erwachsene Verantwortung“ verraten – eure Verantwortung, die unter anderem aus der Ermordung der Familien meiner Eltern und aus dem Schmerz der Überlebenden erwächst. Ihr habt sie mit eurer vorbehaltlosen Unterstützung eines Israel verraten, das besetzt, kolonisiert, den Menschen Wasser vorenthält, Land raubt, zwei Millionen Bewohner Gazas in einem überfüllten Käfig gefangen hält, Häuser demoliert, ganze Gemeinden aus ihren Häusern vertreibt und Siedlergewalt unterstützt.
Und all das geschieht im Namen eines sogenannten Friedensabkommens, das ihr und andere Politiker des Westens begrüßt habt. Ihr habt Israel erlaubt, dieses Friedensabkommen in seiner europäischen Auslegung zu verletzen – als einen Weg zur Schaffung eines palästinensischen Staates in den Grenzen der von Israel 1967 besetzten Gebiete, den viele Palästinenser nur deswegen unterstützen, um weiteres Leid und Blutvergießen zu verhindern
Es gibt genügend Diplomaten und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die darüber berichten, wie Hunderttausende junger Palästinenser als Folge der arroganten Unterdrückungsmaschinerie und der Ermordung von Zivilisten durch Israel – manchmal kleinklein, manchmal in Wellen – jede Hoffnung und jeden Lebenssinn verloren haben. Immer und immer wieder haben palästinensische Menschenrechtsaktivisten davor gewarnt, dass die israelische Politik zu einem Ausbruch unvorstellbaren Ausmaßes führen kann. Auch israelische und jüdische Aktivisten gegen die Besatzung haben euch gewarnt.
Ihr aber seid nie von eurem Weg abgewichen, habt Israel signalisiert, es sei alles in Ordnung – niemand werde es bestrafen oder euch mittels robuster diplomatischer und politischer Maßnahmen beibringen, dass es neben der Besatzung keine Normalität geben kann.
Nein, diese Meinungsäußerung ist keine Rechtfertigung der Mordorgie und des Sadismus der bewaffneten Hamas-Männer. Es ist auch keine Rechtfertigung der begeisterten Reaktionen einiger Palästinenser und anderer, die sich weigern, sich den in ihrem Namen begangenen Gräueltaten zu stellen.
Es ist vielmehr die Aufforderung an euch, die gegenwärtige Kampagne von Tod und Verwüstung zu beenden, ehe Millionen Israelis, Palästinenser, Libanesen und vielleicht sogar Bewohner anderer Länder in der Region in eine weitere Katastrophe schlittern.
Ein Beitrag der israelischen Journalistin: Amira Hass. Amira Hass ist eine israelische Journalistin und Buchautorin. Sie arbeitet seit 1989 als Korrespondentin der israelischen Tageszeitung Haaretz und lebt seit 1997 in Ramallah. Von Hamas-Funktionären erhielt sie 2008 Todesdrohungen und musste aus dem Gazastreifen flüchten.
Zuerst erschienen in der Haaretz, übersetzt von der Soz