70 Jahrestag des Massakers von Deir Yasin

Am 9. April 1948 überfielen zionistische Milizen das palästinensische Dorf Deir Yassin mit bis dahin beispielloser Brutalität. Damit war die Vertreibung der arabischen Bevölkerung besiegelt, argumentiert Nick Clarke

Nach dem Massaker in Deir Yassin vor siebzig Jahren brüsteten sich die Milizen damit, wie viele Araber sie getötet hatten. Die „New York Times“ berichtete später, dass in dieser palästinensischen Ortschaft 254 Araberinnen und Araber getötet worden waren. Schätzungen von Historikern gehen heute von 100-120 Toten aus. Das Massaker ist ein Symbol für all die Verbrechen, die im Jahr 1948 an den Palästinenserinnen und Palästinensern begangen wurden. Es war nicht das einzige Massaker in jenem Jahr, noch nicht einmal das größte. Aber es war ein Vorbote für das, was die palästinensische Bevölkerung erwartete. Im Verlauf der folgenden Monate wurden Hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser aus ihren Häusern vertrieben, um Platz für den neuen Staat Israel zu machen.

Deir Yassin „Es sah aus wie ein Pogrom“

In Deir Yassin begann der Überfall am Freitag, den 9. April, kurz vor Sonnenaufgang. Zwei jüdische Milizen, die Irgun und die Lehi – auch Sternbande genannt–, griffen die Ortschaft an und glaubten, ein einfaches Ziel vor sich zu haben. Stattdessen trafen sie auf heftigen Widerstand. In Teilen der israelischen Geschichtsschreibung wird die Tatsache, dass die Palästinenser sich zu verteidigen suchten, als Entschuldigung für die weiteren Ereignisse vorgebracht.

Die angreifenden Milizionäre gingen von Haus zu Haus, warfen Granaten hinein und brachten alle um, die sie dort vorfanden. Gefangen genommene Einwohnerinnen und Einwohner Deir Yassins wurden in einer Reihe aufgestellt und starben im Kugelhagel der Maschinengewehre, ganze Familien wurden vor ihrer Haustür umgebracht. Ein Kämpfer der Lehi beschrieb damals in einem Brief, wie „zum ersten Mal in meinem Leben Araber durch meine Hand fielen und vor meinen Augen starben: Ich tötete einen bewaffneten arabischen Mann und zwei Mädchen im Alter von 16 oder 17 Jahren, die dem Araber beim Schießen halfen. Ich stellte sie an eine Wand und feuerte zwei Salven aus meiner Maschinenpistole auf sie ab“ (Quelle: Artikel „Testimonies From the Censored Deir Yassin Massacre„aus der israelischen Tageszeitung Haaretz). In dem Dokumentarfilm „Born in Deir Yassin“ von 2017 rekonstruierte die israelische Filmemacherin Neta Shoshani die Geschichte des Massakers und sprach dafür auch mit Zeitzeugen.

Obwohl er immer leugnete, dass dieses Massaker überhaupt stattgefunden hat, erklärte der Kommandeur der Lehi, Yehoshua Zettler, in einem Interview mit Shoshani im Jahr 2009: „Ich würde nicht behaupten, dass wir sie mit Samthandschuhen angefasst haben. Sie rannten wie die Katzen davon. Wir haben in jedes einzelne Haus Sprengstoff geworfen und sie liefen, so schnell sie konnten. Eine Sprengung und weiter, eine Sprengung und weiter, innerhalb weniger Stunden war die halbe Ortschaft ausgelöscht“ (Quelle: Artikel„Testimonies From the Censored Deir Yassin Massacre“ aus der israelischen Tageszeitung Haaretz).

Nach dem Morden wurden die Leichen gestapelt und verbrannt. Eine Gruppe von 25 Männern und Jungen wurden triumphierend auf Lastwagen durch die Straßen von Jerusalem gefahren und anschließend in einem Steinbruch umgebracht. Als Mordechai Gichon, Offizier der jüdischen Armee Haganah, zu der Ortschaft kam, erinnerte ihn die Szene an die Verfolgung der Juden im 19. Jahrhundert in Russland: „Wenn man in einen Zivilistenort kommt und überall liegen Leichen herum, dann sieht es aus wie ein Pogrom“, sagte er Jahrzehnte später. „Wenn die Kosacken in jüdische Stadtviertel einbrachen, dann dürfte das wohl ähnlich ausgesehen haben wie hier“ (Quelle: Artikel „Testimonies From the Censored Deir Yassin Massacre“ aus der israelischen Tageszeitung Haaretz).

Widersprüche über das Massaker von Deir Yassin

In einer israelischen Version der Geschichte wird verzweifelt versucht, die Angreifer von jeder Schuld reinzuwaschen. Ihre Verteidiger betonen, die Milizen hätten einen Fluchtweg freigelassen. Oder sie hätten einige von jenen „evakuiert“, also zwangsgeräumt, die nicht laufen konnten. Jene, die an dem Angriff beteiligt waren, begeisterten sich dagegen in ihren Erzählungen an dem Schrecken, den sie über Deir Yassin gebracht hatten, und übertrieben sogar noch das Ausmaß der Gewalttaten. Die tatsächliche Zahl systematisch getöteter Palästinenserinnen und Palästinenser liegt nach Historikern zwischen 100-120 Personen. Die ersten, höheren Schätzungen stammten von den Angreifern selbst. Beide Lügen dienen demselben Zweck: Die Angreifer erlaubten den Palästinenserinnen und Palästinensern zu flüchten, weil sie das Dorf von Arabern säubern wollten. Sie töteten so viele wie möglich, damit Araberinnen und Araber in anderen Ortschaften ebenfalls die Flucht ergriffen. Dies war Teil eines Plans, systematisch Palästinenserinnen und Palästinenser aus ihren Dörfern und Städten zu vertreiben.

Ein jüdischer Staat

Wenige Monate zuvor, im November 1947, hatten die Vereinten Nationen (UN) eine Resolution zur Teilung Palästinas verabschiedet. Zehntausende Jüdinnen und Juden waren erst kürzlich in Palästina angekommen, nachdem sie dem industriellen Massenmord der Nazis entkommen waren. Europäische Jüdinnen und Juden hatten dort bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts in Kolonien gelebt, nachdem sie vor antisemitischer Verfolgung geflüchtet waren. Allerdings, wie der Sozialist Tony Cliff, als Jude in Palästina geboren und aufgewachsen, schrieb: „Die Juden waren furchtbar unterdrückt, das war aber keine Garantie dafür, dass sie fortschrittlich oder revolutionär wurden“ (Zitiert nach: „Worin wurzelt Israels Gewalttätigkeit?“ von Tony Cliff).

Diese koloniale Bewegung – der Zionismus – versuchte, einen ausschließlich jüdischen Staat in ganz Palästina aufzubauen. Die Palästinenserinnen und Palästinenser, die bereits dort lebten, mussten dazu gebracht werden, das Land zu verlassen. Die Zionistinnen und Zionisten suchten die Unterstützung von imperialistischen Mächten, um ihr Ziel zu erreichen. Großbritannien – das Palästina seit Ende des Ersten Weltkriegs besetzt hielt – unterstützte die Zionistinnen und Zionisten, die dabei halfen, die Palästinenser unter Kontrolle zu halten und sie zu unterdrücken. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann das britische Reich zusammenzubrechen. Es sah sich nicht mehr in der Lage, die militanten Kräfte, denen es dabei geholfen hatte, in dem Land Wurzeln zu fassen, in Zaum zu halten, und begann mit dem Abzug aus dem Land. Die UN beschlossen die Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Teil. Über fünfzig Prozent Palästinas wurden dem zukünftigen Israel zugesprochen, obwohl Jüdinnen und Juden nur knapp ein Drittel der Bevölkerung ausmachten und nicht mehr als zehn Prozent des Landes besetzten. Ein ausschließlich jüdischer Staat aber brauchte auch eine jüdische Mehrheit.

Deir Yassin, die Vertreibungen und der „Plan Dalet“

Der Zionistenführer David Ben-Gurion, der Israels erster Ministerpräsident wurde, äußerte sich besorgt in einer Rede Ende 1947: „Es gibt vierzig Prozent Nichtjuden in den Gebieten, die für den jüdischen Staat vorgesehen sind. Solch ein demografisches Verhältnis stellt unsere Fähigkeit infrage, jüdische Souveränität aufrechtzuerhalten. Nur ein Staat mit mindestens achtzig Prozent Juden ist ein lebensfähiger und stabiler Staat“ (Zitiert nach:“Die ethnische Säuberung Palästinas„von Ilan Pappe / Englische Version Seite 48).

Ben-Gurion entwarf zusammen mit anderen zionistischen Führern einen Plan: Nachrichtenoffiziere der paramilitärischen zionistischen Organisation Haganah sammelten genaueste Informationen über alle arabischen Dörfer und Städte. Palästinensische Gebiete wurden in Zonen aufgeteilt, die bestimmten Haganahbataillonen unterstellt wurden. Aus jedem palästinensischen Ort, der in diesen Zonen zwischen isolierten jüdischen Siedlungen lag, musste die arabische Bevölkerung verschwinden. Wo arabische Ortschaften einen Friedenspakt mit benachbarten jüdischen Siedlungen geschlossen hatten – so wie Deir Yassin –, wurde den Milizen der Irgun und Lehi unter der Hand erlaubt, das Gebiet zu übernehmen. Mit dem Fortschreiten der Vertreibung wurde die zionistische Führung entschlossener und ihre Begeisterung wuchs: „Wenn ich nach Jerusalem komme, spüre ich, dass ich in einer jüdischen Stadt bin“, sagte Ben-Gurion im Februar 1948. „In vielen arabischen Stadtvierteln im Westen ist kein einziger Araber mehr zu sehen. Ich denke nicht, dass sich das ändern wird. Und was in Jerusalem und Haifa möglich war, das kann auch in großen Teilen des Landes geschehen. Wenn wir nicht nachlassen, ist es durchaus möglich, dass es in den kommenden sechs oder acht Monaten erhebliche Veränderungen im Land geben wird, sehr erhebliche, und dies zu unserem Vorteil“ (Zitiert nach: „Die ethnische Säuberung Palästinas“ von Ilan Pappe / Englische Version Seite 68).

Im März wurde ein solider Plan entworfen – Plan Dalet –, in dem kein Zweifel gelassen wurde über das Schicksal der arabischen Ortschaften: „Diese Operationen müssen auf folgende Weise ausgeführt werden: Zerstörung der Ortschaften (indem sie in Brand gesetzt, gesprengt und Minen in den Schutt gelegt werden)“, hieß es da. „Im Fall des Widerstands müssen die bewaffneten Kräfte ausgelöscht werden und die Bevölkerung muss über die Grenzen des Staats vertrieben werden.“

Der israelische Historiker Ilan Pappe sprach aus, was dieser Plan bedeutete: Er war eine Blaupause für ethnische Säuberungen. Deir Yassin gehörte zu den ersten Orten, die entsprechend dem Plan Dalet gesäubert wurden. Zu diesem Zeitpunkt waren schon 75.000 Palästinenser zu Geflüchteten geworden – einige Monate bevor Großbritannien das Land verlassen hatte. Die britischen Streitkräfte in Palästina waren doppelt so stark wie die Haganah und hätten die Massaker leicht verhindern können. Stattdessen fanden die ethnischen Säuberungen unter den Augen der Besatzungsmacht statt. Erst Tage später schickten die Briten einen Polizeioffizier nach Deir Yassin, unweit der Hauptstadt Jerusalem, um die Angelegenheit zu untersuchen. Er wurde von der Haganah daran gehindert.

Erst Vertreibung, dann Vertuschung

Nach den anfänglichen Prahlereien versuchten die zionistischen Kräfte nun zu vertuschen, was sie getan hatten. Selbst heute noch sorgt der israelische Staat dafür, dass Fotografien von dem Massaker fest unter Verschluss in den Archiven bleiben. Der Haganahoffizier Shraga Peled, der die Fotos gemacht hatte, erinnert sich jedoch noch sehr deutlich: „Als wir nach Deir Yassin kamen, sahen wir als Erstes einen großen Baum, an den ein junger Araber gebunden war“, erzählt er in Shoshanis Film. „Dieser Baum wurde angezündet. Sie hatten ihn dort angebunden und verbrannt. Ich habe das fotografiert.“

Während damals das Massaker gefeiert wurde, versucht das israelische Establishment es heute zu vertuschen – aus gutem Grund. Die Milizen, die das Massaker begangen hatten, gründeten schließlich die Armee Israels. Der Kommandeur der Irgun, Menachem Begin, wurde später israelischer Ministerpräsident. Die Erinnerung an Deir Yassin wird in Israel verdrängt, weil es die Schrecken zeigt, aus denen dieser Staat geboren wurde.

Zum Artikel: Der Artikel erschien am 24. 3. 2018 in der englischen Zeitung „Socialist Worker“. Wir danken „Socialist Worker“ für die Genehmigung zur Veröffentlichung und Rosemarie Nünning für die Übersetzung. Zuerst veröffentlicht auf marx21.de

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