In Indien gibt es mittlerweile 5.979 bestätigte COVID-19-Fälle (Stand: 9. April 2020), 313 mehr als am Tag zuvor. 183 Menschen sind bereits gestorben. Die meisten Infizierten, 1.153, wurden in der Maharashtra-Region gezählt. Alle aktuellen Zahlen in jedem indischen Bundesstaat können hier verfolgt werden.
Eine richtige Dokumentation und Registrierung von COVID-19-Infizierten durch die indische Bürokratie kann nicht gewährleistet werden. Die Dunkelziffer ist sicherlich höher und es gibt viele Menschen, die wahrscheinlich infiziert sind, sich jedoch nicht testen lassen können.
21-tägige Ausgangssperre
Indien befindet sich seit dem 24. März in einer landesweiten, 21-tägigen absoluten Ausgangssperre – also bis zum 15. April – die es so bisher noch nie in Indien gab. Damit soll die Ausbreitung des Coronavirus in diesem dicht besiedelten Land mit 1,3 Milliarden Menschen verhindert werden.
Premierminister Narendra Modi hielt am 24. März eine Rede und verkündete diese Ausgangssperre ohne große Vorwarnungen in seinen vorherigen Reden. Er betont in den nachfolgenden Reden: „Soziale Distanzierungsmaßnahmen sind in dieser Zeit sehr wichtig“ und applaudierte für Ärztinnen, Ärzte, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Gesundheitswesen als die „Soldaten an der Frontlinie“. Doch dabei lässt er außer Acht, wie sehr diese sozialen Distanzierungsmaßnahmen Privilegien sind, denn das bedeutet, genug Platz zu Hause zu haben, um sich von anderen Menschen fernzuhalten. Es bedeutet, dass man es sich leisten kann, in Quarantäne zu leben, ohne arbeiten zu müssen. Sich die Hände regelmäßig waschen zu können, ist ebenfalls ein Privileg, denn das bedeutet Zugang zu fließendem sauberem Wasser zu haben. Desinfektionsmittel und Masken sind ebenfalls Privilegien.
Modis Reden sind mit vielen unnötigen rhetorischen Floskeln und Gestiken geschmückt, er erlässt jedoch keine ernsthaften Maßnahmen, um den Ärmsten der Arbeiterinnenklasse und migrantischen Arbeiterinnen und Arbeiter in dieser krisenhaften Situation beizustehen. Kein Wort darüber, wie die Armen in den kommenden Wochen Zugang zu Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern erhalten sollen. Stattdessen organisiert die Regierung Sonderflüge, um Inderinnen und Inder aus China, dem Iran und Italien nach Hause zu bringen. Die Mittelschicht Indiens kauft auf Vorrat ein, drängt sich in den Läden und auf den Märkten mit Masken, was für die Armen, die Migrantinnen, Migranten Kleinverkäuferínnen, Hausangestellte und Landarbeiterinnen nicht so leicht möglich ist.
Inmitten der Anti-Regierungsproteste
Inmitten der andauernden Anti-Regierungsproteste, gegen CAA (Citizenship Amendment Act), NRR (National Population Register) und NRC (National Register of Citizens) seit Dezember 2019, kommt die gewaltvoll durchgesetzte Ausgangssperre der Regierung zu Gute. Das allein könnte ein Grund sein, sie zu verlängern.
Die neue Situation mit der Coronavirus-Pandemie verlangt eine Neuorganisierung der Widerstandsbewegung, vor allem nach den gewalttätigen Angriffen der Polizei auf die Demonstrienden in Delhi. Der Staat lässt auch Symbole des Widerstandes wie die Malereien an Jamia Millia Islamia in Delhi mit anderen Graffiti-Kunstwerken übermalen.
Swapna Gopinath schlägt bei Peoplés Review folgendes vor: „Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, unsere sozialen Medien und andere Online-Plattformen so kreativ wie möglich zu nutzen. Plakate, Designs, Briefe, Kunstwerke jeder Art können zur Verbreitung des Wortes verwendet werden. Es könnten mehr musikbasierte Videos unter Freunden und Gruppen auf Facebook und anderen Plattformen verbreitet werden. Es kann auch helfen, Online-Petitionen in großer Zahl zu starten und Sensibilität für die Thematik zu schaffen. Online-Graffiti kann eine beliebte und effektive Form der Kommunikation mit den Millionen von Nutzern sozialer Medien sein. Auch das Verbreiten von Newslettern oder Postkarten können wirksame Mittel sein, um die Dynamik des Protests aufrechtzuerhalten, während wir gezwungen sind, uns in geschlossenen Räumen und von öffentlichen Orten fernzuhalten.“
Für die ehemaligen indischen Bundesstaaten Jammu und Kaschmir – seit dem 31. Oktober 2019 in zwei Unionsterritorien geteilt – ist diese Ausgangssperre nun keine besonders neue Situation, da sie sich seit dem 5. August 2019 in Ausnahmesituationen befinden. Diese Menschen sind besonders in Gefahr, da sie völlig abgegrenzt vom Rest der indischen Nation sind.
Phase 3
Indien befindet sich zurzeit in Phase 3. Dies ist die kritischste Phase während eines Krankheitsausbruchs. In Phase 3 breitet sich eine Epidemie schnell aus, da es schwierig wird, die ursprüngliche Übertragungsquelle zu ermitteln. Dr. Girdhar Gyani, der Leiter einer Task Force zu den COVID-19-Krankenhäusern, sagt in einem Interview mit The Quint: „Wir nennen es Stufe 3. Offiziell dürfen wir sie so nicht nennen – aber es ist der Beginn von Phase 3.“ Dr. Gyani ist Gründer der Association of Healthcare Providers, einer Task-Force zur Eindämmung von Covid-19.
Laut Gyani sind die nächsten fünf bis zehn Tage entscheidend für die Kontrolle der Epidemie, da diejenigen, die asymptomatisch sind, beginnen könnten, Symptome zu zeigen: „Wir haben wenig Zeit für die Vorbereitung der COVID-19-Krankenhäuser, da der Ausbruch in Indien in den kommenden Wochen jeden Tag passieren kann. Wir haben noch nicht genügend geschultes medizinisches Personal und COVID-19-Krankenhäuser“. Der Ausbruch hat jedoch bereits stattgefunden und in den letzten Tagen ist die Rate der Infizierten exponentiell gewachsen.
Weiter heißt es von Gyani: „Einige Wohnheime der medizinischen Hochschulen haben ihre Studenten gebeten zu räumen. Der Premierminister sagt, dass sie das nicht tun sollten, stattdessen sollten die Studenten des letzten Jahres dort bleiben, damit sie in Notfällen helfen können… und dass die Studenten des letzten Jahres ein Zertifikat erhalten und mit ein wenig Training in COVID-19-Krankenhäusern eingesetzt werden könnten.“ Des Weiteren gibt es nicht genügend Kapazität, Menschen zu testen. Die Regierung testet „nur diejenigen, die alle drei Symptome zusammen haben – Husten, Atembeschwerden und Fieber“. Bei nur einem dieser Symptome werden sie nicht getestet. Es gibt nicht genügend Ausstattung für Ärztinnen, Ärzte, Krankenschwestern und in Krankenhäusern, um Patientinnen und Patienten zu behandeln und viele Ärztinnen und Ärzte in Kolkata weigern sich nun, zu arbeiten.
Gewaltvolle Methoden der Polizei und Behörden
Die übereilte Entscheidung der Zentralregierung, eine Ausgangssperre einzuführen, ohne sich um das Wohlergehen der Tausenden von migrantischen Arbeiterinnen und Arbeiter im Land zu sorgen, hat im ganzen Land Panik und Verwüstung ausgelöst. Vor allem arme Menschen aus der Arbeiterinnenklasse und migrantische Arbeiterinnen und Arbeiterkonnten sich nicht hinreichend auf diese 21-tägige Ausgangssperre vorbereiten, sodass sie genug Zeit gehabt hätten, Lebensmittel sowie Hygieneartikel auf Vorrat zu kaufen. Oft ist dies finanziell überhaupt gar nicht möglich. Es gibt viel Verwirrung und Auseinandersetzungen mit der Polizei, die diese Ausgangssperre mit gewaltvollen Methoden durchsetzt. Arbeiterinnen und Arbeiter können es sich nicht leisten, zu Hause zu bleiben und versuchen weiterhin, ihrer Arbeit nachzukommen, um ihre Familie zu ernähren. Polizistinnen und Polizisten schlagen und misshandeln Menschen, die sich außerhalb ihrer Häuser befinden.
BBC schreibt über Suresh Shah und seinen Bruder Ramprasad, die seit 15 Jahren in Noida, einem Vorort von Delhi, Gemüse verkaufen. Suresh Shah berichtet von den Misshandlungen der Polizei von Delhi: „Ich wurde so hart getroffen, dass ich auch heute noch mit den Schmerzen beim Sitzen kämpfe. Aber was noch mehr schmerzt, ist, dass es ein großer Verlust für mich war, da ich nur etwa 300 Rupien pro Tag an Gewinnen mache.“ Weiter erklärt sein Bruder Ramprasad Shah: „Wir müssen hinausgehen und Geld für unsere Familien verdienen. Aber noch wichtiger ist, dass die Menschen Vorräte brauchen, und wir helfen ihnen, in ihren Häusern zu bleiben. Wir brauchen Unterstützung und keine Schläge und Übergriffe.“
In Bareilly, Uttar Pradesh, ereignete sich letzten Sonntag ein schockierender Vorfall, bei dem Migrantinnen und Migranten, die in ihre Häuser in Uttar Pradesh zurückkehrten, von einem Desinfektions-Team, mit Natriumhypochlorit (NaClO) besprüht wurden. NaClO wird in großem Umfang als Bleichmittel in der Textil-, Waschmittel-, Papier- und Zellstoffindustrie, und ebenso als Desinfektionsmittel verwendet. Mohd Afzal, einer der Migranten, sagte zu ABP LIVE: „Etwa 50 von uns saßen am Shuttlebus und warteten auf Essen und den Bus, als einige Männer in Schutzanzügen kamen und anfingen, uns mit Wasser zu besprühen. Sie sagten, dass sie das Desinfektions-Team bildeten und uns desinfizieren würden. Die Kinder fingen an zu weinen, und auch die Frauen waren schockiert.“ Kinder bekamen Juckreiz in den Augen und einige Frauen bekamen Ausschlag.
In Howrah wurde der 32 jährige Lal Swami von der Polizei zu Tode geprügelt, weil er während der Ausgangssperre auf der Straße war, um auf dem Markt Essen einzukaufen. Die Polizei verteidigt sich und behauptet, er sei an einem Herzinfarkt gestorben.
Die ärmsten und migrantischen Arbeiterinnen und Arbeiter im informellen Sektor
Die Mehrheit der Menschen in Indien, etwa 81 Prozent der Arbeiterinnenklasse, arbeitet im informellen Sektor. Die 21-tägige Ausgangssperre ist ein großes Problem für die Ärmsten dieser Bevölkerung. The WireStaff schreibt: „Fast die gesamte Beschäftigung in der Landwirtschaft (94,7 Prozent) ist in der asiatisch-pazifischen Region informell, und sie erreicht in Südasien, einen Höchststand von 99,3 Prozent. Im Industriesektor stellt die informelle Beschäftigung mit 68,8 Prozent einen höheren Anteil dar als im Dienstleistungssektor mit 54,1 Prozent.“
Die meisten Menschen, sind nicht versicherte und informelle Arbeiterinnen und Arbeiter. Nur wenige arbeiten im Staatssektor oder mit Verträgen im Privatsektor. Die meisten Privatsektoren sowie die Regierungsinstitutionen setzen auf Leiharbeit. Die Beschäftigten können nach Belieben eingestellt und entlassen werden, je nachdem wie Arbeit verfügbar ist. Darunter fallen alle Arbeitssektoren der Dienstleistung, der Handarbeit etc. Die Transaktionen des Marktes basieren sehr stark auf informellen Arbeiterinnen und Arbeiter, den kleinen Verkäuferinnen und Verkäufern, bis zu den Personen, die Schachteln oder Kartons von der Fabrik in die Läden tragen. All diese wichtigen Bereiche der Wirtschaft sind informell. Nur sehr wenige davon werden von Einzelhandelsgeschäften kontrolliert.
Nach dem Buch The Indian Big Bourgoisie: Its Genesis, Growth and Character basieren 70 Prozent der indischen Wirtschaftsleistung auf Landwirtschaft, die nicht unter einer großkapitalistischen oder staatlich geförderten Maschinerie industrieller Arbeit steht, also auf informeller Wirtschaft.
Problematisch ist, dass ein großer Teil der Bevölkerung von der saisonalen Landwirtschaft abhängig ist. Für ein halbes Jahr bewirtschaften sie den Acker auf ihrem kleinen Stück oder auf gepachtetem Land. In den nächsten sechs Monaten ziehen sie in die Städte und verrichten verschiedene Arten von Handarbeit.
Generell sind indische Städte auf eine große Zahl von Arbeitskräften angewiesen, die aus dem Rest des Landes kommen. Diese Arbeitskräfte suchen nach Möglichkeiten auf Arbeit in Städten und lassen ihre Familien oft für Monate oder Jahre zurück. Solche Arbeit ist beispielsweise auf dem Bau zu finden, in Personalrestaurants, oder bei Taxis etc. Meist sind diese Tätigkeiten schlecht bezahlt und prekär.
So sind migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter von der Pandemie, der nationalen Abriegelung und der wirtschaftlichen Notlage schwer getroffen. Sie sind nun gezwungen, tausende von Kilometern zu Fuß nach Hause zu laufen, das Wichtigste Hab und Gut in Säcke gepackt. Bilder dieses wandelnden Exodus kursieren im Internet. Alle öffentlichen Transportmittel sind außer in Betrieb. Die meisten dieser Menschen sind Männer, überwiegend jung, aber es gibt auch einige Familien darunter.
Die Eisenbahn ist das Rückgrat des indischen Verkehrssystems. Sie wurde mit fast sofortiger Wirkung am Sonntag, den 26. März ausgesetzt. Zwei Tage später verkündete Premierminister Modi die Sperrung ganz Indiens. Diese schnelle Abschaltung der Transporte bedeutet, dass Millionen von Binnemigrantinnen keine Zeit hatten, nach Hause zu kommen. Wanderarbeiterinnen sind mit praktischen Herausforderungen konfrontiert: Ihre Geldmittel erschöpfen sich, Hauseigentümerinnen weigern sich, die weitere Unterbringung ohne Zahlung der Miete zu erlauben. Sie müssen fürchten, ohne Essen und Wasser auszukommen.
Es ist nicht genau klar, wie viele zu Fuß unterwegs sind. Einige haben Glück und schafften es, auf Lastwagen mitzufahren oder sich in Privatbusse zu zwängen. Einige wenden sich an Schmuggler. Nach einem Bericht von The Indian Express fanden die Behörden Hunderte von Menschen in Lastwagen zusammengepfercht.
Noch am 24. März setzten Tausende von Arbeiterinnen und Arbeitern in etwa 200 Teegärten im nördlichen Westbengalen ihre Arbeit fort, obwohl Mamata Banerjee, Vorsitzende der westbengalischen Regionalpartei All India Trinamool Congress (AITC) und seit 2011 Chief Minister vom Bundesstaat Westbengalen, am Vorabend eine vollständige Sperrung ankündigte. Dies löste eine Kontroverse aus, denn in den Darjeeling-Bergen und der Region Dooars in Westbengalen gibt es 283 Teegärten, in denen 350.000 fest angestellt und Gelegenheitsarbeiterinnen sind. Sie verdienen neben der Wochenration 176 Rupien pro Tag, was umgerechnet etwa 2 Euro sind. Weitere 40.000 Pflanzer erstrecken sich über die Bezirke Darjeeling Japlaiguri und Alipurduars, die Tausende von Arbeiterinnen und Arbeitern beschäftigen.
Die meisten dieser Gärten waren am Dienstag trotz Ausgangssperre nicht geschlossen und weiterhin in Betrieb. Arbeiterinnen und Arbeiter sind verwirrt und wegen eines Lohnausfalles in Panik. Am 25. März kamen viele Arbeiterinnen und Arbeiter der Teegärten nicht mehr zur Arbeit. Ein Manager dieser Teegärten sagte der Hindustan Times: „Dies ist die Zeit für die erste Blütezeit, die den höchsten Preis erzielt und uns hilft, das ganze Jahr zu überleben. Eine Schließung der Gärten würde enorme Verluste bedeuten. Außerdem würden die Arbeiter Löhne und Rationen verlangen, wenn wir die Gärten aus eigener Kraft schließen. Soll die Verwaltung sie doch schließen, wenn sie wollen.“
Wenn die Verwaltung nicht Sofortmaßnahmen ergreift und keine Löhne und Rationen sichern kann, dann ist dies ein großes Problem. Laut Dheeraj Mishra weigert sich Indiens Finanzministerin, Nirmala Sitharaman, die Kohlrabi-Ernte zu subventionieren und den Bauern und Bäuerinnen einen angemessenen Preis zu bieten.
Selbstorganisierte Hilfsaktionen
Menschen mit Essen und Medizin zu versorgen, ist momentan die größte Herausforderung. Es gibt Hilfsaktionen, die Lebensmittel, Masken und Medizin in Dörfern und Slums an die Ärmsten und migrantischen Arbeiterinnen und Arbeiter verteilen. Diese massiven Sofortmaßnahmen sind gerade sehr wichtig:
Das Quarantined Student-Youth Network kommuniziert überwiegend in einer Facebook-Gruppe und stellt Anfragen in Westbengalen online, wie zum Beispiel dringende Anfragen für Blutspenden, oder den Kauf von Medizin, Essen und Masken. Fotos werden hochgeladen, die zeigen wie Nahrungsmitteln und andere Hygieneartikel an bedürftige Menschen verteilt werden, auch der Transparenz wegen.
Die Initiative von Studierenden der Jadavpur Universität Kolkata kümmert sich um die Herstellung, Abfüllung und Verteilung von Desinfektionsmitteln und Lebensmitteln an gefährdete Bevölkerungsgruppen und an diejenigen, die noch im Freien arbeiten müssen, wie zum Beispiel Wachpersonal oder Mitarbeiterinnen von Lebensmitteltransporten.
Eine weitere Gruppe ist der Studierendenverband, Students‘ Federation of India (SFI). Sie versuchen vor allem, migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter in dieser kritischen Situation zu unterstützen. Verschiedene Staatskomitees der SFI haben Kampagnen gestartet, um die Botschaft der Landesregierungen und der Gesundheitsministerien unter den Gastarbeiterinnen und migrantischen Arbeiterinnen und Arbeitern und ihre Familien in verschiedenen Sprachen zu verbreiten. Des Weiteren gibt es das Online-Crowdfunding-Netzwerk Our Democracy von Bilal Zaidi, das finanzielle Beiträge für die Schwächsten leistet.
Im Moment ist nicht unbedingt die Finanzierung das Problem. Die größere Herausforderung besteht darin, genügend Reis, Kartoffeln usw. zu sammeln und zu verteilen. Nicht alle Märkte sind komplett geschlossen. Es gibt noch Möglichkeiten, zu bestimmten Uhrzeiten und auf bestimmten Märkten Essen zu kaufen. Die Situation der wirtschaftlich rückständigen Menschen wird sich in der Rezession sehr bald verschlechtern. Sie brauchen finanzielle Unterstützung.
Indien war zwischen 2015 und 2019 nach Saudi-Arabien zweitgrößter Rüstungsgüter-Importeur der Welt. Deutschland trägt hier auch Verantwortung. Im September 2019 wurden erneut mehrere Waffengeschäfte mit Krisenstaaten genehmigt, darunter auch Indien. Dieses Geld könnte für die armen und die migrantische Arbeiterinnenklasse viel besser genutzt werden.
Karitative Hilfen sind wichtig als Sofortmaßnahmen, jedoch wird dies den Ärmsten und der migrantischen Arbeiterinnenklasse nicht dauerhaft helfen. Es braucht ein politisches Programm, das einen Ausweg zeigt, wenngleich in der aktuellen Situation keine Massenproteste auf der Straße zur Umsetzung möglich sind.
Konkrete Handlungsmaßnahmen
P. Sainath ist Gründer und Redakteur von People’s Archive of Rural India und schlägt bei TheWire folgende konkrete Handlungsmaßnahmen vor, für die auch Deutschland beisteuern könnte:
„Das allererste, was getan werden muss: die Vorbereitung der Notfallverteilung unserer fast 60 Millionen Tonnen ‚überschüssiger‘ Nahrungsmittelgetreidebestände. Und wir müssen sofort die Millionen von Wanderarbeitern, migrantischen Arbeiterinnen, Arbeitern und anderen Armen erreichen, die von dieser Krise betroffen sind. Alle derzeit geschlossenen Gemeinschaftseinrichtungen (Schulen, Hochschulen, Gemeindehäuser und -gebäude) müssen zu Unterkünften für gestrandete Migrantinnen, Migranten und Obdachlose erklärt werden.
Die zweite ebenso wichtige Maßnahme ist, alle Bauern dazu zu bringen, in der Kharif-Saison Nahrungspflanzen anzubauen. Wenn der gegenwärtige Trend anhält, droht eine schreckliche Hungersnot. Sie werden nicht in der Lage sein, die in dieser Saison geernteten Feldfrüchte zu verkaufen. Der Einstieg in den Marktfruchtanbau könnte sich als tödlich erweisen. Ein Impfstoff oder ein Heilmittel gegen das Coronavirus scheint noch viele Monate entfernt zu sein. In der Zwischenzeit werden die Nahrungsmittelvorräte schwinden.
Die Regierungen müssen helfen, die Produkte der Bauern in großem Stil aufzukaufen und zu verteilen. Viele waren nicht in der Lage, die Kohlrabi-Ernte abzuschließen, da die soziale Distanzierung und die Abriegelungen in Kraft sind. Wer ernten konnte, kann die Produkte nirgendwohin transportieren oder verkaufen. Selbst für die Nahrungsmittelproduktion im Karif werden die Landwirte ein Ökosystem von Betriebsmitteln, unterstützenden Dienstleistungen und Hilfe bei der Vermarktung benötigen.
Die Regierung muss bereit sein, private medizinische Einrichtungen im ganzen Land zu verstaatlichen. Den Krankenhäusern zu raten, eine „Corona-Ecke“ zu haben, wird alleine nichts bringen. Spanien hat letzte Woche alle Krankenhäuser und Gesundheitsdienstleister verstaatlicht, da es erkannt hat, dass ein gewinnorientiertes System dieser Krise nicht gewachsen ist.
Die Safai-Karmacharis (Reinigungskräfte für den öffentlichen Raum) müssen sofort alle von Regierung und Kommunen in Vollzeit beschäftigt und mit 5.000 Rupien pro Monat unterstützt werden – zusätzlich zu ihren bestehenden Gehältern – und mit vollen medizinischen Leistungen und Schutzausrüstung, die ihnen bisher immer verweigert wurden, ausgestattet werden. Wir haben drei Jahrzehnte damit verbracht, Millionen von bereits gefährdeten Sanitärarbeiterinnen weiter auszubeuten, sie aus dem öffentlichen Dienst auszusetzen und ihre Arbeit an private Unternehmen auszulagern – die dann dieselben Arbeiterinnen und Arbeiter zu niedrigeren Löhnen und ohne Leistungen wieder einstellten.
Die Mittagsmahlzeiten der ASHA-Arbeiter (Gesundheitspflgerinnen), der Anganwadi (Sozialarbeiterinnen) und der Arbeiterinnen und Arbeiter – die bereits an der Frontlinie des Kampfes stehen – müssen von der Regierung gestellt werden. Die Gesundheit und das Leben der Kinder Indiens liegen in ihren Händen. Auch sie müssen zu vollwertigen Arbeitnehmerinnen gemacht werden, sie müssen einen angemessenen Lohn erhalten und mit Schutzausrüstung ausgestattet werden.
Die Bauern und Arbeiter brauchen täglich Löhne, in Höhe von 6.000 Rupien pro Monat bis die Krise vorüber ist.“
Pandemien-Teil des Kapitalismus und Kolonialisierung
Edna Bonhomme schreibt bei Al Jazeera über die Verantwortung, die der globale Norden für die verursachten Krisen durch die Weltordnung im Bereich der öffentlichen Gesundheit trägt. Der globale Norden profitiert davon und betrachtet Epidemien im globalen Süden als Tragödien „anderer“. Der globale Süden sei jedoch nicht die Quelle, sondern Opfer von Ausbrüchen, die durch den Kapitalismus verschlimmert werden. Edna Bonhomme schreibt: „Pandemien treten nicht isoliert auf. Sie sind Teil des Kapitalismus und der Kolonialisierung. Die Länder, die in der jüngsten Vergangenheit um die Eindämmung und Kontrolle großer Epidemien gekämpft haben, von Haiti bis Sierra Leone, hatten vor diesen Krisen – teilweise als Folge ihrer kolonialen Geschichte – ein mangelhaftes öffentliches Gesundheitssystem. Darüber hinaus tragen die Produkte des Kapitalismus – vom Krieg über die Migration bis hin zur Massenproduktion und zum verstärkten Reiseverkehr – massiv zur Verbreitung von Krankheiten bei.“
Ein globales Gesundheitssystem könnte Pandemien wie COVID-19 besiegen, indem Weltmächte zusammenarbeiten müssen und Tests sowie einen möglichen Impfstoff gegen COVID-19 ohne Profitzwang kostenlos zur Verfügung stellen. Zugang zur Gesundheitsversorgung muss ein unbestreitbares Menschenrecht für alle und überall sein.
Ein Beitrag von Susheela Mahendran, sie ist Politikwissenschaftlerin, Künstlerin und freie Journalistin. Sie lebt in Indien
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