Surrealismus: Zwischen Exzess und Revolte

Sie verbanden den kalkulierten Tabubruch mit scharfen Angriffen auf die bürgerliche Gesellschaft. Keine andere künstlerische Bewegung war in ihrer Form und Botschaft so radikal wie der Surrealismus. Robert Blättermann blickt zurück auf eine der bedeutendsten künstlerischen Revolten des letzten Jahrhunderts

Kurz nach Mitternacht am 24. Juni 1935 betrat der französische Dichter und surrealistische Lyriker Paul Éluard als letzter Redner die Bühne des von der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) organisierten „Ersten Internationalen Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur“ in Paris. Die meisten Menschen hatten den Saal bereits verlassen und die Lichter wurden nach und nach gelöscht. Éluard war in einer äußerst schlechten Verfassung. Nur wenige Tage zuvor hatte sich ein Freund, der surrealistische Dichter René Crevel, aus Verzweiflung über das sich anbahnende Zerwürfnis zwischen der KPF und den Surrealisten, das Leben genommen.

Éluard trat anstelle von André Breton auf, dem aufgrund einer Prügelei mit einem sowjetischen Kongressteilnehmer das Rederecht entzogen wurde, um nun dessen Beitrag vor einem fast leeren Auditorium zu halten. Die Ansprache endete mit dem Satz: „›Die Welt verändern‹, hat Marx gesagt; ›das Leben ändern‹, hat Rimbaud gesagt: Diese beiden Losungen sind für uns das einzige.“ Kurz vor dem Bruch der Surrealisten mit der KPF, bereits im Herbst der künstlerischen Entwicklung der Bewegung, markiert die Parole treffend den Anspruch, der viele surrealistische Künstlerinnen und Künstler über knapp zwei Jahrzehnte miteinander verband.

Jede Ausstellung zog Schockreaktionen nach sich

Ihre ästhetischen und politischen Forderungen veränderten die Kunstgeschichte. Ihre Texte, Installationen, Gemälde, Objekte und Skulpturen stellten Provokationen dar, in denen sie Halluzinationen, Träume und Exzess verarbeiteten und zu den Grenzen des menschlichen Bewusstseins vorstoßen wollten. Bilder, wie die „elektrosexuelle Nähmaschine„ von Óskar Domínguez, faszinieren durch das Verschmelzen des menschlichen, mechanischen, animalischen und erotischen. Verhüllte Landschaften die aus Körpern wachsen; verstörende sexuelle Bildnisse, die den kalkulierten Tabubruch inszenieren; Collagen voll fiebernder Traumbilder; die rauschhafte Auflösung der Wirklichkeit in rätselhafte Symbole; vor anonymisierten Gesichtern schwebende Äpfel; zum Leben erwachte Gegenstände, die sich befriedigen und mit grotesken Wesen verschmelzen – jede Ausstellung der Surrealisten zog Schockreaktionen nach sich und wurde zur „Kriegsmaschine“, wie es die Surrealistin Annie Le Brun prägnant formulierte.

Der Angriff galt dem verlogenen und autoritären Weltbild des Bürgertums, dessen „humanistischer Freiheitsbegriff“ vor dem Hintergrund des Kolonialismus und des imperialistischen Weltkriegs keine Gültigkeit mehr besaß. Gleichzeitig richtete sich der Angriff gegen ein bürgerliches Kunstverständnis, das die Kunst aus der Lebenspraxis der Menschen enthob und damit zur Projektionsfläche für uneingelösten gesellschaftlichen Fortschritt machte. Die Trennung zwischen Leben und Kunst sollte endlich aufgehoben werden und nicht die Vernunft die Kunst beherrschen, sondern Willkür und wirkliche Freiheit. Und diese Revolte, die sich eng mit den fortschrittlichen sozialen Kräften der Zeit verband, sollte die Praxis zur Umgestaltung des Lebens selbst werden.

Die Kunst der Fotografie wurde neu erfunden

Die surrealistische Kunstbewegung, die Walter Benjamin als „die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“ bezeichnete, formierte sich in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Im März 1919 trafen sich André Breton und Paul Éluard das erste Mal in Paris. Kurze Zeit später erschien die erste Ausgabe der dadaistischen Zeitschrift „Littérature“, die sie gemeinsam mit Louis Aragon und weiteren Schriftstellern herausgaben. Alle drei hatten die Schrecken des 1.Weltkrieges als Sanitäter überlebt und entdeckten im rebellischen Geist des Dadaismus ein probates Mittel, um eine Alternative zur Dichtkunst der bürgerlichen Tradition anzubieten. Zunächst verstand sich die Gruppe als literarische Bewegung, welche die Sprache an ihre Grenzen treiben wollte. Den 1919 in der „Littérature“ erschienenen Text „Die magnetischen Felder“, der grammatikalisch korrekt, allerdings ohne jeglichen Sinn, im Verfahren des „automatischen Schreibens“ entstand, bezeichnete Breton später als das erste Erzeugnis des Surrealismus. Doch es waren die Maler, Fotografen und Filmemacher welche die Gruppe nachhaltig veränderten.

Anfang 1922 fotografierte der amerikanische Werbegrafiker Man Ray in einem Pariser Hotel Luisa Casati. Die Porträtaufnahme der exzentrischen Gräfin verwackelte, so dass ihre Augen verrutschten und Ray belichtete das Negativ mehrfach. Das Ergebnis war ein verfremdetes Bild, das wirkte als könnte man über das stechend hypnotisch wirkende Augenpaar direkt in die Seele der berühmten Italienerin schauen. Die Kunst der Fotografie wurde in diesem Moment neu erfunden. Weitere surreale „Rayografien“, wie der Künstler selbstbewusst seine zum eigenständigen Kunstwerk erhobenen Bilder nannte, sollten folgen. In ihnen wurde die Wirklichkeit gebrochen und das verborgene im Inneren scheinbar nach außen gekehrt – Breton war begeistert. Auch die Collagen des Kölner Künstlers Max Ernst wurden von der Gruppe enthusiastisch gefeiert. In seinen Traumwelten, mit ihren zahlreichen unterschiedlichen Gegenständen, sahen sie ihr Prinzip des willkürlichen Schreibens das erste Mal in Bildern gebannt. Ernst zog 1922 nach Paris und schloss sich der Gruppe um Breton an. Auch der spanische Maler Joan Miró stieß 1924 zu den Surrealisten. In seinen Werken, wie dem „Karneval des Harlekin„, wird die Realität von konfusen Symbolen abgelöst. Breton, der Mirós Werk anfangs noch als kindlich bezeichnet hatte, nannte ihn später den „Maler des reinen Automatismus“ und schrieb 1967 über ihn: „Vielleicht ist es gerade das, weshalb er als der ›surrealistischste‹ von uns gelten kann […] Keiner ist so geschickt wie er, das Unvereinbare zu vereinen, ist so gleichgültig, etwas zu zerstören, bei dem wir nicht einmal den Wunsch wagen, es zerstört zu sehen.“

„Wir sind die Revolte des Geistes“

Der Bruch mit dem Dadaismus erfolgte im Jahr 1922. Nicht länger durch Satire und Karikatur sollten die unglaubwürdigen Werte der Bourgiousie negiert, sondern die Realität als ganzes gesprengt werden. Zwei Jahre später entstand das erste surrealistische Manifest, dessen Unterzeichner Max Ernst in dem Gemälde „Rendezvous der Freunde„ porträtierte, sowie die neue Zeitschrift „La Revolution Surréaliste“, welche zum zentralen künstlerischen und politischen Organ der Gruppe wurde. In ihr wurden Gedichte, experimentelle Texte, Traumprotokolle und Kunstdebatten verbunden mit scharfen Angriffen auf die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft und Forderungen wie der Zerschlagung der Armee, des freien Zugangs zu Rauschmitteln oder der Öffnung der Gefängnisse.

Insbesondere der französische Kolonialkrieg gegen Marokko politisierte die Gruppe und führte zu einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Es entstehen unzählige Appelle und Briefe, die verdeutlichen, wie die Gruppe die geistige und politische Revolution zusammendachte. Am 8. November 1925 schrieben sie in der „L´Humanite“: „Es ist schon ungerecht und ungeheuerlich genug, dass der Besitzlose vom Besitzenden geknechtet wird, aber wenn diese Unterjochung den Rahmen eines einfachen, auszuzahlenden Lohnes überschreitet und z.B. die Form jener Sklaverei annimmt, in der die internationale Hochfinanz die Völker hält, dann ist das eine Ungerechtigkeit die kein Blutbad je sühnen könnte. […] Wir sind die Revolte des Geistes; die blutige Revolution ist die unvermeidliche Rache des durch eure Werke geknechteten Geistes.“

Salvador Dalí wurde aus der Gruppe ausgeschlossen

1927 traten zahlreiche der Surrealisten wie Breton, Éluard, Péret oder Aragon in die KPF ein. Gleichzeitig kam es immer wieder zu politischen Differenzen unter den Surrealisten. Breton setzte sich unter anderem gegen den Standpunkt des französischen Trotzkisten Pierre Navillés durch, welcher die surrealistischen Experimente zugunsten „wirklich“ revolutionärer Kunst einschränken wollte. Breton trat für die absolute Freiheit der Kunst ein. Gleichzeitig dürfe sie sich aber nicht gegen die Revolution stellen.

Anders sah das ein Neumitglied der Gruppe – der junge katalanische Künstler Salvador Dalí, der 1934 ein Bildnis Lenins mit einem übergroßen Hintern anfertigte und in seiner anschließenden Verteidigungsrede in Bretons Atelier meinte, dass Hitler in seiner Zerstörungswut ein großer Surrealist sei. Der sich dem Bürgertum andienende spätere Superstar der Kunstszene wird 1939 aus der Gruppe ausgeschlossen, ebenso wie die Surrealisten aus der kommunistischen Partei 1935. Die infolge der Stalinisierung der KPF längst gespaltene Gruppe zerfällt durch die Flucht vor den deutschen Besatzern gänzlich, doch viele ihre Mitglieder bleiben politisch aktiv. Der ausgewanderte Breton veröffentlichte Stellungnahmen aus New York und Surrealisten wie René Char, Claude Cahun und Paul Éluard kämpften im französischen Untergrund. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fand die Gruppe nicht wieder zusammen, auch wenn sich einige ihrer Namen gemeinsam auf den Erklärungen gegen den sowjetischen Einmarsch der Truppen in Indochina im Jahr 1955 oder für die Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1960 wiederfinden.

Echte Freiheit gibt es erst in einer egalitären Gesellschaft

So einiges lässt sich an der Pariser Gruppe der Surrealisten, die die Kunstgeschichte so maßgeblich prägten, kritisieren. Etwa die dominante, bisweilen selbstherrliche Rolle, die André Breton einnahm. Zum anderen, dass die Gruppe zum Großteil aus Männern bestand, die Frauen teilweise als Musen für ihre eigene Genialität betrachteten, während gleichzeitig Surrealistinnen wie Meret Oppenheim, Louise Bourgeois, Dora Baar, Lee Miller, Claude Cahun und Dorothea Tanning künstlerisch eine gleichermaßen wichtige Rolle, wie ihre männlichen Kollegen spielten. Nach Ende des zweiten Weltkrieges wirkten die surrealistischen Werke des künstlerischen und politischen Wahnsinns kaum noch schockierend. Wie sollten sie auch – in einer Zeit, in der der Wahnsinn der Realität zum Tod von siebzig Millionen Menschen geführt hatte.

Doch gerade aufgrund der Kontinuität kapitalistischer Unterdrückung und imperialistischer Kriege bleiben die theoretischen Ansätze der Surrealisten in ihrer Radikalität aktuell. 1938 veröffentlichten Diego Riviera und André Breton, unter Mitarbeit von Leo Trotzki, das „Manifest für eine unabhängige revolutionäre Kunst“. Dieses schließt mit den Zeilen: „Unabhängigkeit der Kunst – für die Revolution! Revolution – für die vollständige Befreiung der Kunst!“ Sie entfalten darin ein marxistisches Verständnis von Kunst, das diese als unbedingt frei von jeglicher Fremdbestimmung und aufoktroyierten Notwendigkeiten bestimmt. Echte Freiheit könne sich jedoch erst in einer egalitären Gesellschaft entfalten, in der die geistigen und materiellen Ketten der Menschheit abgeworfen sind, „um so der ganzen Menschheit möglich zu machen, sich in Höhen zu erheben, die in der Vergangenheit nur einsame Genies erreicht haben“. Ihr Kampf geht für uns weiter.

Der Beitrag erschien zuerst bei marx21

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