Die russische Revolution brachte den am meisten Unterdrückten immense Veränderungen. Socialist Review sprach mit Emma Davis darüber, wie Frauen damals begannen, die Kontrolle über ihr Leben in die Hand zu nehmen und den Kampf anzuführen.
Socialist Worker: Wie lebten Frauen in Russland vor der Revolution?
Emma Davis: Unter den Zaren hatten Kleinbäuerinnen und Arbeiterinnen nahezu keine Rechte. Sie konnten sich nicht scheiden lassen und hatten nahezu keine Eigentumsrechte. Lediglich Frauen der Mittelschicht konnten überhaupt daran denken, ihre Ehemänner zu verlassen. Ehemänner und Väter waren regelrecht angehalten, ihre Frauen zu schlagen. Je mehr der Mann sie schlug, hieß es, umso mehr liebte er seine Frau. Es war üblich, dass der Vater des Ehemannes mit seiner Schwiegertochter Geschlechtsverkehr hatte.
Nachdem 1861 die Leibeigenschaft abgeschafft worden war, begann sich die Situation zu ändern. Millionen waren jetzt ohne Land und sahen sich gezwungen, in Großstädte wie St. Petersburg oder Moskau zu ziehen, um dort Arbeit zu suchen. Als Frauen Teil der Arbeiterschaft wurden, begannen sie, eine gewisse Unabhängigkeit zu erlangen. Diese war jedoch dadurch eingeschränkt, dass sie oft nur ein Fünftel dessen verdienten, was Männern gezahlt wurde; im Durchschnitt erhielten sie die Hälfte. Sie arbeiteten außerdem unter erschreckenden Arbeitsbedingungen, oft vierzehn Stunden am Tag. Von Schwangeren wurde verlangt, dass sie bis zum Zeitpunkt der Geburt arbeiteten. Es gab keine Möglichkeiten, auf der Arbeit zu stillen. Totgeburten am Arbeitsplatz waren an der Tagesordnung. Sexismus und sexuelle Belästigungen waren in den Fabriken üblich und wurden als normal hingenommen.
Die Industriearbeiterinnen begannen jedoch, sich zu organisieren. Sie setzten sich für ihr Recht auf Arbeit und Bildung ein. Sie formten Arbeitskollektive. Im späten 19. Jahrhundert wurden erstmals einige wenige Frauen zum Studium zugelassen. Dies ereignete sich unter Zar Alexander III, einem verhältnismäßig fortschrittlichen Herrscher, der den Forderungen der Frauen mit einigen beschränkten Rechten Zugeständnisse machte. Das erste Mal in der Geschichte Russlands wurde die „Frauenfrage“ zum Thema. Die Arbeiterinnen organisierten sich inzwischen auch am Ort der Produktion. Es kam zu ersten Streiks der Arbeiterinnen, insbesondere in der Textilindustrie, wo sie fast die Hälfte der Belegschaft ausmachten. In den Jahren zwischen 1870 und 1879 fanden 170 Streiks in der Textilbranche statt.
Als Zar Nikolaus II 1894 an die Macht gelangte, hob er all die progressiven Maßnahmen auf, die Alexander III eingeführt hatte. Er griff die Arbeiterbewegung und die bürgerliche Gesellschaft auf breiter Front an. Damit provozierte er eine massive Streikwelle in den Jahren nach 1890, in der viele Frauen führende Rollen spielten. Die russische Revolution von 1905 entfachte an den Protesten der Kleinbäuerinnen gegen den Krieg mit Japan. Sie sahen diesen Krieg als eine Intervention des Zaren, welche zum Tode Tausender Landarbeiter an den Fronten führen würde. Sie randalierten, zündeten Scheunen an und trugen die Revolte in die Großstädte wie St. Petersburg, wo sie in die Revolution überging.
Die Wirkung der Revolution war gewaltig. Es gibt großartige Erzählungen darüber, wie im Zuge der Revolution Frauen überall an Straßenecken über Mutterschutz und Kinderbetreuung debattierten. Alexandra Kollontai, Mitglied der bolschewistischen Partei, machte es sich zur Aufgabe, die Bemühungen der Arbeiterinnen zu koordinieren. Das gesellschaftliche Bild der Frau wandelte sich derweil. Frauen führten den Kampf an, sie wurden durch ihre Rollen geprägt und drückten dem Kampf im Gegenzug ihren Stempel auf, indem sie ihre Forderungen in den Vordergrund rückten. Aus der Revolution von 1905 bildete sich die russische Frauenbewegung. Die Arbeiterinnen hatten im Hinblick auf die Thematisierung von Frauenrechten und Bildung viel erreicht. Die Frauenbewegung führte diese Gewinne mit den Forderungen der bürgerlichen Frauen zusammen, die die Kämpfe der Frauen in Großbritannien und Deutschland um das Wahlrecht verfolgten und nun auch für sich selber das Wahlrecht forderten.
Socialist Worker: Welche Rolle spielten Frauen in der Revolution von 1917?
Emma Davis: Ab 1917 war der erste Weltkrieg die Hauptursache für das Elend der Bäuerinnen und Arbeiterinnen. Allein im ersten Kriegsjahr wurden ungefähr eine Million Russen getötet. Während immer mehr Männer eingezogen wurden, übernahmen Frauen die Arbeit in den Fabriken und auf den Feldern. 1917 machten Frauen fast die Hälfte der Arbeiterschaft in Petrograd aus. Ab ungefähr 1915 brauten sich Streiks zusammen, die im Januar 1917 gleich in einer ganzen Serie von Streiks der Textilarbeiterinnen resultierten.
Die Februarrevolution war in dem Sinne nicht “geplant”, aber erwuchs mit Sicherheit aus der Unzufriedenheit über die Armut, die Arbeitsbedingungen und den Hunger. Die Arbeiterinnen waren diejenigen, die die Revolution als Erste vorantrieben. Am Internationalen Tag der Frau protestierten Textil- und andere Arbeiterinnen, empfanden dies aber nicht als einen Frauenkampf, sondern begaben sich schnurstracks zu den Männern in anderen Fabriken und riefen sie zum Streik auf. So begann die Revolution. Ein Maschinenarbeiter sagte: „Wir konnten Frauenstimmen hören ‚Runter mit den Preisen!‘, ‚Fort mit dem Hunger‘, ‚Brot für die Arbeiter‘. Massen rebellierender Arbeiterinnen füllten die Straße. Wer uns sah, winkte uns zu und rief: ‚Kommt raus! Legt die Arbeit nieder!‘ Schneebälle flogen durch die Fenster. Wir entschlossen uns dafür, mitzudemonstrieren.“ Somit eskalierte der Kampf. Ausschlaggebend war, dass die Streitkräfte sich auf die Seite der Revolution stellten. Arbeiterinnen, viele von ihnen mit Soldaten verheiratet, gingen als erste zu den Soldaten und forderten sie auf, die Waffen niederzulegen. Die Frauen konnten diese Rolle übernehmen, denn sie waren die Schöpferinnen des Kampfes – sie hatten ihn begonnen. Hinzu kam, dass sie aufgrund von Verwandtschaft und persönlichen Beziehungen an die Soldaten appellieren konnten.
Socialist Worker: Wie zentral waren Arbeiterinnen in der Oktoberrevolution?
Emma Davis: Frauen waren ein zentrales Element der Arbeiterbewegung, welche die Basis des Oktoberaufstandes bildete. Ungefähr 40 000 Wäscherinnen streikten im Mai 1917 für Lohnerhöhungen und Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Der Streik nahm jedoch eine politische Dimension an, denn die Streikenden thematisierten ihre Rechte als Frauen. Darüber hinaus breitete sich der Streik von den Fabriken ausgehend aus ins Dienstleistungsgewerbe – zu den Arbeiterinnen in der Gastronomie und in den Wäschereien, den Menschen also, die die für die Industriezentren unerlässlichen Dienste leisteten. Der wichtigste Beitrag der Bolschewiken war ihre Überzeugung, dass die Revolution weitergeführt werden musste. Darin bestand eine dringliche praktische Aufgabe. Lenin kehrte im April 1917 nach Russland zurück und machte es sich zum Anliegen, dafür zu argumentieren, dass, wenn die Arbeiterrevolution den Staat nicht übernehmen könne, der Krieg andauern, und die liberale Übergangsregierung durch üble reaktionäre Kräfte abgelöst werden würde. Um das im Februar Erreichte zu verteidigen, bedurfte es der Oktoberrevolution.
Viele Frauen konnten das schnell akzeptieren, da ihnen ihre Macht bewusst war. In einer Schokoladenfabrik erstritten sie beispielsweise eine einhundertprozentige Lohnerhöhung für Männer, und 125 Prozent für Frauen. Es ist kein Zufall, dass 1917 so massive Fortschritte für Frauen und andere unterdrückte Gruppen brachte. Die Bolschewiken verstanden, dass Revolutionäre die Anwälte der Unterdrückten sein müssen, dass Unterdrückung und Sozialismus nicht zeitgleich existieren können, und dass die Arbeiterschaft als Ganze am Umsturz der alten und Aufbau einer neuen Gesellschaft eingebunden sein muss. Damit dies möglich war, musste dafür gesorgt sein, dass die Barrieren aus dem Weg geräumt wurden.
Besonders bedeutungsvoll waren die gleich zu Anfang der Oktoberrevolution verabschiedeten Dekrete. Die Scheidung wurde legalisiert, so dass eine Frau aus einer Beziehung aussteigen konnte. Die Eheschließung wurde vereinfacht, somit konnte jede Frau über 16 und jeder Mann über 18 heiraten. Es gab sogar Beispiele gleichgeschlechtlicher Ehen. Die Gesetze über Sodomie aus der Zarenzeit wurden abgeschafft, Homosexualität entkriminalisiert. Frauen erhielten die gleichen Erbrechte wie Männer, gleiches Rechte am Arbeitsplatz und gleiche Bezahlung. Bereits im Mai hatten die Frauen das Wahlrecht erhalten, bis 1920 war die Abtreibung legalisiert. Die vorher in Russland weit verbreitete Prostitution war inzwischen so gut wie verschwunden, teilweise, weil die Oberschichten, die die Hauptkunden gewesen waren, fort waren – aber auch, weil die wirtschaftlichen Bedingungen, die Frauen in die Prostitution getrieben hatten, angegangen wurden.
Alexandra Kollontai, Inessa Armand, Nadya Krupskaya und andere führende Bolschewikinnen organisierten direkt nach der Oktoberrevolution eine Konferenz für Frauen, auf der Hunderte ihre Anliegen und Forderungen vorbrachten. Sie benannten Arbeitspausen zum Stillen ihrer Babys, Mutterschutz und Erleichterungen bei der enormen Last, die Hausarbeit für jede Frau darstellte. Kollontai war Kommissarin für Soziales, die einzige Frau im Zentralkomitee. Sie hatte grünes Licht für die Umsetzung dieser Belange. Eine erste Entbindungsklinik wurde eingerichtet, aber in der Nacht vor ihrer Eröffnung von Konterrevolutionären niedergebrannt. Eine wahre Explosion der Liberalisierung wurde direkt von der Konterrevolution angegriffen.
Diese Attacke wurde durch den Bürgerkrieg nur noch verstärkt. Ab März 1918 gab es nicht nur Bürgerkrieg, sondern 14 einmarschierende Armeen, einschließlich derer aus Großbritannien, Frankreich und Deutschland, die der Konterrevolution zu Hilfe kamen. Frauen waren sehr aktiv im Bürgerkrieg, der für sie war es einen Befreiungskrieg darstellte. Das spiegelte sich auch in der Roten Armee, wo ganze Bataillone aus Frauen bestanden – mehr als 70.000 Frauen kämpften im Bürgerkrieg. Sie waren an den Agitationszügen beteiligt, Eisenbahnen, in denen Revolutionäre durch Russland fuhren, um mit Arbeitern zu diskutieren und sie für die Verteidigung der Revolution zu gewinnen. Sie nutzten Film, Theater, Literatur und Flugblätter als Argumentationshilfen.
Im Sommer 1918 war klar geworden, dass der Kampf um die Erschaffung einer neuen Gesellschaft seine Opfer forderte. Kollontai schrieb damals, dass den Frauen zwar auf dem Papier ihre Rechte zugestanden waren, nicht aber in der Realität. Daher hielt man am ersten Jahrestag der Konferenz der Frauen eine weitere solche Konferenz. Einige hundert Frauen wurden erwartet, weit über Tausend kamen. Daraus entstand der Zhenotdel, der Frauenflügel der Bolschewiken. Der Zhenotdel sollte die Details im Leben der Frauen untersuchen, und die kleinen wichtigen Änderungen feststellen, die für Erleichterung sorgen konnten, sowie Bildungsmaßnahmen, die den Frauen die vollständige Teilhabe am Leben der Revolution ermöglichen sollten. Die Organisation basierte auf dem Prinzip der Delegation. Jede Frau konnte am Arbeitsplatz oder am Wohnort gewählt und als Parteiarbeiterin nach Moskau entsandt werden. Sie gingen zu Vorträgen, organisierten vor Ort und nahmen, falls sie nicht lesen konnten, am Alphabetisierungsunterricht teil. Nach drei Monaten konnten sie entweder als Parteiarbeiterinnen in Moskau bleiben oder an ihren Heimatort zurückkehren und dort organisieren.
In ganz Russland wurden Ortsverbände des Zhenotdel eingerichtet. Es war nicht immer leicht; Bolschewikinnen stießen gerade in abgelegeneren Gegenden oftmals auf Feindseligkeit und Sexismus. Um die einzelne Frau auch im Haushalt zu entlasten, richtete man Gemeinschaftsküchen und -wäschereien ein. Schon 1919 waren 90 Prozent der Petrograder Bevölkerung Gemeinschaftsküchen beigetreten. Die Projekte waren weitreichend, sahen sich aber vor vielerlei Herausforderungen gestellt. Das am schwersten wiegende Hindernis war, dass die materiellen Bedingungen zu schwach waren, um die fortschrittlichen Ideen tragen zu können.
Socialist Worker: Sex, Liebe und Revolution?
Emma Davis: 1917 brachte eine sexuelle Revolution mit sich, ein Aufblühen des Experimentierens. Wesentlich war, dass die Unterdrückung der Frau zunehmend nachließ – der Großteil ihrer Schwierigkeiten war bis dahin in der Unterdrückung ursächlich begründet. Die neuen Scheidungsgesetze ermöglichten es Frauen, Beziehungen viel leichter verlassen zu können. Alexandra Kollontai schrieb Erzählungen, die die Veränderungen der Frauen beschrieben. In „Die Liebe der drei Generationen“ sagt Zenya, eine junge Frau, die in der Revolution aktiv gewesen ist, zu ihrer Mutter: „Sobald ich für meinen Partner nichts mehr fühle, entscheiden wir uns gemeinsam für die Trennung und finden danach jemand anderen – oder auch nicht.“ Danach sagt sie, sie plane eine Abtreibung und spricht über ihre Verwirrung darüber, zwei Menschen gleichzeitig zu lieben. Kollontai ist der Ansicht, dass der Kapitalismus die Konzepte der Ehe, des sexuellen Genusses und der „einzig wahren Liebe“ das erste Mal in der Geschichte zusammenfasst. In der Vergangenheit hatte die Familie mit Blick auf Eigentum, Erbrecht und Fortpflanzung eine ausschlaggebende Rolle gespielt; im aufsteigenden Kapitalismus hingegen wurde die eng gefasste nukleare Familie die bevorzugte Lebensweise, gekoppelt mit der Vorstellung der einen wahren Liebe, die ein Leben lang währt.
Dies stand im völligen Gegensatz zu Kollontais Verständnis von der wahren Natur der menschlichen Liebe, die sie vielmehr als Ausdruck von Kameradschaft, Solidarität, Freiheit und freier Wahl begriff. Dass der Staat einem vorschreiben solle, wen man zu lieben oder wie man zu leben habe, empfand Kollontai als wider die Natur. Der Kapitalismus erzeuge dieses Verlangen nach einem unerreichbaren Ziel, der romantischen Liebe. Kollontai beschreibt die daraus resultierende Verzweiflung. Auch heute lässt sich beobachten, wie der Kapitalismus mit der Dating-Industrie und der Hochzeitsindustrie an der Verzweiflung profitiert, die er selber hervorgebracht hat. 1917 wurden in Russland Menschen für eine kurze Zeitspanne die Gelegenheiten geschaffen, mit verschiedenen Lebensstilen und Moeglichkeiten des Zusammenlebens zu experimentieren.
Emma Davis arbeitet derzeit an einem bald erscheinenden Buch mit dem Titel „A Rebel’s Guide to Alexandra Kollontai“.