Die links-progressive Alternative

Die außerparlamentarischen Bewegungen haben in den letzten Jahren häufig die Erfahrung gemacht: Protest bewegt Viele, aber die Entscheider unzureichend oder gar nicht. So zeigte die Bundesregierung 2019 mit einem Klimagesetz scheinbar Reaktion auf die Klimabewegung. Das war aber nur Show vor der Bundestagswahl: Schaut, wir machen, was ihr fordert. Doch waren die Maßnahmen so unzureichend, dass sogar das Bundesverfassungsgericht am 29. April 2021 der Bundesregierung wesentliche Nachbesserungen auferlegte, um die Freiheitsrechte kommender Generationen zu schützen.

Wachsende Ungeduld bei der Klimabewegung und der Jugend

Wie also können Bewegungen wirklich Veränderungen erreichen? Immer häufiger sind Volks- oder Bürgerentscheide das Mittel der Wahl. Ein erfolgreicher Bürgerentscheid ist aber oft noch nicht das Ende des Kampfes. Das mussten die Münchner Bürger*innen erfahren, die am 05.11.2017 mit 60,4 % der abgegebenen Stimmen dafür votiert hatten, den Block 2 des Heizkraftwerkes München Nord bis spätestens 2022 stillzulegen. Nach diversen Ausweichmanövern des kommunalen(!) Energieversorgers hat inzwischen die Bundesnetzagentur gegen die Entscheidung ihr Veto eingelegt.

Auch der Berliner Volksentscheid „Deutsche Wohnen enteignen“ wird inzwischen von der neuen rot-grün-roten Landesregierung auf die lange Bank geschoben, mit Duldung sowohl der Berliner Grünen, die das Volksbegehren gut geheißen hatten, als auch der Berliner LINKEN, die es in der Startphase sogar kräftig unterstützt hatte.

Um den hinhaltenden Widerstand von Privilegierten und Technokraten zu überwinden, das zeigt sich, ist oft eine nachhaltigere progressive Machtentfaltung erforderlich. Wie kann die aussehen? 

Viele haben sich den Grünen angeschlossen, die ihre Mitgliederzahl von 2016 bis 2021 auf 125.000 verdoppeln konnten. Auch die westdeutschen Landesverbände der LINKEN konnten in diesem Zeitraum einen moderaten Mitgliederzuwachs verzeichnen. Zahlreiche besonders Engagierte konnten aber beiden Parteien so wenig abgewinnen, dass sie es vorzogen, sich kleineren progressiven Parteien anzuschließen oder sogar auf eigene Faust neue zu gründen. Die enge Verankerung dieser Parteien mit der sozialen Basis von Grünen und LINKEN wurde bereits im dritten Beitrag dieser Reihe aufgezeigt. Diese Hinwendung vor allem der engagierten Jugend zu Parteien könnte sich in den kommenden Jahren noch verstärken, da eine baldige Lösung der Klimakrise und anderer Probleme nicht in Sicht ist. 

Parteigründung als praktische Kritik an Grünen und LINKEN

Die Dynamik der Parteigründungen und die Volatilität der resultierenden Wahlergebnisse sind Indikatoren eines gesellschaftlichen Suchprozesses im progressiven Spektrum. Und die Suche ist zugleich praktische Kritik, in erster Linie der Grünen, wo ein Großteil der Wähler*innen der Kleinparteien herkommen. Indirekt wird damit aber auch DIE LINKE kritisiert, die den neuen Wähler*innen der Kleinparteien bisher auch keine hinreichend attraktive Alternative zu bieten scheint.   

Welche Inhalte werden bei den Kleinparteien präsentiert, die sich so bei Grünen und LINKEN nicht oder nicht so glaubwürdig finden lassen?

Die Piraten traten seit 2008 bei Wahlen an und durchschritten mit dem Einzug in die Landtage/Bürgerschaften von Berlin (2011), Saarland, Schleswig-Holstein und NRW (alle 2012) bereits ihre bisher größten, einmaligen und nicht wiederholten Erfolge. Bei der Bundestagswahl 2021 erzielten sie noch 0,4 % der Zweitstimmen. Kritik des Urheber- und Patentrechts, digitale Demokratie und Datenschutz – das sind die Themen, für die die Piraten stehen und die in ihrem Grundsatzprogramm auf den Punkt gebracht werden. Es handelt sich dabei heute um zentrale Fragen wirtschaftlicher und politischer Macht. Steht das Wissen der Menschheit mit Hilfe des Internet allen zur Verfügung, oder nur denen, die zahlen können? Ist das Internet ein Medium demokratischer Kommunikation oder Instrument staatlicher Überwachung?

Die PARTEI trat erstmals mit der Bundestagswahl 2005 zu einer Wahl an. Bei überregionalen Wahlen mit 5% Sperrklausel erzielte sie bisher stets deutlich unter 2%, konnte aber 2019 mit 2,4 % bundesweit zwei EU-Mandate gewinnen. Bei der Bundestagswahl 2021 erzielte sie 1 % der Zweitstimmen. Die verzweifelte, implizite Kritik von Die PARTEI an Grünen und LINKEN lautet: „Was ihr macht, ist zwecklos.“ Ist das Zynismus? Ja, natürlich. Auf die Anpassungsbereitschaft der Grünen und die Machtferne der LINKEN reagieren Manche mit Zynismus.

Volt ist eine sozialliberale Partei mit betont progressivem und europäischem Image. Hinter der schicken Fassade geht es aber konventionell zu. Die Europabegeisterung von Volt ist weitgehend kritiklos. Zwar tritt die Partei für ein humanes Regime an den Außengrenzen ein, doch eine Auseinandersetzung mit der Austeritätspolitik, den Integrationsproblemen der EU, der Nato oder der US-Hegemonialmacht sucht man vergeblich. Stattdessen viel Marktwirtschaft, Unternehmergeist, europäische Armee. Der für eine junge, kleine Partei sehr massive Materialeinsatz im Bundestagswahlkampf lässt auf enge Kontakte zu betuchten Kreisen schließen.

Die deutsche Sektion 2018 wurde gegründet und gewann 2019 einen Sitz im EU-Parlament. Bei Kommunalwahlen erhielt Volt Sitze in etlichen Stadt- und Gemeinderäten und beteiligt sich in Köln, Bonn, Frankfurt und München an unterschiedlich ausgerichteten kommunalen Mehrheitsbildungen. Bei der Bundestagswahl 2021 erhielt Volt 0,4 % der Zweitstimmen. Mit einer Positionierung zwischen Grünen und FDP ist Volt in den Großstädten inzwischen ein relevanter Wettbewerber für die Grünen und DIE LINKE.

MERA 25 (Wahlflügel von Democracy in Europe 2025 – Diem25) ist eine weitere proeuropäische Partei, die bisher in Deutschland nur zur Europawahl antrat und mit 0,3% kein Mandat erringen konnte. Sie hat sich im November 2021 offiziell als Partei in Deutschland gegründet. Im Unterschied zu Volt ist MERA25 linksozialistisch geprägt und steht inhaltlich der LINKEN sehr nahe. Ihr Kennzeichen ist die Orientierung auf die Überwindung der neoliberalen EU-Verträge durch ein Europa-weites Verfassungs-Referendum und eine linke Version des Green New Deal in Europa sowie das Agieren als Europa-weite Bewegung.

Über die Begeisterung für Europa hinaus steht MERA25 mit ihren weltweiten Verbindungen mit führenden linken Intellektuellen für eine wiederbelebte, globale Internationalität des Sozialismus. Obwohl das Stimmenpotential von MERA25 sich bisher als gering erwiesen hat, ist die faktische Abspaltung dieser Position für DIE LINKE qualitativ ein schwerer Schlag. MERA25 ist schwach organisiert, bei Wahlen bisher erfolglos und der Bestand als Partei unsicher. Ihre Bedeutung auf dem deutschen Spielfeld besteht darin, dass sie Qualitäten aufweist, die der LINKEN fehlen.

Auch die Klimaliste hat sich im Juni 2021 als Bundespartei gegründet. In zahlreichen Kommunen bestehen inzwischen lokale Klimalisten, die auch bei Kommunalwahlen schon einzelne Ratssitze gewinnen konnten. In Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Berlin traten bei den Landtagwahlen 2021 erstmals Klimalisten an, die es aber nicht in die Landtage bzw. das Berliner Abgeordnetenhaus schafften. Die Klimaliste NRW dagegen hat auf eine Kandidatur für die Landtagswahl in NRW bewusst verzichtet, nachdem DIE LINKE ihre zuvor vorgesehene Spitzenkandidatin Nicolin Gabrysch auf Platz 5 ihrer Wahlliste aufgestellt hat.

Wie erfolgreich sind diese Parteien?

Bei der Europawahl haben Die PARTEI, Volt, Piraten und Diem25 in Deutschland zusammen 4,1% und 4 Mandate gewonnen. Zum Vergleich: DIE LINKE erhielt 5,5% und gewann 5 Mandate (-2), während die Grünen ihr Ergebnis auf 20,5% fast verdoppeln konnten und nun mit 21 Sitzen (+10) vertreten sind. Bei Kommunalwahlen erzielten die kleinen Parteien mit 11,5% in Köln das beste Ergebnis in einer Top 20 Großstadt, bei der Bundestagswahl aber nur 1,8% bundesweit. Dort, wo ihnen keine 5%-Hürde im Weg steht, scheinen die kleinen progressiven Parteien dem gleichen positiven Trend zu folgen wie die Grünen, während DIE LINKE daran nicht teilnimmt, sondern Stimmen verliert.

Welche Perspektive bieten die kleinen progressiven Parteien?

Bei allem Respekt vor dem Engagement der kleinen progressiven Parteien muss die Frage erlaubt sein: Wo soll das hinführen? Die Verzettelung des links-progressiven Potentials an der Wahlurne ist im Angesicht der 5%-Hürde nicht effektiv. Auch in der Kommunalpolitik, wo es keine Zugangshürden gibt, zeigen die kleinen Ratsgruppen oft schon bald nach der Wahl Instabilitäten. Was fehlt, ist eine stabile Partei, die in der Lage ist, die links-progressiven Potentiale politisch-inhaltlich und organisatorisch in sich aufzunehmen, und, in enger Verbindung mit den außerparlamentarischen Kräften, in demokratische Machtentfaltung in den Institutionen zu übersetzen. Dieses Manko sollte allenfalls zum geringsten Teil den kleinen Parteien vorgeworfen werden. Vielmehr sind es Grüne und LINKE, die auf je eigene Weise sich dieser Aufgabe bisher nicht stellen und so den Raum für andere Initiativen geöffnet haben.

Solange es den Grünen gelingt, mit Erdrutschgewinnen zahlreiche bisherige Wähler*innen von CDU/CSU und SPD und bei der letzten Bundestagswahl auch von DIE LINKE zu sich rüber zu ziehen, können sie Verluste am linken Rand verschmerzen.

Für DIE LINKE dagegen ist es brandgefährlich, dass die Klimabewegung und das Erstarken progressiver Kräfte bisher weitgehend an ihr vorbei gehen und mit MERA25, Die PARTEI, Volt und der Klimaliste mehrere Kleinparteien sich in ihrem engsten Wähler*innenpotential breit machen.

Inhaltliche Konturen einer links-progressiven Alternative

Addiert man die inhaltlichen Profile und Alleinstellungsmerkmale der kleinen grün-linken Parteien und von DIE LINKE, drängt sich der Eindruck auf, dass diese inhaltlichen Positionen Bestandteil einer integrierten, links-progressiven Vision sein könnten, mit folgenden Schwerpunkten:

  • eine sozial-ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft
  • ein demokratisches, politisch und sozial vereintes Europa, das die neoliberalen Verträge hinter sich lässt und die massive soziale Ungleichheit reduziert
  • eine kollektive Sicherheitsarchitektur für Europa einschließlich Russlands, jetzt dringender denn je
  • eine auf Frieden, Abrüstung und solidarisches Management der globalen Probleme orientierte Außenpolitik
  • ein Programm für digitale Souveränität, die demokratische Kontrolle digitaler Prozesse und des freien Zugangs zum gesellschaftlich produzierten Wissen, insbesondere zu Impfstoff- und anderen Pharmapatenten.
  • Ein höherer Anteil der arbeitenden Klassen am Sozialprodukt, sei es in Form höherer Löhne, umfangreicherer und höherwertigerer öffentlicher Dienstleistungen oder (arbeits-)freier Lebenszeit.
  • Den Ausbau des Bildungs- und Gesundheitssektors gemäß dem realen gesellschaftlichen Bedarf und (Rück-)Überführung in öffentliche Trägerschaft
  • Gleichstellung der Frauen in allen Lebensbereichen
  • Sichere Fluchtrouten und Solidarität mit den Geflüchteten; Solidarische Einwanderungspolitik
  • Kampf gegen Rassismus, Diskriminierung, Antisemitismus und Rechtsextremismus

Die Bestandteile einer solchen Vision zogen sich auch durch die im zweiten Beitrag dieser Serie angesprochenen, seit 2015 enorm verstärkten Massenaktionen. Es handelt sich offenkundig um den „harten Kern“ einer progressiven Alternative. 

Die einzelnen Facetten einer solchen Alternative gehören nicht nur zusammen, sie sind sogar regelrecht aufeinander angewiesen. „Linke Politik auf der Höhe der Zeit bedeutet, soziale und ökologische Kämpfe zusammen zu denken, der sozialen und der ökologischen Frage eine gemeinsame Antwort zu geben. Wird der Wandel richtig angepackt, lassen wir dabei niemanden zurück, wird die Lebensqualität der Menschen insgesamt steigen – trotz der einzusparenden Ressourcen“ (Wissler/Henning-Wellsow 2022).

Linke Politik benötigt aber auch die europäische Dimension. Linke Wirtschafts- und Sozialpolitik im engeren Sinne ist im Rahmen mittelgroßer oder gar kleinerer Nationen in Europa schon lange nicht mehr möglich. Das hatte Frankreich 1982 erfahren und Griechenland 2015. Das gleiche gilt heute auch für die Probleme digitaler Souveränität. Linke Politik, die sich durchsetzen will, benötigt machtpolitisch mindestens einen europäischen Rahmen. Umgekehrt gilt aber auch: „Die Europäische Union wird als ökonomischer Verflechtungsraum nur eine Zukunft haben, wenn sie zu einer sozial und ökologisch nachhaltigen Union wird“ (Dörre 2021, S. 242) 

Elemente einer links-progressiven Alternative fanden sich bei der Bundestagswahl 2021 vor allem in den Wahlprogrammen von DIE LINKE und den Grünen, teilweise auch bei Volt. Werfen wir zum Abschluss dieses Beitrags noch einen Blick auf die Grünen. Was haben sie den Bewegungen und den links-progressiven Tendenzen in der Gesellschaft zu bieten?

Das progressive Image der Grünen bröckelt

Die Grünen pflegen ein progressives Profil zum Klimawandel und zur Umweltpolitik, das jedoch durch die „marktwirtschaftliche“ Orientierung, die in Wahrheit eine Orientierung an den Interessen großer Unternehmen ist, gedämpft wird. Dies wird in der Regierungsverantwortung schnell sichtbar, sei es bei der Genehmigung von Rodungen im Hambacher Forst oder dem Dannenberger Wald oder bei dem (vergeblichen) Einsatz des grünen Ministerpräsidenten Kretschmer für eine staatliche Kaufprämie für Verbrenner-PKW.

In gesellschaftspolitischen Fragen, Antidiskriminierung, Gleichstellung und Staatsbürgerschaft sind die Grünen auf links-liberale Weise progressiv. Wenn es um die formale Gleichstellung der Geschlechter geht, die Verteidigung demokratischer Rechte oder die Integration von Migrant*innen sind sie zur Stelle. Sie vertreten aber auch Forderungen, die Staat und Unternehmen erhebliche Summen kosten würden, wie eine Aufwertung der Pflege und die Überwindung des Gender Pay Gap in der Wirtschaft, und wir dürfen gespannt sein, wie entschlossen die Ampel diese Ziele verfolgen wird.

Die Mängel des Koalitionsvertrages vom Standpunkt des 1,5 Grad-Zieles wurden bereits im zweiten Teil dieser Reihe angesprochen, hier nochmal zur Erinnerung die Zusammenfassung von Fridays for Future: „Gemessen an dem Versagen der Großen Koalition erleben wir Fortschritte. Gemessen an der Realität der Klimakrise reicht dieses Regierungsprogramm vorne und hinten nicht. (Argh!)“ (Fridays for Future 2021). Wer es ernst meint mit dem Pariser Klimaziel, der muss jetzt mehr verlangen, als die mitregierenden Grünen zu bieten haben.  

Auch die im Wahlkampf vom heutigen Vize-Kanzler Habeck erhobene Forderung nach Aufhebung der Impfpatente hat er zwischenzeitig wieder zurückgenommen. „Wir sind sehr enttäuscht, dass Bundesminister Habeck in so einer wichtigen Frage seine Meinung ändert, kurz nachdem er der verantwortliche Minister wurde – auf der Grundlage von einseitigen und nicht stichhaltigen Argumenten der Pharmaindustrie und ohne mit der Zivilgesellschaft zu sprechen“, so wird Meike Schwarz, Expertin für Impfstoffverteilung bei Ärzte ohne Grenzen, vom ZDF zitiert (ZDF 03.02.2022).

Friedenspolitisch treten die Grünen in ihrem Grundsatzprogramm für ein atomwaffenfreies Deutschland und Europa ein. Das wäre wohl ein Aufgabenfeld für die Außenministerin Baerbock. Doch hat die Ampel das Thema schon im Koalitionsvertrag entsorgt, indem das atomwaffenfreie Deutschland, also der Abzug der US-amerikanische Atomwaffen, die von deutschen Piloten und Tornado-Flugzeugen ins Ziel getragen werden sollen, auf den Sankt Nimmerleinstag einer insgesamt atomwaffenfreien Welt vertagt wurde. Nimmt man den Koalitionsvertrag wörtlich, wird Deutschland somit eines der letzten Länder sein, die atomwaffenfrei werden. Auch die Beschaffung eines Nachfolgesystems für die alten Tornados als Träger für amerikanische Atombomben ist im Koalitionsvertrag vorgesehen (SPD/Grüne/FDP 2021).

Zu dem von der Nato angestrebten Beitritt der Ukraine sagte Baerbock als Grünen-Chefin 2021: „Die Botschaft an Moskau muss sein: Souveräne Staaten entscheiden über ihre Bündnisse selbst. Dazu zählt auch die Perspektive einer Ukraine in der EU und in der Nato“ (Baerbock 2021). Dass die durch die Nato betriebene Umzingelung Russlands dort verständliche und angesichts der Historie der Nato auch berechtigte Bedrohungsängste auslöst, ist der jetzigen Außenministerin offenbar nicht nachvollziehbar. Und ihr Argument hinkt: Im gleichen Atemzug, wie die USA „Selbstbestimmung“ für die Ukraine fordern, ein Recht, dass sie Cuba einst nicht zugestanden, spielen sie mit dem Gedanken, sogar den Bündnispartner Deutschland wegen der Pipeline Nord Stream 2 mit Sanktionen zu belegen. Auch die russische Forderung nach Umsetzung des Minsker Abkommens, mit dem sich Russland und die Ukraine unter deutsch-französischer Betreuung schon mal auf eine Südtirolisierung der Ostukraine geeinigt hatte, war nicht weit hergeholt. Offenkundig geht es nicht um Selbstbestimmung, sondern um Machtpolitik. Und was immer die Ukraine will – eine Nato die auf einen friedlichen Ausgleich mit Russland setzt, könnte den Beitrittswunsch der Ukraine auch einfach freundlich ablehnen. Der heutige Vizekanzler Habeck dagegen forderte im Wahlkampf sogar vorübergehend deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine (FAZ 25.05.2021).

Inzwischen ist die Situation eskaliert und ein Hauptverlierer heißt Europa. Nicht das neoliberale Europa der Austerität und der Aufrüstung, sondern das erst noch zu schaffende soziale und demokratische Europa, das aktuell zwischen den Machtblöcken zerrieben wird. Die Grüne Außenministerin hat es ebenso wenig wie ihre übrigen NATO-Kolleg*innen als ihre Aufgabe verstanden, flexibel auf verständliche russische Forderungen wie die Umsetzung des Minsker Abkommens oder eine Neutralität der Ukraine einzugehen, um gleichzeitig großrussischen Nationalismus zurückzuweisen. Während die Hauptverantwortung für den Einsatz militärischer Mittel bei denen liegt, die sie einsetzen, tragen doch die NATO und die Bundesregierung eine erhebliche Mitverantwortung an der eingetretenen Situation.

Die Nato-Forderung, 2% des BIP für Rüstung aufzuwenden, ist, etwas versteckt, ebenso im Koalitionsvertrag enthalten wie der Plan, die Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen auszustatten. Der Tenor des Feedbacks aus Friedensbewegung und Hilfsorganisationen ist deshalb nicht überraschend: „Klare Friedenspolitik im Koalitionsvertrag vergeblich gesucht“ (Netzwerk Friedenskooperative 2021).

Während die Grünen in der ersten rot-grünen Koalition 1998 ff. immerhin noch den ersten, später von schwarz-gelb zurückgenommenen Atomausstieg sowie das Erneuerbare Energien Gesetz erzielten und auch ein Dosenpfand gegen den Widerstand der Einzelhandelskonzerne durchsetzen konnten, scheint ihnen die Wirksamkeit im Sinne der selbstdeklarierten Ziele inzwischen abhandengekommen zu sein. „Wenn die Grünen so weitermachen, werden sie zu Hilfswichteln der Koalition – oder zum Trauerfall“, kommentiert die  Süddeutsche Zeitung unter dem Titel: „Die Grünen kellnern wieder“ (SZ 06.01.2021, S.4).  

Es passt auch ins Bild einer sich blitzschnell anpassenden früheren Oppositionspartei, dass Anton Hofreiter, viele Jahre Fraktionsvorsitzender und Anführer des linken Flügels, nun nicht mehr gebraucht wird. „Das Grün verblasst“ schreibt die Zeit (Zeit 51/2021), „Die Realos regieren: Wie ökologische Ziele aufgeweicht und die Parteilinken ausgebootet wurden.“

Die heutigen Grünen sind keine System-Change Partei. Als Kristallisationskern einer links-progressiven Partei sind sie schlicht ungeeignet. Für die Bewegungen und Initiativen, aus deren Umfeld sie einst entstanden, und die heute noch sehr stark auf die Grünen orientiert sind, hat eine Zeit der Ernüchterung begonnen.

Wenn also die Grünen als Kristallisationskern des links-progressiven Potentials ausfallen, wie sieht es mit der LINKEN aus? Das wird das Thema sein in dem nächsten und übernächsten Beitrag dieser Reihe.

Von Fiete Saß, stellvertretender Sprecher der Kölner LINKEN.

Quellen und Literatur

Baerbock, Annalena, Interview „Mit Dialog und Härte“, 26.04.2021, https://www.gruene.de/artikel/mit-dialog-und-haerte

DieM25 (Democracy in Europe Movement 2025), „Manifest“, Europa demokratisieren! Europa wird demokratisiert oder es wird zerfallen! https://diem25.org/wp-content/uploads/2018/09/diem25_german_long.pdf

Dörre, Klaus, Die Utopie des Sozialismus, Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution, Berlin 2021

Fridays for Future, Analyse des Ampel-Koalitionsvertrages, 25.11.2021, https://fridaysforfuture.de/analyse-ampel-koalitionsvertrag/

Netzwerk Friedenskooperative, „Klare Friedenspolitik im Koalitionsvertrag vergeblich gesucht“, Pressemitteilung Netzwerk Friedenskooperative 08.12.2021, https://www.friedenskooperative.de/aktuelles/ampel-koalitionsvertrag-bewertung-friedensbewegung

Piratenpartei Deutschland, Grundsatzprogramm, https://wiki.piratenpartei.de/Parteiprogramm

SPD / Grüne / FDP, Koalitionsvertrag zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN UND FDP, 2021 https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf

Volt, Grundsatzprogramm für Deutschland, https://assets.volteuropa.org/2021-01/2020_12_22_Grundsatzprogramm_DE.pdf

Wissler, Janine/Hennig-Wellsow, Susanne, Für eine LINKE Transformation. Sozial UND klimagerecht, 2022, https://www.die-linke.de/start/detail/fuer-eine-linke-transformation-sozial-und-klimagerecht/

ZDF, Will Habeck Impfpatente noch freigeben?, 03.02.2022, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-impfstoff-patente-habeck-100.html

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Eine Antwort

  1. Danke für den ausführlichen Artikel, der leider unvollständig ist. Die Bewertung von Volt ist hier in der Tat unsachlich. In Bonn besteht eine Fraktion mit DIE LINKE sind auch im Regionalrat des Regierungsbezirk Köln ist eine Fraktion beider Parteien der Fall. Als dortiger Fraktionsvorsitzender kann ich den Abschnitt zu Volt nicht bestätigen.

    Auch die von Volt öffentlich und in Räten eingebrachten Punkte widersprechen klar der Bewertung hier.

    Schade, dass hier Leser*innen ein unvollständiges Bild gezeigt wird.

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