Bus und Bahn zum Nulltarif – Eine realistische Utopie?

Einen öffentlichen Nahverkehr ohne Fahrscheinautomaten und ohne Kontrolleure – das klingt erstmal utopisch. Einfach in die Bahn einzusteigen, ohne ein Ticket zu ziehen und ohne Angst, beim Schwarzfahren erwischt zu werden, wäre vielleicht eine Traumvorstellung für viele, doch ist sowas überhaupt machbar?

In jedem Fall hätte ein fahrscheinloser öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) einige enorme Vorteile.

Unabhängig vom monatlichen Einkommen kann dann jeder überall hinfahren, wann und wie es ihm oder ihr beliebt. Soziale Barrieren: abgeschafft. Wer zum Beispiel Hartz IV bezieht und am Ende des Geldes noch zu viel Monat übrig hat, kann es trotzdem ohne finanzielle Sorgen zum Jobcenter schaffen.

Der „Nulltarif“ wird auch vom „Netzwerk solidarische Mobilität“ (SoliMob) vorgeschlagen, denn, so das Netzwerk, Mobilität sei ein Menschenrecht.

Zudem kritisiert SoliMob die hohen Umweltbelastungen durch den heutigen Straßenverkehr, wie Luftverschmutzung und Verkehrslärm. Mit einem kostenfreien ÖPNV hingegen würden sich mehr Menschen gegen das Auto und für Bus und Bahn entscheiden und das Klima somit entlasten. Unfälle, Abgase und verstopfte Straßen gehören dann der Vergangenheit an.

Alles Kommunismus?

Das sei ja Quatsch, denn „niemand wird gezwungen, mit dem ÖPNV zu fahren“, konstatiert Dr. Stefan Hochstadt. Der Lehrbeauftragter des Masterstudiengangs „Städtebau NRW“ hat sich als Fachreferent der Piratenpartei mit dem Thema „fahrscheinloser Nahverkehr“ im nordrhein-westfälischen Landtag beschäftigt.

Er stellt fest, dass durch den anzunehmenden Anstieg an Fahrgastzahlen auch ein Ausbau des Verkehrsnetzes notwendig sein wird. Wo heute der Bus einmal die Stunde vorbei schaut, müsste es bei mehr Bedarf häufigeren und besser ausgebauten Verkehr geben, beispielsweise auf dem Land. „Es werden mehr Kapazitäten geschaffen werden müssen, es werden bessere ÖPNV Systeme erfunden werden müssen. Im Wesentlichen geht es darum, dass der ÖPNV große Mengen von Menschen gut zu ihren Zielen bringt.“

Finanzierung durch Umverteilung

Auf die Frage, wie ein solches Konzept wohl finanziert werden könne, gibt er zu bedenken, dass auch aktuell die Kosten des ÖPNV nicht alleine durch das Zahlen der Tickets gedeckt seien. „In Wirklichkeit ist schon heute die Finanzierungsquote über Umlagen, über Steuern, über andere Verfahren im ÖPNV bei über 50%“.

Dasselbe gelte allerdings auch für den motorisierten Individualverkehr (MIV): Dieser werde zu mindestens 80% nicht vom individuellen Autofahrer gedeckt, sondern vom Staatshaushalt mitfinanziert. „Das heißt, der Anteil der nicht von der Nutzung abhängigen Kosten ist schon heute so, dass wir, egal ob wir ein Auto haben oder nicht, den größeren Teil der Kosten für den Autoverkehr bezahlen“.

Die Idee bestünde also darin, ein einfacheres und faireres Finanzierungssystem einzuführen, indem man die Ausgaben umverteilt zugunsten der öffentlichen Verkehrsmittel.

Umsetzung dennoch schwierig

Finanziell also realisierbar – und dennoch hat Dr. Stefan Hochstadt Vorbehalte. Es brauche ausreichend politischen Willen, um juristische Fallstricke zu bewältigen. „Es gibt einige juristische Vorentscheidungen, dass eine allgemeine Bezahlungsverpflichtung für den ÖPNV nicht ohne weiteres möglich ist, weil es ein konkretes Angebot geben muss.“

Da es nicht in jedem Dorf ständigen Bus- oder Bahnverkehr gebe, bestehe zunächst auch keine juristische Grundlage für ein solches Projekt. Hier gebe es in der Tat noch viel Diskussionsbedarf. Doch wo ein politischer Wille sei, da sei auch ein Weg, ist sich der Fachreferent sicher. „Es gibt inzwischen mehrere Studien, die alle zu dem Ergebnis kommen, dass es möglich ist, die aber auch alle in unterschiedlicher Weise die Schwierigkeiten auf dem Weg dorthin benennen.“

Zudem wäre eine Umsetzung nur mit Beteiligung der Automobilgewerkschaften denkbar. Man müsse mit den Betriebsräten und den beschäftigten Menschen klar und offen diskutieren. Wichtig sei es, eine arbeitsplatzsichernde Politik zu garantieren, die dennoch eine bessere Mobilität ermöglicht, als die, die wir heute haben.

Mit gutem Beispiel voran

Erfolgreich realisiert wurde ein solches Projekt schon in mehreren Städten, beispielsweise 1997 in Hasselt, Belgien. Dazu Dr. Stefan Hochstadt: „Hasselt ist die erste Stadt, die einen nennenswerten kostenlosen ÖPNV eingeführt hat und damit auch extrem gute Erfahrungen gemacht hat. Hasselt war in einer ganz klassischen Dilemmasituation: Die Stadt hat eine Ringstruktur und hätte aufgrund des zunehmenden MIV einen zweiten Autostraßenring bauen müssen. Und in dieser Zeit hat sich die damalige Stadtregierung dazu entschlossen, diesen Weg nicht zu gehen, sondern die Busse umsonst fahren zu lassen und die Menschen, die in die Stadt kommen, draußen parken zu lassen. Das hat gut geklappt, auch in Hasselt wurden die Fahrgastzahlen enorm erhöht.“

Zudem gebe es heute mehr für die Menschen nutzbare Flächen, als es vorher der Fall war. Die Aufenthaltsqualität habe sich dadurch drastisch erhöht.

Stellt sich noch die Frage, wie es sich denn mit Touristen verhält, die das öffentliche Verkehrsnetz nutzen möchten. Auch hier gebe es verschiedene Möglichkeiten, erklärt Dr. Stefan Hochstadt. Er schlägt vor, dass diese ähnlich einer Kurtaxe automatisch bei Bezahlung der Hotelnächte Touristentickets erwerben und somit den ÖPNV ganz einfach mitnutzen können.

„Unterm Strich profitiert die Gesellschaft über eine verbesserte Umwelt, über verbessertes Klima, über fairere Mobilität, über ausgeglichenere Belastungen und über geringere Kosten“, ist er sich sicher. „Ich glaube, das Thema hat eine Menge Geschmack und ist auch sexy.“

Wie äußern sich die Parteien in ihrem Wahlprogramm zum Thema öffentlicher Nahverkehr?

Die Union von CDU/CSU setzt ihren Schwerpunkt auf Digitalisierung:

„Wir nutzen die Potenziale der Digitalisierung für den Öffentlichen Personennahverkehr – und machen ihn so noch attraktiver: Mit einem deutschlandweit einheitlichen digitalen Ticket: Einfach, schnell und unbürokratisch. (…) Im Schienenverkehr wollen wir innovative Technologien testen und die Elektrifizierung wichtiger Bahnstrecken vorantreiben. (…) Für die Reisenden wollen wir pünktliche Züge, ein gut getaktetes Nah- und Fernverkehrsangebot (Deutschlandtakt) und moderne Bahnhöfe in allen Regionen. (…) Wir werden mit den Bundesländern über einen verbilligten Zugang für Schüler, Azubis und Studenten zum öffentlichen Nah- und Regionalverkehr sprechen.“

Die SPD plant einen Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes:

„Wir wollen den öffentlichen Nahverkehr zu Vorbildern des nachhaltigen und energieeffizienten Verbrauchs entwickeln. (…) Für den Erhalt und den Ausbau und die barrierefreie Modernisierung des ÖPNV werden wir die Finanzhilfen des Bundes weiter zur Verfügung stellen und an den steigenden Bedarf anpassen. (…) Wir werden neue Mobilitätskonzepte wie Carsharing weiter fördern und mit mehr Modellprojekten das Verkehrsangebot im ländlichen Raum stärken. Gute Beispiele dafür sind Ruf- und Bürgerbusse. (…) Eine Privatisierung der Straßeninfrastruktur und der Infrastrukturgesellschaft Verkehr bleibt ausgeschlossen.“

Die Linke sieht den Nulltarif als ein Grundsatzthema an:

„Wir wollen deutlich günstigere Fahrpreise, flächendeckend Sozialtickets für einkommensschwache Haushalte, eine Sozial-Bahncard sowie kostenlose Schüler- und Azubitickets. Unser Ziel ist der solidarisch finanzierte Nulltarif im ÖPNV für alle. Einstweilen soll das »Schwarzfahren« entkriminalisiert und nicht härter bestraft werden als Falschparken. (…) Öffentlicher Personennahverkehr und Fernverkehr müssen in öffentlicher Hand organisiert sein. (…) Statt neue Autobahnen zu bauen, wollen wir den Ausbau des ÖPNV sowie des Rad- und Fußverkehrs in den Kommunen und Regionen finanzieren. (…) Wir wollen eine Mobilitätsgarantie für den ländlichen Raum: Anbindung zum nächsten Oberzentrum mindestens im Stundentakt.“ Des Weiteren fordert die Partei einen „kostenfreien Fahrdienst für Schwerbehinderte oder Kranke, die den öffentlichen Nahverkehr nicht nutzen können“.

Die Grünen fordern eine „grüne und soziale Mobilität“:

„Dafür werden wir Elektromobilität im Straßenverkehr gezielt stärken (…). Mit einer Smartcard oder App werden sämtliche Angebote des öffentlichen Verkehrs wie auch Car- und Bikesharing abrufbar sein. (…) Allen Menschen, die mit wenig Geld auskommen müssen, machen wir besonders günstige Angebote. (…) Das Investitionsprogramm „Zukunftsprogramm Nahverkehr“ schafft ein verbessertes Angebot im ÖPNV – auf dem Land und in der Stadt. (…) [Wir] stehen einem umlagefinanzierten ÖPNV offen gegenüber. (…) Wir wollen (…) in der nächsten Legislatur bundesweit zehn Kommunen fördern, die auf einen umlagefinanzierten und kostenfreien ÖPNV umsteigen wollen. (…) Wir GRÜNE wollen den öffentlichen Verkehr Umwelt im Kopf stärken und die Fahrgastzahlen verdoppeln.“

Die FDP favorisiert Privatisierungen im öffentlichen Nahverkehr:

„Wir Freie Demokraten sprechen uns für öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) im Verkehrsbereich aus. Dabei kooperieren Staat und Unternehmen, damit die Steuerzahler von der Effizienz, Schnelligkeit und Flexibilität privatwirtschaftlicher Unternehmen profitieren können. (…) Der Bund muss deutlich mehr Mittel für Verkehrswege bereitstellen. Und das nicht nur für Bundesautobahnen oder -fernstraßen, sondern auch für den schienengebundenen ÖPNV. (…) Wir Freie Demokraten setzen uns für eine Digitalisierungsoffensive im Verkehrswesen ein. (…) Wir fordern zudem, dass der öffentliche Personennah- und Fernverkehr seine aktuellen Fahrplandaten in standardisierter, maschinenlesbarer Form, der Öffentlichkeit frei verwendbar, zur Verfügung stellen muss.“

Die AfD ist da etwas wortkarger:

„Im Schienenverkehr braucht unser Land ein gut ausgebautes und aufeinander abgestimmtes Nah- und Fernverkehrsnetz.“ Sie fordern „keine Öffentlich-Private Partnerschaft (ÖPP) bei Projekten der öffentlichen Infrastruktur“.

Ein Gastbeitrag von Mareen Butter, sie bloggt auf Globustrotter

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