By Sandro Halank, Wikimedia Commons, licensed under CC BY-SA 4.0 (cropped and edited).

Die Zeitenwende unter Finanzierungsvorbehalt?

Es war die Headline, so kurz vor dem Wochenende: Die Bundesregierung halbiert das Budget für Waffenlieferungen an die Ukraine von acht auf vier Milliarden Euro. Der Grund: Es fehlt das Geld. Steht die Zeitenwende nun unter Finanzierungsvorbehalt? Oder reagiert Olaf Scholz vielmehr auf den wachsenden Druck aus seiner eigenen Partei, der sich seit geraumer Zeit insbesondere gegen die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen formiert? Und was heißt das alles für die Friedensbewegung?

Zunächst muss festgehalten werden: Die Ampel ist ein im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis fragiles Bündnis. Während Scholz in der Vergangenheit im Hinblick auf weitere Militärhilfen für die Ukraine oft den Abwägenden gab, was sich besonders in der Debatte um die Lieferung des Taurus-Marschflugkörpers zeigte, folgen FDP und Grüne der Leitidee des Transatlantizismus. Sie bekennen sich zur globalen Führungsrolle der USA, an der Europa und vor allem Deutschland „teilhaben“ sollten. Eine Linie, die im übrigen auch innenpolitisch an die Interessen der eigenen Wählerklientel anschlussfähig ist. Denn die Bereitschaft, die „westliche Ordnung“ mit Waffengewalt zu verteidigen und dabei die Führungsrolle der USA zu akzeptieren, schließt die Verteidigung des „guten Lebens“ der akademisch qualifizierten und grün wie liberal wählenden Mittelklassen mit ein.

Die SPD dagegen reklamiert für sich, nach wie vor die Interessen der abhängig Beschäftigten zu vertreten. Ein durchaus widersprüchliches Unterfangen, wie wir seit langem wissen. Denn einerseits baute Scholz seinen Wahlkampf auf der Erzählung von mehr Respekt vor den Lebensbiografien der hart arbeitenden Menschen auf. Andererseits ging die Politik der Zeitenwende, die Scholz seiner Partei nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine durch hohe Rüstungsausgaben und die militaristische Durchdringung der Gesellschaft aufbürdete, mit enormen Belastungen für die unteren und mittleren Einkommen einher: Steigende Nahrungsmittel- und Energiepreise, die Kürzung der Zuschüsse für die Rentenversicherung, Sanktionsverschärfungen beim Bürgergeld, die Beerdigung der Kindergrundsicherung und nicht zuletzt tarifpolitische Disziplinierungsversuche durch die Konzertierte Aktion.

Es ist daher kein Zufall, dass es in der SPD seit geraumer Zeit grummelt: Insbesondere Fraktionschef Rolf Mützenich hatte mehrfach öffentlich gegen die militaristische Ausrichtung der Regierungspolitik opponiert. Dies wurde zuletzt deutlich, als es lauten Widerspruch von Mützenich, Stegner und anderen gegen die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland gab. Auch in der Bundestagsfraktion scheint die Mehrheit der Abgeordneten diese Kritik zu teilen. Nicht ohne Grund reagierte das alarmierte SPD-Präsidium umgehend und stellte sich mit einem Beschluss demonstrativ hinter Scholz.

Der Beschlusstext dokumentiert, wie weit sich die Parteispitze inzwischen von den Vordenkern sozialdemokratischer  Entspannungspolitik entfernt hat. Für die Genossen sind nur die „Wiedererlangung der Fähigkeit zur Landesverteidigung“ und die „enge Einbindung Deutschlands in die NATO“ die Grundlage für eine dauerhafte Friedensordnung. Die Stationierung nuklear bestückbarer Mittelstreckenraketen ist ihrer Ansicht nach dabei ein zentraler Baustein. „Als SPD übernehmen wir Verantwortung dafür, das kein Kind, das heute in Deutschland geboren wird, wieder Krieg erleben muss“, heißt es pathetisch und unter Ausblendung der besorgten Kommentare führender deutscher Militärs, die vor dem wachsenden Sicherheitsrisiko warnen.

Es zeigt sich also, dass auch die SPD-Spitze die Idee des Transatlantizismus weitgehend verinnerlicht hat. Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat diese Idee auch in der SPD radikalisiert, denn mit der  Zeitenwende hat Scholz das Primat der Sicherheitspolitik ausgerufen und damit die Unterordnung aller Bereiche unter Rüstungsanstrengungen und Bundeswehrmodernisierung verkündet. Ein halbes Jahr später hat er in einer Rede an der Prager Karls-Universität diesen Schritt theoretisch entwickelt und inhaltlich begründet. Überschwänglich lobte er darin Präsident Joe Biden als „überzeugten Transatlantiker“ und machte klar, dass den Europäern bekannt sei, „dass der Blick Washingtons stärker auf den Wettbewerb mit China und den asiatisch-pazifischen Raum“ gerichtet sei. Daraus leiteten sich neue Aufgaben und Verantwortlichkeiten für Europa in der Auseinandersetzung mit Russland ab: Die EU müsse wegen der gewachsenen Konkurrenz- und Machtverhältnisse zwischen den großen Machtblöcken zu einem geopolitischen Akteur unter der Führung Deutschlands werden.

Der Bundeskanzler knüpft damit an eine ideologische Entwicklung in der SPD an, die sich bereits 1999 gezeigt hatte, als ein ebenfalls sozialdemokratischer Bundeskanzler anlässlich des NATO-Angriffskrieges gegen Serbien davon sprach, dass Deutschland endlich aus dem Schatten der Geschichte des schrecklichen 20. Jahrhunderts herausgetreten sei. Und kurze Zeit später proklamierte ein ebenfalls sozialdemokratischer Verteidigungsminister, dass die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch verteidigt werden müsse. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen fragte der US-amerikanische Experte für globale Geopolitik George Friedman 2015: „Was will Deutschland? Was fürchtet Deutschland, was will es tun, was nicht?“ Diese Frage gehe einher mit der Frage „Wann bricht der nächste Krieg aus und wo?“

Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Gefahr, dass die SPD wiederholt zum Steigbügelhalter des deutschen Militarismus werden könnte, kann der Protest aus den eigenen Reihen nicht hoch genug bewertet werden. Denn die Entwicklung, die Friedman beschreibt und die sich zwangsläufig aus dem Führungsanspruch Deutschlands ableitet, ist nur zu verhindern, wenn die SPD sich an ihre friedenspolitischen Wurzeln erinnert. Diese sind in der Arbeiterbewegung begründet und haben die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr erst möglich gemacht. 

Glaubt man interneren Verlautbarungen, dann war es Scholz, der in den Haushaltsberatungen kürzlich durchgesetzt hat, dass die vier Milliarden Euro Militärhilfen für die Ukraine, die Pistorius verlangt hatte, gestrichen werden. Er tat dies vermutlich nicht, weil er plötzlich auf Frieden und Diplomatie mit Russland setzt. Seine Ausführungen an der Karls-Universität zeigen, dass er Deutschlands Rolle im Ukraine-Krieg nicht danach beurteilt, ob es einem überfallenden Land bei der Verteidigung gegen seinen Aggressor beisteht, sondern ob Deutschland seine Führungsrolle in einer Großmacht Europa behaupten kann. Wenn sich Scholz also dafür stark macht, dass die Waffenhilfen für die Ukraine halbiert werden, dann weil der Druck in seiner Partei wächst. Eine Beobachtung, die Die Neue Zürcher Zeitung im übrigen zu der pathetischen Headline veranlasste „Die SPD dürstet nach Frieden“.

Antimilitaristen müssen in diesen Zeiten in Widersprüchen denken, um nicht zu verzweifeln. Einer dieser Widersprüche ist die Tatsache, dass Scholz und Pistorius die Zeitenwende gegen einen Bevölkerung durchsetzen müssen, die seit 80 Jahren im Frieden lebt und die durch die aggressive Diskussion über die neue Kriegstüchtigkeit und die größer werdende Kriegswahrscheinlichkeit hoch verunsichert ist. In den Landtagswahlkämpfen in Ostdeutschland hat diese Verunsicherung in den letzten Wochen durch Die Linke und das BSW einen parteipolitischen Ausdruck gefunden. In Sachsen initiierte Die Linke den Aufruf „Frieden braucht Mut. In Thüringen werden Friedensfeste  mit bundesweit bekannten musikalischen Künstlern organisiert – wie zuletzt in Suhl. Und in Brandenburg ließ der Spitzenkandidat der Linken Sebastian Walter im ganzen Land die friedenspolitischen Aussagen von Helmut Schmidt plakatieren. All das sind Aktivitäten, die auch dem antimilitärischen Flügel in der SPD um Mützenich und Stegner neuen Auftrieb geben.

Sicher ist: Der aktuelle Finanzierungsvorbehalt der Ampel ist vorgeschoben. Dass Scholz, Baebock und Pistorius sich das Geld für die Aufrüstung nicht auch weiterhin und in noch stärkerem Umfang durch Kürzungen im Sozialbereich holen, dürfte den Wahlen in Ostdeutschland sowie dem bevorstehenden Bundestagswahlkampf geschuldet sein. Dieser Finanzierungsvorbehalt wird von der neuen Bundesregierung – ganz egal wie diese sich 2025 zusammensetzen wird – sehr schnell auf den Müllhaufen der Geschichte befördert werden, wenn sich die antimilitaristischen Kräfte in der Bundesrepublik nicht parteiübergreifend zusammenschließen und Druck machen für eine andere Politik.

Dir gefällt der Artikel? Dann unterstütze doch unsere Arbeit, indem Du unseren unabhängigen Journalismus mit einer kleinen Spende per Überweisung oder Paypal stärkst. Oder indem Du Freunden, Familie, Feinden von diesem Artikel erzählst und der Freiheitsliebe auf Facebook oder Twitter folgst.

Zahlungsmethode auswählen
Persönliche Informationen

Spendensumme: 3,00€

Teilen:

Facebook
Twitter
Pinterest
LinkedIn

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Freiheitsliebe Newsletter

Artikel und News direkt ins Postfach

Kein Spam, aktuell und informativ. Hinterlasse uns deine E-Mail, um regelmäßig Post von Freiheitsliebe zu erhalten.

Neuste Artikel

Abstimmung

Sollte Deutschland die Waffenlieferungen an Israel stoppen?

Ergebnis

Wird geladen ... Wird geladen ...

Dossiers

Weiterelesen

Ähnliche Artikel