Nicht zum wissenschaftlichen Komplizen werden

Geoffroy de Lagasnerie, enger intellektueller Weggefährte von Didier Eribon, plädiert in seinem Buch „Denken in einer schlechten Welt“ für eine „oppositionelle Wissenschaft“. Das äußerst zugänglich geschriebene Büchlein hat das Potential den gängigen Wissenschaftsbetrieb zu erschüttern.

Zum bald beginnenden Semester steht für Studierende die Wahl der Seminare und Vorlesungen an. Wer links denkt und kritisch studieren möchte, hat es dabei oft nicht leicht. Kritische Wissenschaft ist mit einigen Ausnahmen an deutschen Universitäten nur noch mit der Lupe zu finden, wer sich als Studienanfängerin oder Studienanfänger, nicht auskennt, hat es umso schwerer. Welche Dozentinnen und Dozenten bieten kritische Seminare an? Wie erkenne ich kritische Lehrinhalte auf den ersten Blick? Wie unterscheidet sich ein kritischer wissenschaftlicher Ansatz von einem Konventionellen?

Das Büchlein Denken in einer schlechten Welt des französischen Philosophen und Soziologen, Geoffroy de Lagasnerie hat das Zeug zum neuen Klassiker, der die Frage nach dem Charakter einer Wissenschaft, die sich nicht mit dem Status Quo abfindet, auch für Studienanfänger*innen allgemeinverständlich beantwortet. Zwei Gedanken dienen dabei Lagasnerie als fundamentaler Ausgangspunkt für seine Überlegungen: 1. Wir leben in einer schlechten von Herrschaft, Gewalt und Ausbeutung geprägten Welt. 2. Für Forschende, Schreibende und Kulturschaffende kann es keine Neutralität geben.

Die erste Feststellung, die Falschheit der Welt, in der wir leben, ist für Lagasnerie offenkundig. Er bemüht sich erst gar nicht sie zu begründen. Bemerkenswert ist lediglich, dass ganz anders als in der konventionellen Methodenlehre oder Wissenschaftsphilosophie dies hier zum Ausgangspunkt des Nachdenkens über wissenschaftliche Praxis gemacht wird. Dadurch ergibt nach Lagasnerie die abstrakte Frage „Was ist kritische Wissenschaft?“ keinen Sinn, stattdessen sei zu fragen „Was heißt kritische Wissenschaft in dieser schlechten Welt, in der wir leben?“

Sein zweiter fundamentaler Gedanke, die Unmöglichkeit der Neutralität, begründet Lagasnerie, indem er sich die Konsequenzen und Implikationen des Schreibens genauer anschaut. Der Schreibende wirkt immer notwendig an der Produktion von Ideen und der Verbreitung von Diskursen mit  und trägt zur Gestaltung der Welt bei. Er ist damit immer schon engagiert. Dem Schreiben an sich liegt damit stets eine unleugbare politische Dimension inne.

Für eine oppositionelle Wissenschaft

Ausgehend von diesen beiden Überlegungen sieht Lagasnerie drei mögliche Praktiken, die ein Schreibender verfolgen kann. Entweder er wirkt an der Verstärkung der Herrschaft und Ausbeutung mit, alternativ kann er versuchen, sich neutral zu den Systemen der Herrschaft und Ausbeutung zu verhalten oder er macht sich wirklich von diesen Systemen frei, indem er mit seinem Geschriebenen diese Systeme destabilisiert. Den Versuch der meisten Wissenschaftler neutral zu bleiben, ist für ihn notwendigerweise zum Scheitern verurteilt. Denn im Versuch Wissen zu produzieren, das sich neutral zu diesen Systemen verhält, erfolgt letztlich doch eine Anpassung an diese Systeme. Um neutrales Wissen zu produzieren regulieren sich die Forschenden selbst. Wahre Freiheit von den Systemen der Herrschaft und Ausbeutung könne nur in der oppositionellen Haltung gegen diese gefunden werden.

Die oppositionelle Wissenschaft, für die Lagasnerie im Folgenden plädiert, ist für ihn ein ethischer Imperativ. Er beruft sich auf Max Horkheimer, wenn er das Denken des Wissenschaftlers immer als Teil des politischen Kampfes deutet. Wer sich dagegen in die vermeintliche Neutralität flüchtet wird zum wissenschaftlichen Komplizen der Systeme der Herrschaft, Gewalt und Ausbeutung.

Linksintellektuelles Dreiergespann

Doch wer ist dieser Lagasnerie, dieser französische Intellektuelle, der bisher in Deutschland kaum bekannt ist? Zusammen mit Didier Eribon und Édouard Louis bildet Lagasnerie ein eng zusammenarbeitendes linksintellektuelles Dreigespann, das sich fortwährend in die öffentlichen Debatten Frankreichs mit klarer Haltung einmischt. Während der 66-jähirge Eribon durch sein Buch Rückkehr nach Reims, mit dem er die deutsche Klassendiskussion wiederbelebte, vor wenigen Jahren in Deutschland zum französischen Starintellektuellen aufstieg und der gerade mal 28-jährige Louis u.a. durch seinen autobiographischen Roman Wer hat meinen Vater umgebracht auch hierzulande einigen Ruhm erlangte, wurde das Werk des 38-jährigen Lagasnerie in Deutschland bisher kaum diskutiert. Zu Unrecht, denn die radikalen Gedanken Lagasneries sind nicht weniger aufwühlend als die Eribons’ oder Louis’.

Wissenschaft und Kultur als Selbstzweck lehnt Lagasnerie als eine unethische, entpolitisierende und damit letztlich für die Machtsysteme auch nützliche Idee ab. Kunst, die sich nur auf sich selbst bezieht, sieht er als ein „eitles Unternehmen“, das genauso gut verschwinden könne. Stattdessen plädiert er dafür, nach der Nützlichkeit von wissenschaftlichen und kulturellen Werken für die Verwirklichung des Werts der Gleichheit zu fragen. Hierzu könne Kultur und Wissenschaft am besten beitragen, indem sie bestehende Machtsysteme destabilisieren. Wissenschaft müsse Wissen produzieren, welche die Falschheit der herrschenden Institutionen und Ideologien in Frage stellt und Missstände der Gesellschaft aufdeckt. „Philosophie und Sozialwissenschaft bestehen darin, die Falschheit der Welt auszusprechen.“

Lagasnerie behauptet nicht, dass seine Ideen in Denken in einer schlechten Welt völlig neu wären. Sein Buch ist auch eine explizite Auseinandersetzung mit den Größen kritischen Denkens – Marx, Bourdieu und Foucault sowie insbesondere Horkheimer und Adorno – und dessen was diese bereits über eine systemoppositionelle Wissenschaft geschrieben haben. Mit diesen haben sich schon viele andere auseinandergesetzt. Nach Lagasnerie entwickelten jedoch viele – gerade bei Horkheimer und Adorno – auf den akademischen Betrieb passende Lesarten, die deren systemoppostionelles Potential verraten. Wahrscheinlich kein anderer als Lagasnerie hat es zudem bisher geschafft, die Idee einer oppositionellen Wissenschaft derart verständlich und einleuchtend zu schildern.

Lagasnerie lehnt die gängigen Disziplingrenzen ab. Für die Frage, mit wem wir uns austauschen und diskutieren sollten, ist es nicht entscheidend, ob jemand dieselben Fächer besucht und Prüfungen absolviert hat wie man selbst, sondern ob er oder sie am selben politischen und ethischen Projekt arbeitet. Auch deshalb ist „Denken in einer schlechten Welt“ ein Buch, das allen kritischen Studierenden und (angehenden) kritischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – nicht nur Philosophinnen und Soziologinnen – wärmstens empfohlen werden kann.


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Alexander Hummel promoviert zu den „Auswirkungen von Repression auf Öffentlichkeit“ in Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist politisch aktiv in der LINKEN und der Seebrücke und ist Teil des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft. Er lebt in Heidelberg.

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