© AMDH

Früchte der Verachtung

Massaker an Flüchtlingen in Melilla. Sahrauische Menschenrechtsaktivistin Sultana Khaja im Europäischen Parlament empfangen.

Die Heuchelei der westlichen Staaten in Sachen Menschenrechte liegt einmal mehr vor aller Welt bloß, seit die Marokkanische Menschenrechtsvereinigung (AMDH) und Nachrichtenagenturen am vergangenen Wochenende Videos vom jüngsten Flüchtlingsdrama in Melilla veröffentlichten. „Drama“ dabei ist zu wenig gesagt. Was die Bilder zeigen und unter anderem von Reuters und Middle East Eye (MEE) wiedergegebene Zeugenaussagen bestätigen, war nicht weniger als ein Massaker. Demnach hatten am Freitag geschätzte 2.000 Migranten aus afrikanischen Ländern versucht, die meterhohen, mit Stacheldraht bewehrten Grenzzäune zu der spanischen Enklave im Nordosten Marokkos zu überwinden. Um sie davon abzuhalten, sollen die marokkanischen Grenzpolizisten zunächst Tränengasgranaten eingesetzt haben. Dabei seien den Berichten zufolge zahlreiche Flüchtlinge zu Boden gestürzt. Auch aus nächster Nähe seien auf sie Gummigeschosse abgefeuert worden. Handyaufnahmen aus einem abgesperrten Bereich der Einsatzkräfte zeigen, wie Polizisten blutüberströmte, vielfach leblos scheinende Körper aufhäufen und dabei auf einen Versehrten, der sich noch regt, einprügeln. Laut Auskunft der AMDH seien Krankenwagen daran gehindert worden, die Verletzten zu versorgen.

Weltweite Empörung

Laut ersten Auskünften soll es 27 Tote gegeben haben. Am Montag war von 37 die Rede. Das ist die bisher höchste Opferzahl in einer bis heute nicht abreißenden Reihe solcher verzweifelten Versuche, EU-Territorium zu erreichen. 500 Migranten seien in die Enklave gelangt. Viele seien unmittelbar wieder mit Gewalt zurückgetrieben worden. Solche „heißen Abschiebungen“ verstoßen zwar gegen Menschenrecht, sind aber an den Grenzen zur EU die Regel. Während die Einsatzkräfte begannen, Massengräber auszuheben, verlangte AMDH eine unabhängige Untersuchung. Dieser Forderung schlossen sich auch die Afrikanische Union und der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen an. Die Vertreter Kenias, Gabuns und Ghanas beriefen für Mittwoch eine Sitzung des Weltsicherheitsrats ein.

Während die schockierenden Aufnahmen aus Melilla wie ein Lauffeuer international Verbreitung fanden, lobte der spanische Premierminister Pedro Sánchez das Vorgehen der marokkanischen Sicherheitskräfte in einer öffentlichen Stellungnahme. Es habe sich um einen konzertierten „Angriff auf die Souveränität der spanischen Enklave Melilla“ gehandelt, für den er die „Mafia der Menschenhändler“ verantwortlich machte. Dem widersprach Mohammed Amine Abidar, der Präsident der AMDH in der Melilla benachbarten marokkanischen Stadt Nador: „Die Hauptursache für die neuerliche Tragödie ist die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union in Zusammenarbeit mit Marokko“, hielt Abidar der Infoseite MEE zufolge fest. Dieser Meinung waren auch zahlreiche in Marokko festsitzende Migranten, die laut dem Fernsehsender Africa News am Dienstag in Rabat vor dem Büro des UN-Flüchtlingskommissariats demonstrierten, um endlich Hilfe in ihrer verzweifelten Situation zu erhalten, darunter Überlebende der Katastrophe.

Der Skandal wurde noch durch zwei Faktoren vergrößert: die abstruse Entschuldigung, die sich die marokkanischen Behörden ausdachten, und die weitgehend fehlende Reaktion in Spanien und den westlichen Ländern, für die das Leben von Afrikanern offenbar nichts zählt, während sie Flüchtlinge aus der Ukraine bereitwillig empfangen; der Rassismus darin ist aus dem Abstand unübersehbar. Rabat erklärte kurzerhand Algerien verantwortlich für das Massaker von Melilla, da es angeblich eine zu laxe Migrationspolitik betreibe. Der Vorwurf wurde von algerischer Seite am Dienstag scharf zurückgewiesen. Sogar der spanische Außenminister José Manuel Albares sah sich zu einer entsprechenden Stellungnahme veranlasst, wie die algerische Seite La Patrie News meldete. Marokko befindet sich gerade in einer tiefen Krise. Erst vor wenigen Tagen wurde gemeldet, dass sich das Königreich in Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds über einen neuen Kredit befindet. König Mohammed VI. wiederum scheint gesundheitlich schwer angeschlagen und befindet sich gerade in Paris. Seit längerem sollen im Palais Zustände herrschen, die an das Zarenreich vor dem Untergang erinnern, wie der Journalist Ali Lmrabet erst vor kurzem in einem Beitrag auf MEE über das kuriose Verhältnis des moribunden Monarchen zu dem Kickboxer „Abu Azaitar“, den er dem berühmten Rasputin vergleicht, humoristisch darlegte. Aber wenn es um „Alleinherrscher“ geht, blickt Westeuropa in eine andere Richtung.

Hier geht’s zu unserem Westsahara-Dossier:

Westsahara im Zentrum

Wie wenig in Marokko Menschenrechte zählen, davon konnte am Montag auch die sahrauische Aktivistin Sultana Khaja bei einem Empfang im Europäischen Parlament Zeugnis ablegen. Mehr als ein Jahr lang war sie von marokkanischen Einsatzkräften in ihrem Haus in Boujdour in der besetzten Westsahara mit ihrer Familie unter Arrest gehalten worden. Mehrfach war sie misshandelt und mit dem Tod bedroht worden, bis schließlich vor wenigen Monaten eine als Touristen getarnte Gruppe US-amerikanischer Menschenrechtler es schaffte, zu Khaja vorzudringen, der schließlich erlaubt wurde, zu einer medizinischen Behandlungen auf die Kanarischen Inseln auszureisen. Über das Treffen Khajas mit den Eurodeputierten berichtete der Übersetzer Kenti Bella, der selbst vier Jahre in den Kerkern des Königreichs hatte einsitzen müssen, gegenüber La Patrie News: „Was Soltana Khaja den Abgeordneten sagte, war schrecklich. Alle machten entsetzte und angewiderte Gesichter, als sie ihr zuhörten. Trotz der Tatsache, dass die Delegierten zweifellos viele abscheuliche Dinge gesehen haben, hat die Bestialität des marokkanischen Regimes und sein unermesslicher Sadismus sie bis ins Mark erschüttert und aufgewühlt.“ Dass diese Worte keine Übertreibung sind, unterstreichen die Ereignisse von Melilla.

Zur Erinnerung: Im März hatte das marokkanische Außenministerium Auszüge aus einem Brief veröffentlicht, den der spanische Premier Sánchez an Mohammed VI. geschrieben hatte, um eine seit dem Frühjahr 2021 andauernde Krise mit dem Königreich beizulegen, die sich am Westsahara-Konflikt entzündet hatte, der seit dem Herbst 2020 wieder zu einem Krieg eskaliert ist. In dem Auszug bekennt sich der Regierungschef zu der von Marokko vorgeschlagenen „Autonomielösung“ für das nach dem Völkerrecht zu dekolonisierende Gebiet, was eine Abkehr vom Prinzip der Selbstbestimmung bedeutet; nach UN-Statut haben die Sahrauis ein Recht darauf, über ihre Unabhängigkeit abzustimmen. Im April besiegelte Sánchez seinen einseitigen und mit keinem Koalitionspartner abgestimmten Schritt mit einem Besuch bei Mohammed VI. in Rabat. Seine Rechtfertigung für den Verrat an der Westsahara, für die, rein rechtlich betrachtet, immer noch die „frühere“ spanische Kolonialmacht verantwortlich ist: der Schutz der Enklaven Melilla und Ceuta vor territorialen Ansprüchen Marokkos und die Zusammenarbeit in Fragen der Migration. Nicht nur diese Politik, sondern auch die „Linksregierung“ unter Sánchez darf nunmehr als gescheitert angesehen werden.

Weiterführende Quellen

Zum Flüchtlingsdrama in Melilla:
https://www.middleeasteye.net/news/spain-morocco-melilla-border-refugees-migrants-die
https://www.middleeasteye.net/fr/actu-et-enquetes/maroc-espagne-melilla-migrants-clandestins-frontieres-victimes-enquete
Sánchez zeigt sich ungerührt:
https://lapatrienews.dz/des-politiques-espagnols-denoncent-ses-propos-et-exigent-une-enquete-l-insensible-sanchez-face-a-lhorreur-de-melilla/
Weltweite Reaktionen:
https://lapatrienews.dz/lonu-demande-une-enquete-rapide-sur-le-carnage-de-migrants-africains-des-sanctions-contraignantes-contre-rabat-attendues/
https://www.middleeasteye.net/fr/videos/melilla-vives-reactions-apres-la-mort-de-23-migrants
https://ledesk.ma/enoff/assaut-contre-melilla-la-diplomatie-marocaine-sexplique-devant-les-ambassadeurs-africains/
https://www.elmoudjahid.dz/fr/monde/migrants-africains-tues-par-la-police-marocaine-indignation-internationale-184937
https://www.africanews.com/2022/06/28/morocco-au-and-un-call-for-investigation-into-melilla-tragedy/
Migranten demonstrieren in Rabat:
https://www.africanews.com/2022/06/29/migrants-protest-after-dozens-died-in-attempt-to-cross-into-spanish-enclave-of-mellila/
https://lakome2.com/immigration/275522/
Über Anschuldigungen, dass Algerien hinter der Tragödie stecke:
https://lapatrienews.dz/exclusif-la-patrie-news-entretien-avec-m-amar-belani-drame-de-melilla-le-maroc-fuit-une-nouvelle-fois-ses-responsabilites/
https://lapatrienews.dz/il-pretend-defendre-lalgerie-le-double-jeu-de-jose-manuel-albares/
Marokko verhandelt neuen IWF-Kredit:
https://lapatrienews.dz/accule-par-le-mouvement-social-le-makhzen-sollicite-une-ligne-de-credit-aupres-du-fmi/
https://www.elmoudjahid.dz/fr/monde/makhzen-de-sang-et-de-drogue-184817
Der König und seine Freunde:
https://www.middleeasteye.net/fr/opinionfr/maroc-guerre-palais-royal-freres-azaitar-vieille-garde-securitaire-mohammed-vi-roi
Über den Empfang Sultana Khajas im Europaparlament:
https://lapatrienews.dz/entretien-kenti-bella-interprete-de-soltana-kheya-au-parlement-europeen-le-maroc-torture-assassine-et-ment-comme-il-respire/
https://lapatrienews.dz/info-la-patrie-egerie-de-la-cause-sahraouie-soltana-kheya-recue-demain-au-parlement-europeen/
https://lapatrienews.dz/entretien-kenti-bella-interprete-de-soltana-kheya-au-parlement-europeen-le-maroc-torture-assassine-et-ment-comme-il-respire/
https://lapatrienews.dz/soltana-kheya-recue-au-parlement-europeen-photos-et-videos/

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