Der Nationalismus und der religiöse Hass sind als politische Untote wieder zurückgekehrt. Der endlose Siegeszug des Liberalismus scheint ins Stocken geraten zu sein. In den USA wurde der allseits propagierte Individualismus als Leitidee des Liberalismus schon lange infrage gestellt. Mit dem Aufstieg der AfD schwappt die Debatte um Liberalismus, Kampf der Kulturen und Gemeinschaft vs. Individuum nach Deutschland rüber.
Noch zu Hochzeiten des Liberalismus, in den 80er und 90er Jahre, tobte ein erbitterter Streit zwischen Liberalen wie John Rawls und Kommunitaristen wie Michael Sandel um die Frage des Individuums. Verschärft wurde diese Debatte von rechts – indem Samuel Huntington einen „Kampf der Kulturen“ zwischen „dem Westen“ und „dem Islam“ ausmachte. In diese Debatte intervenierte damals der liberale Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen. Weil die Debatte in Deutschland aktuell wieder aufkeimt, soll hier sein damaliges Buch „Die Identitätsfalle – warum es keinen Krieg der Kulturen gibt“ besprochen werden.
Aus „dem Türken“ wird „der Muslim“
Kommunitaristen wie der bekannte Philosoph Michael Sandel teilen wie Konservative die Vorstellung, dass das Individuum allein von der Gemeinschaft bestimmt ist. Nicht die freie eigene Entscheidung bestimmt wer ich bin, sondern die eigene Kultur. Daher haben alle Menschen eine Identität und ihre Werte werden über diese eine kulturelle Identität bestimmt. Amartya Sen hält die Vorstellung von genau einer Identität für falsch. Das möchte ich hier an einem persönlichen Beispiel zum vermeintlichen Kampf der Kulturen illustrieren. Bekannte meiner Familie aus der Brandenburger Provinz schimpften in den 90ern nach dem dritten Bier zuverlässig über „die Ausländer“ und „die Türken“. Nach 9/11 in den 2000ern schimpfte niemand mehr über „die Türken,“ sondern nur noch über „die Muslime.“
Mit Amartya Sen könnte man nun fragen: Welche Identität ist denn jetzt entscheidend? Die religiöse als Muslim oder die nationale Identität als Türke? Sen selbst erfuhr diese Situation gewaltvoller. Als Kind erlebte er wie ein muslimischer Hilfsarbeiter blutend in seinem Garten zusammenbrach. Ein Mob fundamentalistischer Hindus hatte ihn umgebracht. 20 Jahre später war der Identitätskonflikt zwischen Hindus und Muslimen offenbar vergessen. Nun bekämpften sich die Muslime aus Bangladesch mit den Muslimen aus Pakistan. Entscheidend war diesmal die bengalische Identität vs. die Urdu-Sprache Pakistans – ein Konflikt, der 20 Jahre vorher überhaupt keine Bedeutung hatte – trotzdem führte er nun als Identitätsmerkmal Nr. 1 zum Bürgerkrieg.
Ein oder zwei Identitäten? – Rechte sind immer identitär
Welche Identität bestimmt einen Menschen? Amartya Sen weist als Liberaler auf die große Bedeutung der individuellen Entscheidung hin. Wer wir sind, entscheiden wir selbst. Letztlich entscheiden wir, ob wir beispielsweise an erster Stelle deutsch oder ostdeutsch (oder Ruhrpott oder Bayer), christlich o. atheistisch o. muslimisch oder Hip Hopper o. Metaler, politisch an erster Stelle links, Sozialist, Veganer, Feministin, Öko oder Arbeiter und, und, und… zu stehen haben. Aber nicht immer liegt die Entscheidung bei uns. Oft wird uns die eigene Identität von anderen vorgeschrieben (wie im Falle der Bekannten oben). In Deutschland schreiben viele Menschen gerne anderen das Muslim-, migrantisch- oder früher Jüdischsein zu. Dabei sind beispielsweise viele TürkInnen Atheisten oder Aleviten und die Selbstzuschreibung ist oft gar anders als gedacht.
Rechte bekämpfen die Vorstellung unterschiedlicher Identitäten vehement. Eine einflussreiche Bewegung der Rechten bezeichnet sich nicht zufällig als „Identitäre Bewegung“ und als 100% identitär. Für sie darf es nur eine Identität geben. Daher kämpfen rechte Parteien zum Beispiel seit Jahren gegen die doppelte Staatsbürgerschaft: Wer Eltern aus zwei oder mehr Ländern hat, muss „sich schon entscheiden“, heißt es. Aber warum eigentlich? Haben wir nicht alle verschiedene Identitäten?
Multikulturell oder multiidentitär?
Auf den ersten Blick erstaunlich, aber Amartya Sen ist nicht unbedingt ein Fan von Multikulturalität. Gesellschaftliche Multikulturalität kann nämlich höchst konservativ sein und ganz im Kampf der Kulturen verharren. Wenn alle in einem Staat oder ein Stadt nur ihre eigenen Kulturen pflegen und ihren Kindern nur ihre Kultur aufnötigen und aus diesem Grund zum Beispiel Ehen mit anderen verhindern, ist das auch kein Fortschritt. Wer dabei gleich wieder an „den Islam“ denkt, kann sich auch mal ein bisschen in Westdeutschland auf dem Land umhören. Bis heute wissen die Leute in den meisten Dörfern noch genau wer katholisch und wer protestantisch ist. „Mischehen“ sind hier immer noch nicht überall anerkannt.
Sen betont zudem: Multikulturalismus ist kein Produkt der jüngsten Migrationsbewegungen.. Länder und Regionen, die heute nur einer Religion oder nur einer „Leitkultur“ angehören, sind keineswegs natürlich so entstanden. Die hochdeutsche Sprache wird erst seit 120 Jahren überall in Deutschland verstanden und erst seitdem 2. Weltkrieg als Erstsprache überall gesprochen. Nicht älter ist der Kirchenkampf Bismarcks gegen die katholische Kirche. 80% aller Männer in katholischen Gegenden wählt als erste Identität 1875 katholisch. Der jüngste Völkermord mit Massenvertreibungen – die es fast immer gab zur Durchsetzung einer Kultur – ist noch jüngeren Datums in Deutschland. „Reine“ Kulturen sind geformte und politisch gewollte Gebilde – in der Sprache, der Wissenschaft, dem Essen, den Umgangsformen. Kultur und Sprache entwickelt sich fortwährend. Auch damit hat Sen natürlich Recht.
Somewheres und Anywheres[i]
Amartya Sens Buch ist auch deshalb heute noch spannend, weil er schon früh über die sogenannten Postnationalen schreibt. In Texten zu Identität und Kosmopolitismus tauchen neuerdings auch in Wissenschaft und Feuilleton die Somewheres und Anywheres auf. Anywheres sind nach einem Buch von David Goodhart Menschen, die viel reisen, oder sogar in unterschiedlichen Ländern zuhause sind. Ihnen gegenüber stehen die somewheres, die ganz an einen Ort gebunden sind. Unter manchen Kommunitaristen wird darunter auch eine soziale Spaltung verstanden – etwas verkürzt: die Anywheres, reich und aus der oberen Mittelschicht, jetten von Land zu Land, sind vielsprachig, arbeiten rund um den Globus. Für sie haben Grenzen und Länder keine Bedeutung mehr. Die Somewheres hingegen stammen aus einem Ort und können auch nicht weg, während die Globalisierung ihre Lebensgrundlage zerstört. Für Amartya Sen gibt es diese sozialen Dimensionen der Globalisierung – typisch liberal und klassenblind auch nicht. Er beschreibt die Postnationalen eher als Positivbeispiel für einen Menschentyp, der in unterschiedlichen Ländern und „Kulturen“ beheimatet ist. Doch das Motiv wird nicht nur von links oder liberal diskutiert. Im Januar griff der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland in einem Vortrag in Schnellroda bei dem rechten Vordenker Götz Kubitschek sehr wohlwollend das Motiv der Somewheres und Anywheres auf.
Bei ihm, wie Sen und andrerseits den linken Kommunitaristen fehlt völlig, dass die überwiegende Mehrheit dieser vermeintlich „Postnationalen“ extrem ausgebeutete ArbeitsmigrantInnen sind. Sie sind auch nicht anywhere, sondern an meist zwei Orten – ihrem Arbeitsort und ihrer Familie. Statt also die „sesshafte“ Arbeiterklasse theoretisch und wissenschaftlich gegen MigrantInnen und Linke aufzuwiegeln, wäre es besser hier über Lösungen nachzudenken – für ausreichend Konkurrenz und Missgunst zwischen den Menschen sorgt der Kapitalismus selber.
Freiwillige Gemeinschaft
Die große Lücke bei Sen ist wenig überraschend die
gesellschaftliche Linke. Auch Theoretiker wie Marx lassen sich
kommunitaristisch interpretieren. Nur geht Marx nicht von vorgefertigten
Kulturen aus. Die Gemeinschaft, die die Welt verändert, ist bei ihm nämlich
eine freiwillige: die Linke und die Arbeiterbewegung. Sie schafft eine
Gemeinschaft für Gerechtigkeit und Solidarität. Was Amartya Sen vergisst: Ohne
die Arbeiterbewegung hätte es die heutige liberale Demokratie nie mit dem
Wahlrecht für alle und einem Sozialstaat gegeben. Abgesehen davon ist Sens Buch
aber sehr lesenswert – gerade in den heutigen Debatten um Identitätspolitik.
Man sollte nur nicht bei seinem etwas naiven Glauben an die richtige
Entscheidung des Einzelnen stehen bleiben.
[i] Die Formulierung geht auf ein vielbeachtetes Buch The Road to Somewhere: The Populist Revolt and the Future of Politics des britischen Publizisten David Goodhart zurück. Goodhart, nach Eigenaussage früher Marxist, findet heute links und rechts gut.