Bei den jüngsten Eskalationen zwischen Armenien und Aserbaidschan kam es zu Dutzenden Toten auf beiden Seiten. Der Konflikt offenbart viel über das politische Regime in Baku, dessen Präsident Ilham Aliyev sich hierbei immer mehr dem Druck islamistischer Kräfte im Inland sowie den Machenschaften des türkischen Präsidenten Erdoğan im Hintergrund ausgesetzt sieht.
Es war interessant, dass während der militärischen Gefechte zwischen dem 12. und 16. Juli Reçep Tayyip Erdoğan mehr zu den Ereignissen zu sagen hatte als der aserbaidschanische Staatspräsident Ilham Aliyev. Täglich gab es vor allem seitens des türkischen Verteidigungsministeriums neue Erklärungen, welche die Solidarität zwischen Baku und Ankara betonten und Armenien mit Vergeltung drohten. Zwar drohte eine Sprecherin des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums mit einem Raketenangriff auf das einzige Atomkraftwerk in Armenien; allerdings ist diese Drohung weder neu noch seriös, da ein solcher Abschuss auch Aserbaidschan und die gesamte Region in Mitleidenschaft ziehen würde.
Die Regierung in Baku verhielt sich weitestgehend erstaunlich ruhig, rief sogar am 15. Juli in einem Kommuniqué zur Ruhe auf und mahnte an, sich nicht von Provokationen beeinflussen zu lassen. Jener 15. Juli steht aber nicht nur für den Jahrestag des Putschversuchs in der Türkei, sondern auch für die größte Demonstration in Aserbaidschan seit Jahren. Was ging dieser Massenkundgebung voraus? Am 12. Juli griff Aserbaidschan die nordarmenische Provinz Tavush mit Artilleriefeuer an und versuchte wahrscheinlich, einen Militärposten zu erobern, der strategisch wichtig und unweit der Pipeline ist, die nach Georgien bis hin in die Türkei und Russland führt. Die armenischen Streitkräfte konnten diesen eher unkoordinierten Angriff zurückschlagen, wobei die Schusswechsel mehrere Tage andauerten und auf beiden Seiten zweistellige Opferzahlen forderten.
Geläufig ist von Karabach die Rede, wenn es um den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan geht. Die armenisch kontrollierte Region blieb aber während der ganzen Tage der Auseinandersetzungen von den Angriffen verschont; die Front blieb ruhig und war gar nicht Gegenstand der Eskalation.
Hintergrund des Manövers
Demonstrationen sind in Baku selten und werden erst recht nach schneller Zeit aufgelöst, wenn sie sich kritisch zum Regime äußern. Die Demonstration am 15. Juli mit etwa 30.000 Teilnehmenden hatte insofern einen ambivalenten Charakter, als dass Präsident Aliyev von rechts unter Druck gesetzt werden sollte. Beschimpfungen in Richtung armenischer Seite sind in den nationalistischen Kreisen Aserbaidschans eine Gewohnheit, sodass es daher keine Überraschung war, als „Tod den Armenier*innen” gerufen wurde. Immer wieder gab es dabei auch religiöse Parolen und auch die türkische Fahne und der Gruß der türkisch-faschistischen Grauen Wölfe durfte nicht fehlen.
Einigen der Demonstranten gelang es sogar, in das Parlament einzudringen, von wo sie dann aber schnell von den Sicherheitskräften herausgedrängt wurden. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Demonstration eine rote Linie überschritten und die Polizei ging nun mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen gegen die Demonstration voran. Nun wurden Aliyev und die Polizei groteskerweise als Armenier „beschimpft”… Die Demonstration hatte einen eindeutig bellizistischen Charakter und immer wieder kam die Forderung nach einem Rückeroberungskrieg um Karabach.
Am nächsten Tag wurde der Außenminister Elmar Mammadyarov von Aliyev entlassen und sollte offensichtlich als Sündenbock fungieren, um die reaktionären Massen zu beruhigen. Doch diesen reicht diese schwache Symbolik nicht und so sehen wir, dass Aliyev seitens der islamistischen Kräfte immer mehr unter Druck gerät, die kein Geheimnis daraus machen, dass sie das säkulare System Aserbaidschans – freilich ein Erbe der Sowjetunion – ablehnen. Besonders seine Frau und Vizepräsidentin Mehriban Aliyeva ist eine Hassfigur unter den Islamisten, da sie sich modern und westlich gibt und international weithin mit Reformen assoziiert wird. Klarerweise spielt auch eine sexistische Komponente eine Rolle, da in den Augen dieser konservativ-reaktionären Masse keine Frau ein so hohes staatliches Amt innehaben sollte.
Es ist auch nicht das erste Mal, dass angezweifelt wird, ob Aliyev Karabach denn wirklich zurückerobern will oder nicht. Klar ist, dass eine Rückeroberung einen weiteren großen Krieg nach sich ziehen würde, der ähnlich viele Todesopfer wie der Krieg 1988-94 bringen würde – damals waren es über 50.000! Aliyev schwadroniert zwar immer wieder davon, dass nicht nur Karabach, sondern sogar die armenische Hauptstadt Jerewan „ursprüngliches aserbaidschanisches Territorium” wären und rüstet wie verrückt das Militär auf, dessen Oberbefehlshaber er natürlich ist. Allerdings ist er sich seiner Grenzen seit seinem Amtsantritt 2003 sehr wohl bewusst und riskierte nur im April 2016 größere Konfrontationen, die zwar heftig (mit insgesamt 200 Toten), aber auch nur kurz (vier Tage) waren, weil das Manöver offensichtlich sehr gut von den armenischen Streitkräften gekontert wurde.
Es ist viel mehr eine andere Seite, die ständig Öl ins Feuer gießt und schon jetzt in mehrere Kriege verwickelt ist.
Hinter der Eskalation: die Türkei
„Wir werden die Mission fortführen, die unsere Großväter seit Jahrhunderten im Kaukasus angeführt haben.” – Reçep Tayyip Erdoğan
„Armenien wird unter seiner eigenen Verschwörung begraben werden, darin ertrinken und für seine Taten auf jeden Fall bezahlen.” – Hulusi Akar, türkischer Verteidigungsminister
In der Geschichte der türkischen Bourgeoisie gibt es seit ihrer Herrschaft zwei Stränge, die ungleich sind und sich doch gegenseitig kombinieren: der Panislamismus und der Panturkismus. Ersteren Fall sehen wir zum Beispiel im Bündnis mit sunnitisch-islamistischen Gruppen in Syrien, mit denen das türkische Militär gegen die kurdische Selbstverwaltung in Rojava zu Felde zieht. Die bisher besetzten Gebiete in Rojava werden von dschihadistischen Banden regiert, wobei der türkische Staat die Kontrolle behält und die Bourgeoisie die Ressourcen des Gebietes nach Belieben und mit tyrannischen Mitteln plündert.
Den zweiten Fall, den des Panturkismus, sehen wir im Bündnis mit Aserbaidschan, das nicht nur ein Gerede von Brüdern und Schwestern ist, sondern auch ein militärisches Bündnis, wo es Anfang des Monats zu gemeinsamen Übungen in Nachitschewan kam. Erdoğan spielt hier geschickt die Karte des Panturkismus aus, da 85 Prozent der muslimischen Aserbaidschaner und Aserbaidschanerinnen schiitisch sind. In seinem Versuch, das türkisch-islamische Modell der Herrschaft in andere muslimisch geprägte Länder zu exportieren, scheiterte er während des Arabischen Frühlings schon einmal kläglich, als er die demokratischen Massenbewegungen von Tunesien über Ägypten und Syrien als Sprungbrett für die Installierung seiner Verbündeten aus der Muslimbruderschaft benutzen wollte. Im Grunde genommen gelang ihm das einmal, als Mohammed Mursi für kurze Zeit Ägyptens Staatspräsident wurde, bevor er im Juli 2013 vom säkular orientierten Militär um General Abdel Fattah al-Sisi gestürzt wurde.
Es ist daher kein Zufall, dass sich zwischen beiden Bonaparten ein blutiger Konflikt in Libyen anbahnt – Aliyev jedoch ist kein Teil der Muslimbruderschaft, weswegen ein strategisches Bündnis mit ihm aller Propaganda zum Trotz Grenzen hat. Aliyev mag zwar in der Anwendung seiner repressiven Methoden dem türkischen Diktator zum Verwechseln ähnlich sein. Das Programm jedoch weist vielleicht mehr Unterschiede denn Gemeinsamkeiten auf. Jenseits der blanken anti-armenischen Hetze, die beide teilen, ist Aliyev dennoch säkular orientiert. Aliyev wurde in der atheistischen Sowjetunion sozialisiert und ist der Sohn und Nachfolger des Präsidenten Heydar Aliyev, der nicht nur ein KP-Mitglied war, sondern sogar Teil des Politbüros der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU).
Wie so viele andere post-sowjetische Staaten wurde Aserbaidschans bürgerliche Restauration nicht selten von ehemaligen Kadern der KPdSU vollzogen. Heydar Aliyev, genauso wie der heutige russische Präsident Wladimir Putin, machte eine glänzende Karriere in der Sowjetunion und schrieb sich den Internationalismus und Antiimperialismus auf die Fahnen, bevor er zum nationalistischen Antreiber eines kapitalistischen Aserbaidschans wurde. Zwar gibt es im kapitalistischen Aserbaidschan Wahlen mit mehreren Parteien und ein Parlament, allerdings ist das alles Makulatur und damit ohne Wert, da die Macht allein in den Händen Aliyevs und seiner engsten Verbündeten liegt. Aserbaidschan ist vielmehr eine degradierte Demokratie mit einem bonapartistischen System um Aliyev: In der Exekutive liegt das Zentrum und die Macht des Staatsapparates, während die anderen Gewalten Legislative und Judikative domestiziert wurden und der Exekutive gegenüber keine Kontrollfunktion mehr einnehmen können. Die Entwicklung hin zu diesem Zustand ist das Ergebnis einer historisch schwach entwickelten Bourgeoisie im Land, deren fragile Herrschaft nur in einer Polizeidiktatur unter einem Bonaparten wie Aliyev existieren kann.
Nichtsdestotrotz ist wirtschaftlich gesehen nicht zu unterschätzen, dass die sowjetischen Einflüsse bestehen und bis heute das mit Abstand wichtigste Unternehmen des Landes staatlich ist: Die State Oil Company of Aserbaidschan Republic (Socar). Die Socar ist zugleich Herz und Hirn der Rentierwirtschaft Aserbaidschans, die enorm vom Öl abhängig ist. Die Öleinnahmen generieren zwar Wachstum und Reichtum, allerdings landen die Einnahmen weitestgehend in den Taschen der korrupten Funktionärinnen und Funktionären sowie natürlich beim Aliyev-Clan selbst, mit Aliyev als Milliardär an der Spitze, gefolgt von seiner Frau Mehriban Aliyev, die gleichzeitig Vizepräsidentin des Landes ist – ein Amt, das 2017 eigens für sie geschaffen wurde.
Wie bei so vielen postsowjetischen Staaten führte die Wende 1989/90 nicht zu einer Demokratisierung, sondern zu einer bonapartistischen Diktatur mit einer pseudodemokratischen Fassade. Ilham Aliyev erbte das Amt des Präsidenten von seinem Vater und verfolgt die Opposition in rücksichtsloser Manier: Die Juli-Ereignisse sind daher vor dem Kontext eines inneren Machtkampfes in Baku zu sehen, wo Aliyev die islamistische Opposition schwächen will, die nach seiner Aussage als „innere Feinde schlimmer als die Armenierinnen und Armenier” seien.
Es ist daher möglich, dass Erdoğan die islamistischen Kräfte mit dem Versprechen unterstützt, dass Karabach unter seiner Führung zurückerobert werden könnte. Die Basis für dieses heilsame Versprechen sind freilich die rund 500.000 vertriebenen Aserbaidschanerinnen und Aserbaidschaner, die nun seit fast 30 Jahren von allen bürgerlichen Seiten zu hören bekommen, es sei nur eine Frage der Zeit, bis Karabach zurückerobert sei und sie zurückkehren könnten. Die anti-armenische Hetze hat ob der ganzen nationalistischen Propaganda in der bürgerlichen Gesellschaft Aserbaidschans tiefe Wurzeln geschlagen, sodass es kaum verwundert, dass diese Seiten sich an jene Stelle wenden, die ihnen am meisten Erfolg verspricht. Sie sehen die Armenierinnen und Armenier als natürliche Feinde an, die ihr Land besetzt halten und von denen sie dieses Land befreien müssen. Die aggressive Kriegsrhetorik des türkischen Verteidigungsministers – und selbst die offene Androhung der Fortführung des Genozids an den Armenierinnen und Armeniern seitens Erdoğan – sind für sie mehr als berechtigt. Sie sind die Basis einer panturkistischen Allianz, allerdings deuten die Prozesse der letzten Wochen darauf hin, dass auf dem Weg zu dieser Allianz ein tödlicher Konflikt mit Aliyev wartet.
Ein Beitrag von Hovhannes Gevorkian, Revolutionärer Marxist und Mitglied bei ver.di
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