Die Illusion der Zweistaatenlösung

Seit vielen Jahrzehnten gilt die sogenannte Zweistaatenlösung in Politik und Medien als Königsweg zur Beendigung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Unabhängig davon, ob es Bundeskanzler Olaf Scholz, US-Präsident Joe Biden oder UN-Generalsekretär António Guterres ist – und ob von links oder rechts – beschwören fast alle den Traum eines unabhängigen palästinensischen Staates neben Israel in den Grenzen von 1967.

Angesichts der über 40.000 Toten in Gaza, der nahezu vollständigen Zerstörung des Gazastreifens sowie des anhaltenden völkerrechtswidrigen Siedlungsbaus im Westjordanland ist es jedoch höchste Zeit, die Illusion der Zweistaatenlösung endgültig aufzugeben und Alternativen zu diskutieren, die beiden Völkern einen gerechten und dauerhaften Frieden ermöglichen.

Mit dem Sechstagekrieg von 1967 konnte Israel die Kontrolle über das Westjordanland, den Gazastreifen und Ostjerusalem übernehmen und zur Besatzungsmacht aufsteigen. Seitdem besiedelt Israel das Westjordanland, Ostjerusalem und bis 2005 auch den Gazastreifen völkerrechtswidrig. Während Israel die Siedlungen im Gazastreifen mit dem sogenannten Abkoppelungsplan unter Ministerpräsident Ariel Scharon aufgab, hält die Besiedlung im Westjordanland und Ostjerusalem bis heute an und zählt mittlerweile etwa 700.000 illegale Siedler.

Die Verhältnisse in den besetzten Gebieten werden von verschiedenen renommierten Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, Amnesty International und B’Tselem als schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte eingestuft, die den Straftatbeständen der Apartheid und Verfolgung entsprechen. Auch der Internationale Gerichtshof (IGH) bestätigte am 19. Juli 2024 in einem Urteil, dass Israel schwerwiegende Verstöße gegen das Völkerrecht gegenüber Palästinensern in den besetzten Gebieten begeht und den Tatbestand der Apartheid erfüllt.

Palästinenser im Westjordanland erfahren systematische Diskriminierung und Unterdrückung und sind erheblichen Bewegungseinschränkungen, Enteignungen von Land sowie Vertreibungen aus ihren Häusern ausgesetzt. Gleichzeitig genießen israelische Siedler in denselben Gebieten einen privilegierten Status und besondere Rechte. Im Schatten des Gazakrieges nahm auch der Einsatz rechtswidriger Gewalt israelischer Sicherheitskräfte im Westjordanland zu: Vom 7. Oktober bis Januar dieses Jahres wurden rund 360 Palästinenser (nach Angaben von Amnesty International) getötet.

Im Gazastreifen wurden laut den Vereinten Nationen bereits rund 40.000 Menschen getötet, und 1,9 Millionen Menschen wurden zu Binnenvertriebenen, die allesamt ihre Lebensgrundlagen verloren haben. Zudem herrscht in Gaza eine akute Versorgungs- und Hungersnot, und die gesamte medizinische Infrastruktur ist zusammengebrochen. Die Überlebenden dieses Krieges werden schwere traumatische und psychische Schäden davontragen, die sie noch lange Zeit belasten werden.

Wer angesichts dieser beschriebenen Verhältnisse im Gazastreifen und im besetzten Westjordanland noch von einem unabhängigen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 träumt, begeht Realitätsverweigerung. Denn die nahezu vollständige Zerstörung des Gazastreifens und der Tod von 40.000 Menschen sowie die systematische Ungleichbehandlung und Unterdrückung der Palästinenser durch Israel in den besetzten Gebieten zerstören den Traum von territorialer Integrität und einem lebensfähigen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967.

So scheint die Forderung nach einer Zweistaatenlösung längst zu einem politischen Lippenbekenntnis verkommen zu sein, das lediglich die Illusion eines Friedensprozesses zwischen Israel und Palästina aufrechterhalten möchte. Das Festhalten an dieser Idee ermöglicht es politischen Akteuren, sich als Friedensstifter zu inszenieren, ohne tatsächlichen Druck auszuüben oder einen nachhaltigen Frieden zu realisieren. Dadurch wird ein Status quo gerechtfertigt, der echten Lösungsansätzen ausweicht und stattdessen versucht, den Konflikt auf einem Pulverfass zu balancieren. Die Leidtragenden dieser Politik sind vor allem jene Palästinenser, die täglich unter der israelischen Besatzungspolitik und den aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen im Gazastreifen leiden.

Mit dem anhaltenden Krieg in Gaza und der zunehmenden Gewalt im Westjordanland ist es endlich Zeit, diese Bequemlichkeit aufzugeben und neue Wege für einen nachhaltigen Frieden zu finden. Doch gerade durch die schwere humanitäre Katastrophe in Gaza und die polarisierte Grundstimmung scheint der Frieden weiter in die Ferne gerückt zu sein. Dennoch gibt es alternative Vorschläge, wie ein Frieden zwischen Palästinensern und Israelis aussehen könnte. Welche Vorschläge sind das?

Einer der Vorschläge ist die Konföderation zwischen Israel und Palästina. Diese Idee sieht vor, dass zwei autonome Staaten, Israel und Palästina, entstehen, die durch gemeinsame Institutionen, beispielsweise im wirtschaftlichen Bereich, kooperieren, aber ihre Souveränität behalten. Die Grenzen wären durchlässiger als bei einer Zweistaatenlösung und würden Bewegungsfreiheit für alle Bürger garantieren. Jerusalem könnte als gemeinsame Hauptstadt beider Staaten fungieren und somit einen Sonderstatus erhalten.

Ein anderer Vorschlag ist die Einstaatenlösung, die seit langem von palästinensischen wie auch israelischen Intellektuellen und renommierten Wissenschaftlern diskutiert wird. Dieser Idee zufolge sollen Palästinenser und Israelis künftig in einem gemeinsamen Staat leben, der durch gemeinsame Institutionen und eine föderale Struktur mit kultureller und politischer Autonomie organisiert ist. Mit dieser Lösung würden viele der heute existierenden Probleme obsolet, jedoch erfordert ein solches Zusammenleben ein großes Maß an Toleranz und Respekt.

Erscheinen diese Lösungsansätze angesichts der politischen Verhältnisse und des Krieges in Gaza realistisch? Wohl kaum. Dennoch braucht es für die Menschen in der Region politische Visionen. Es wäre eine wichtige politische Botschaft an jene Menschen, die sich nicht gesehen und gehört fühlen. Wer aber trotz der Realität in Gaza und im Westjordanland weiter die Zweistaatenlösung beschwört, hat keine politische Vision, sondern möchte eine Fassade aufrechterhalten, die durchbrochen gehört. Bei der Diskussion um alternative Lösungsansätze geht es nicht darum, ob diese morgen realisiert werden können, sondern darum, eine politische Vision zu haben, die ohne Zerstörung, Leid und Hass funktioniert.

All diese alternativen Lösungsansätze zeigen letztlich: Kein Israeli kann wirklich sicher sein, solange nicht auch ein Palästinenser sicher ist. Eine echte Friedenslösung ist nur dann möglich, wenn die Sicherheit und Würde beider Völker gleichermaßen gewährleistet wird. Der erste Schritt für politische Akteure sollte es deshalb sein, Druck auf die israelische Regierung auszuüben und alle Waffenlieferungen einzustellen, um das Sterben in Gaza zu beenden. Zusätzlich sollte die globale Staatengemeinschaft den Staat Palästina anerkennen, um das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung anzuerkennen, wie es auch völkerrechtlich vorgeschrieben ist.

Trotz der aktuellen düsteren Situation in Gaza und im Westjordanland zeigen die diskutierten Alternativen, dass durchaus Wege zu einem friedlichen Zusammenleben existieren. Die Friedensbewegungen hierzulande, weltweit und insbesondere die starke Bewegung in Israel selbst zeigen eindrucksvoll: Durch gegenseitigen Respekt und Anerkennung lässt sich eine Zukunft gestalten, in der alle Menschen in Frieden und Würde leben können. Es liegt nun an der internationalen Gemeinschaft, diese politischen Visionen ernst zu nehmen und aktiv an ihrer Verwirklichung zu arbeiten, anstatt sich bequem auf die Zweistaatenlösung zu berufen.

Ein Beitrag von Mehmet Mustafa Sis

Referenzen

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