Die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze spitzt sich immer weiter zu: Tausende Flüchtende wollen über die Grenze zwischen Belarus und Polen in Richtung Deutschland – ein Versuch einer Einordnung der Ereignisse.
Humanitäre Akteur*innen, wie das UNHCR oder andere Nichtregierungsorganisationen wird der Zugang zu den Menschen weiterhin schwer gemacht. Die Menschen an der Grenze verbrachten eine weitere Nacht bei Kälte unter freiem Himmel. Bilder der belarussischen Staatsmedien zeigten Menschen in Decken gehüllt, andere schliefen in Zelten. Schon Ende September gab es erste Tote an der Grenze. Nach Angaben des polnischen Grenzschutzes kam es 2021 zu 33.000 Versuchen eines Grenzübertritts, davon allein 17.000 im Oktober. Auch am 13. November wurde eine weitere Leiche gefunden. Die Lage an der Grenze ist katastrophal und inhuman. Das polnische Militär zieht seine Truppen zusammen. Der Ausnahmezustand wurde verhängt und Schutzsuchende werden zum Spielball der Mächtigen. Die Bilder ähneln denen eines Kriegsgebietes. Und dies alles 700 Kilometer von Berlin entfernt. Die Einordnung der tagesaktuellen Medien lässt dabei zu wünschen übrig. Eine Kontextualisierung der Ereignisse ist aber unbedingt notwendig.
Diktatoren als Türsteher Europas
Die Grenzen der EU sind mittlerweile externalisiert, also ausgelagert auf Nicht-EU-Staaten. Die Migrationskontrolle ist zum wichtigsten Thema der EU geworden. Es sollen Menschen an der Reise nach Europa gehindert werden. Die EU hat militärische und wirtschaftliche Hilfe in Milliardenhöhe bereitgestellt. Sie kooperiert mit autoritären Regimen, die ihre Bevölkerung unterdrücken, und schult deren Polizei und Militär. Zum Beispiel ist die Bewegungsfreiheit in Afrika eingeschränkt und auch die sogenannte Entwicklungshilfe wird umverteilt und an Bedingungen geknüpft: Wer Migration verhindert, bekommt dafür Geld.
Am meisten profitieren europäische IT-Unternehmen sowie Verteidigungs- und Sicherheitsunternehmen. Dies haben Simone Schlindwein und Christian Jakob mit ihrer umfassenden Einführung „Diktatoren als Türsteher Europas. Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert“ 2017 vollumfänglich für den afrikanischen Kontinent dargelegt. Grundsätzlich geändert hat sich nichts. Bereits im März 2016 hat sich diese Politik bereits auf die Türkei ausgeweitet. Auch mit Staaten des Westbalkans wird auf dieselbe Weise kooperiert.
Die Grenzöffnung der Türkei 2020
Diese Strategie der EU sollte spätestens seit Anfang 2020 – neben den moralisch ohnehin abzulehnenden Implikationen – als gescheitert angesehen werden. Der türkische Präsident Erdoğan öffnete damals seine Grenzen, um seinen Angriffskrieg in Nordsyrien fortsetzen zu können. Indem er sich nicht mehr an den Deal mit der EU hielt und seine Grenzen für eine kurze Zeit nicht mehr abriegelte, konnten Flüchtende über den Landweg nach Griechenland und Bulgarien gelangen und auch auf den griechischen Inseln kamen wieder Flüchtende an. Die Erpressung hatte Erfolg: Er bekam freie Hand in Nordsyrien. Die meisten werden sich noch daran erinnern.
Erst Tragödie, dann Farce?
Karl Marx schrieb, „daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. […] [Das] eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“[1] Dieser tragische Vorfall, der jegliche restliche Glaubwürdigkeit der EU untergraben hatte, hätte ein erstes Indiz für die Konsequenzen der Auslagerungspolitik sein können. Nicht nur wurden die Verbündeten Kurd*innen in Nordsyrien dem türkischen Regime ausgeliefert, sondern auch Kriegsrhetorik gegen Schutzsuchende verwendet. Ursula von der Leyen, die derzeitige EU-Kommissionspräsidentin, sprach über Griechenland als „europäischer Schutzschild“. Diese Aussagen stellte eine Tragödie für die Menschenrechte und sogenannten Werte der EU dar.
Anfang Mai 2021 wiederholte sich dies mehr oder weniger: Marokko möchte, dass die EU die marokkanische Souveränität über die völkerrechtswidrig besetzte Westsahara anerkennt. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, stellten marokkanischen Grenzbeamten die Grenzkontrollen zu der spanischen Enklave Ceuta ein. Daraufhin strömen tausende Menschen über die Grenze. Die dramatischen Bilder sind vielen in Erinnerung geblieben.
Alexander Lukaschenko der Diktator, der nicht mitspielt
Nun zu Belarus und dessen Machthaber Lukaschenko. Dieser sagt nach Übersetzung der tagesschau: „Wir werden niemals jemanden aufhalten. Sie kommen ja nicht zu uns. Sie gehen in das aufgeklärte, warme, komfortable Europa. Europa, vor allem Deutschland, wo es nicht genügend Arbeiter gibt, hat diese Leute eingeladen.“ Und weiter: „Ihr stellt uns Bedingungen, auf die wir reagieren müssen. Und wir reagieren, entschuldigen Sie, so, wie wir es können.“ Nach einem verrückten Diktator, wie Lukaschenko gerne dargestellt wird, klingt dies nicht. Natürlich ist schwerstens zu verurteilen, wie das Regime gegen die eigene Bevölkerung vorgeht, aber hier trifft die Wortwahl einen wahren Kern. Erstaunlich präzise klingen diese Worte, denn Lukaschenko spricht das aus, was sich in Deutschland kaum einer traut zu sagen. „Sie [die EU] haben einen hybriden Krieg gegen uns entfesselt und verlangen, dass wir sie nach wie vor beschützen?“ Damit deckt er die Widersprüchlichkeiten der EU-Außen- und Migrationspolitik auf.
Die Folgen der eigenen Politik
Ob das belarussische Regime nun als Schleuser auftritt, was bisher nur Gerüchte sind, oder ob sie Schlicht allen Menschen ein Visum geben, ist erstmal irrelevant. Wer sich mit autoritären Regimen einlässt und diese für seine eigenen Zwecke missbrauchen will, der muss sich nicht wundern, wenn sich diese dann gegen einen selbst richten. Vor allem nachdem wirtschaftliche Sanktionen durchgesetzt worden.
Die Reaktion der EU
Nach Erdoğan und Marokkos König Mohammed VI. ist Lukaschenko nun der nächste Autokrat, der sich die restriktive Migrationspolitik der EU zunutze macht. Dies wäre nicht möglich, wenn es ein anderes Grenzregime geben würde und es für Menschen möglich wäre, auf legalen Wegen in die EU zu gelangen, um Asyl zu beantragen. Leidtragende sind die schutzsuchenden Menschen, die jetzt zwischen der belarussischen-polnisch Grenze feststecken.
Um auf das oben genannte Marx-Zitat zurückzukommen, die Farce besteht nicht in der unmenschlichen Tragödie, dass Menschen nun zwischen der Grenze bei eisigen Temperaturen festhängen, sondern in der Reaktion der EU. Statt die Menschen schnell in Europa oder auch nur Deutschland zu verteilen, reagiert man wieder mit Kriegsrhetorik. Die europäische Menschenrechtscharta wird zur Karikatur ihrer selbst. Die Genfer Flüchtlingskonvention wird von europäischen Politiker*innen lächerlich gemacht.
Die Bösen sind wieder die anderen
Die Lösungsvorschläge von deutschen Spitzenpolitiker*innen sind folgende: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sagte erneut, dass die Gesellschaft die Bilder notleidender Menschen an der Grenze aushalten müsse. Zuvor hatte er schon einen europäischen Mauerbau gefordert. Währenddessen zieht Polen weiterhin Militäreinheiten zusammen. Die Grünen-Parteispitze hatte stattdessen die grandiose Idee, dass Deutschland eine Informationskampagne starten sollte. Die taz schrieb dazu: „Eine derartige Aufklärungsaktion, sollte es sie denn überhaupt geben, dürfte komplett ins Leere laufen. Zumindest ist bislang nicht überliefert, dass sich Menschen, die fest entschlossen sind, ihrer Heimat den Rücken zu kehren, durch Appelle von diesem Vorhaben hätten abbringen lassen.“
Der Noch-Außenminister Heiko Maas (SPD) meinte am 15. September in den tagesthemen, dass man mit dem Asylrecht kreativ umgehen müsse. Mehr fällt der deutschen Politik nicht ein? Immer wieder wird von Instrumentalisierung von Menschen gesprochen, die diese Regime betreiben, um ihre politischen Ziele durchzusetzen. Die Migrationsexpertin und Vorsitzende des Sachverständigen Rates für Integration und Migration, Petra Bendel, sagte dazu im taz-Interview: „Zunächst muss man feststellen, dass die EU auch deshalb in so eine Situation geraten konnte, weil Schutzsuchende keine Möglichkeit finden, auf regulärem Weg in die EU oder andere sichere Länder zu kommen.“
Das Ende der Menschenrechte
Menschenrechtliche Normen und das Grundrecht auf Asyl sowie die Genfer Konvention, die aus der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts hervorgegangen ist, spielen in all diesen Debatten keine Rolle mehr. Es gibt fast nur noch Zugeständnisse an die autoritäre europäische Rechte. Dies zeugt von einer tiefen Hegemoniekrise des europäischen Projekts. Der nach 2015 etablierte Festungskapitalismus, das Projekt der Festung Europa, zeigt immer wieder deutlich, wo es in Zukunft hingehen wird. Ganz vergessen wird dabei, dass es unzählige aufnahmebereite Gemeinden und Städte in ganz Europa gibt, dass Deutschland mit Berlin und Thüringen zwei Bundesländer hat, die sich zum sicheren Hafen erklärt haben. Die radikale Vielfalt der Gesellschaft ist längst Realität und doch dominieren nach wie vor Anti-Migrationsressentiments. Die Leidtragenden von dieser Politik diesmal: Kurd*innen aus dem Nordirak. Eines ist sicher, sie werden nicht die letzten sein, die unter der europäischen Abschottungspolitik leiden.
[1] Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852). In: MEW Bd. 8, S. 115: http://www.mlwerke.de/me/me08/me08_115.htm
Eine Antwort
Der Kommentator macht es sich sehr einfach. Dann soll eben Deutschland die ganzen Wirtschaftsflüchtlinge aufnehmen. Welche Perspektive sollen die denn in Deutschland haben ? Ein Großteil der Wirtschaftsflüchtlinge sind Analphabeten. Die können noch nicht einmal ihren Namen schreiben. Welche Arbeit sollen die denn machen ? Und sollen in den Schwimmbädern wieder Blätter mit Zeichnungen aufgehängt werden ? Zeichnungen, die darauf hinweisen, dass Männer oder Jungen keine Frauen oder Mädchen angrapschen dürfen ? So war es doch 2015. Schon ein 5-jähriger Junge (in Europa geboren) weiss, dass das nicht geht. Und darauf hat die überwiegende Mehrheit der hier lebenden Bevölkerung einfach keinen Bock mehr !