In Nordrhein-Westfalen (NRW) wurde am 15. Mai gewählt. Eine kleine Bundestagswahl, wenn man Medienschaffenden Glauben schenken mag. Ein Blick von außen auf die niedrige Wahlbeteiligung.
Kleine Bundestagswahl? Ja, immerhin waren ein Fünftel der in Deutschland Wahlberechtigten aufgerufen, eine ihre Stimme abzugeben. Allerdings taten dies am Ende nur 55,5 Prozent. Nie waren es weniger. Noch viel alarmierender scheint auf den ersten Blick die Wahlbeteiligung in klassischen sozialdemokratischen Wählermilieus und Wahlbezirken. In manchen Wahlkreisen lag die Wahlbeteiligung unter 50, in Duisburg III sogar unter 40 Prozent. Die Datenlage zeigt Zusammenhänge auf: Je ärmer, je prekärer die Lebensverhältnisse, desto niedriger ist die Wahlbeteiligung. Ein Trend, der nicht erst bei dieser Wahl beobachtbar ist.
Die Kandidaten
Der SPD-Spitzenkandidat Thomas Kutschaty äußerte sich besorgt: „Es ist insgesamt schlecht für die Demokratie, wenn nur gut jeder Zweite zur Wahl gegangen ist.“ Schlecht ausgegangen ist es vor allem für die SPD. Der Politikwissenschaftler Klaus Schubert von der Universität Münster führte die Wahlbeteiligung „spezifisch auf den Wahlkampf und die Kandidaten“ zurück. Hauptgründe für die niedrige Wahlbeteiligung sollen also allein Kommunikation sein – und nicht, dass die SPD seit Jahren nicht mehr die Partei der Arbeitenden und Marginalisierten ist. Keine Kritik am neoliberalen Abbau des Sozialstaates. Nein, allein die Beliebigkeit des SPD-Kandidaten soll der Grund sein.
Sein Gegenspieler aus den Reihen der CDU gab sich modern, aufgeklärt und nah an den Menschen. Dabei ist er wohl mehr ein weichgespülter Hardliner. Die F.A.Z. schrieb, er sei ein „hart gesottener Wadenbeißer“. 2009 titelte die taz „CDU-General Wüst wütet“. Damals als Generalsekretär der NRW-CDU war Wüst in einen Korruptionsskandal verwickelt und ließ seinen Ärger an Mitarbeitenden aus. Im Jahr darauf konnte man für 6.000 Euro ein persönliches Gespräch mit dem damaligen Regierungschef kaufen. Rent-a-Rüttgers hieß das damals. Zwar würde er sich nicht als reich bezeichnen, aber Nebeneinkünfte hat der Ministerpräsident trotzdem: 100.000 Euro – mittleres Einkommen natürlich. Dafür ist Jagd sein Hobby – ein konservativer Posterboy.
Für wen wird Politik gemacht?
Na, wenn man bei so einem Konservativen keinen guten links-progressiven Wahlkampf bestreiten kann. Da könnte man eigentlich etwas kommuniziert bekommen, das sich abhebt. Sollte man denken. Vielleicht ist es eben nicht ganz so einfach, wie sich die Wahlforscherende sich das in ihrem Büro in Münster vorstellen. Genauso könnten die Demoskop*innen behaupten, dass das Wetter an dem Wahlsonntag vielleicht einfach zu gut war – zumindest für das Prekariat. Oder, und das wäre mal ein guter Vorschlag, sie schauen sich an, welche Interessen die SPD seit Jahrzehnten vertritt. Cui Bono – Wem zum Vorteil (wird Politik gemacht)?
José Saramagos Roman Die Stadt der Sehenden handelt von einer Reihe merkwürdiger Ereignisse. In einer Hauptstadt, die namenlos bleibt und sich in einem nicht näher definierten demokratischen Land befindet, kommt es am Morgen der Kommunalwahl zu sintflutartigen Regenfällen. Die Wahlbeteiligung ist in den Morgenstunden beunruhigend niedrig. Am Nachmittag, als das Wetter umgeschlagen ist, strömen die Bürger*innen in die Wahllokale. Doch die Erleichterung währt nur kurz, denn bei der Auszählung der Stimmen stellt sich heraus, dass mehr als 70 Prozent der Wahlzettel leer abgegeben wurden. Die Wahl wird wiederholt: Diesmal sind mehr als 80 Prozent der Stimmzettel leergeblieben. Die Lehre aus dem Roman ist klar: Die Stimmenthaltung ist ein politischer Akt. Und dieser konfrontiert uns mit der Leere unserer Demokratie.
Das Bundesland der Sehenden?
In NRW haben sich die meisten Menschen nicht für die CDU entschieden, sondern für die Stimmenthaltung. Bereinigt heißt das: Nur 20 Prozent der Wahlberechtigten stimmten für die CDU, 15 Prozent für die SPD und so weiter. Die Partei der Stimmenthalter*innen zieht mit 44,5 Prozent in den Landtag ein. Und was ist eigentlich mit denen, die in NRW leben, aber gar nicht wählen dürfen?
Statt dass man die Motive der Wähler*innen ergründet, wird der Ausnahmezustand verhängt. Diktatorische Maßnahmen greifen, Panzer patrouillieren durch die Stadt, willkürliche Verhaftungen folgen. Also im Roman. Und in der deutschen Politik? Da sorgt man sich mit moralischer Keule um die Demokratie, als wäre es das Prekariat in Duisburg gewesen, das das Absterben des Sozialstaates angeschoben hat. Es sind sozialdemokratische Politiker*innen, die die Interessen derer nicht mehr vertreten, von denen sie erwarten, gewählt zu werden.
Mut zur Hoffnungslosigkeit
Im Gegensatz zu den Politolog*innen aus Münster sehen die Duisburger*innen, dass das, was da zur Wahl stand, keine Gründe lieferte, zur Wahlurne zu gehen. Oder sogar noch drastischer: NRW ist ein Bundesland der Sehenden. Sie haben erkannt, dass die momentane Leere der Demokratie nichts für sie bereithält. Deshalb muss die niedrige Wahlbeteiligung der kleinen Bundestagswahl in NRW als Kritik der politischen Institutionen der liberalen Demokratie verstanden werden. Einer marginalisierten gesellschaftlichen Linken bleibt nur der Mut der Hoffnungslosigkeit.
Doch aus dieser Hoffnungslosigkeit kann etwas erwachsen. Die systemische Kritik muss kanalisiert und organisiert werden, um progressive Politik im Sinne der Mehrheit gestalten zu können. Ob vor der Kohlegrube im besetzten Lüzerath oder in Duisburg Marxloh: Die Wurzeln für radikale Veränderungen haben sich im nordrheinischen Boden tief verankert.