Das Buch The Lost Revolution: The Story of the Official IRA and the Workers‘ Party von Brian Hanley und Scott Millar schildert die Transformation des „offiziellen“ (und zeitweiligen Mehrheits-)Flügels der IRA von einer republikanisch-nationalistischen Organisation hin zu einer kommunistischen Partei.
Die Schilderung setzt Anfang der 1960er nach der gescheiterten „border campaign“ der IRA inmitten einer tiefen Krise der republikanisch-nationalistischen Bewegung ein. Eine neue Generation von Aktivisten trat damals der geschwächten Organisation und ihrem politischen Arm, der „Sinn Fein“-Partei, bei und führte sie inspiriert von den nationalen Befreiungsbewegungen der Zeit rasch auf einen immer radikaleren, marxistischen Kurs, sich dabei politisch immer stärker an der Sowjetunion ausrichtend. Bald wurde ein sozialistisches Irland zum Ziel der IRA erkoren. Auf dem Weg dorthin müsse aber in Etappen zunächst die nationale Einheit Irlands erkämpft und dafür wiederum als erstes eine Einheit zwischen der protestantischen und der katholischen Arbeiterklasse hergestellt werden. Der Fokus auf den Klassenkampf und der Kampf gegen jede religiöse Spaltung wurde daher zum wichtigsten Projekt der IRA, die sich unter ihren neuen Führung zum einen neu bewaffnete, sich zum anderen zunehmend um eine sozialistische Massenarbeit bemühte.
Auf dem Weg zum Bürgerkrieg
In den späten 1960er Jahren explodierten aber in Nordirland die Spannungen zwischen der katholischen Bevölkerung, der britischen Besatzungsmacht und den mit dieser sympathisierenden protestantischen Loyalisten und ihren Milizen. Eine große Bürgerrechtsbewegung, in die sich die IRA stark einbrachte, protestierte gegen die Diskriminierung der Katholiken und zunehmend auch gegen die extrem repressive Besatzung, während die Besatzungstruppen immer brutaler gegen die Proteste vorgingen und sich loyalistische Übergriffe auf katholische Stadtteile häuften.
In dieser Situation griff die IRA ein, verteidigte bewaffnet die bedrohten Viertel, ging zum Gegenangriff auf Besatzer und Loyalisten über – und wurde so Teil einer sich immer schneller drehenden Gewaltspirale. Damit drohte aber einzutreten, was die IRA-Führung ja eigentlich am meisten verhindern wollte: ein Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten. Rasch schaltete die IRA daher wieder auf defensivere Aktionen um, was schließlich zu einer Spaltung der Organisation führte: in die anfänglich größere, linksgerichtete Official IRA (OIRA), deren weitere Geschichte im Fokus dieses Buches steht, und die zunächst antikommunistische, dafür aber um so militaristischer und aktionistischer agierende Provisional IRA (PIRA/Provos, Provisional Sinn Fein). Bald führten die Provos einen regelrechten Guerillakrieg gegen Besatzer und Loyalisten, bei dem sie regelmäßig zivile Opfer in Kauf nahmen, und überflügelten in Nordirland rasch die OIRA, während die Officials weiter im Süden dominierten. 1971 wurden 37 britische Soldaten und 97 Zivilisten getötet, 1972 gab es insgesamt bereits 479 Tote – darunter 13 durch britische Soldaten getötete unbewaffnete Demonstranten am Bloody Sunday. Täglich kam es nun zu Schießereien und Scharmützeln, zu Razzien und Repressionen. Die Region verwandelte sich zunehmend in ein Bürgerkriegsgebiet.
Die OIRA sah durch diese Eskalation ihr Projekt einer Einheit von Protestanten und Katholiken im Klassenkampf immer mehr bedroht, zog sich zunehmend aus den militärischen Auseinandersetzungen zurück und erklärte schließlich einen Waffenstillstand. Dies führte zu einer neuen Abspaltung des linksradikalen, aktionistischen Flügels der OIRA um den bekannten Aktivisten, Gewerkschafter und Kommunalparlamentarier Seamus Costello, einem Star der Bürgerrechtsbewegung, der nun die Irish National Liberation Army (INLA) und als ihren politischen Arm die Irish Republican Socialist Party (IRSP) gründete. Beeinflusst von castristischen und auch trotzkistischen Ideen – Costello unterhielt beispielsweise enge Verbindungen zum Socialist Workers Movement (SWM) – dachten sie die nationale Befreiung und die sozialistische Revolution als einen verknüpften, quasi-permanenten Prozess, während die OIRA weiterhin eine Etappentheorie vertrat und die Provos die nationale Befreiung über alles stellten.
Zwischen den drei bewaffneten Gruppen – OIRA, Provos und INLA – kam es bald zu jahrelangen, blutigen Fehden mit vielen Toten auf allen Seiten. Alleine 1975 brachten sich elf Mitglieder der OIRA und der Provos gegenseitig um. Republikanische Militante mussten nun also auf dem Heimweg vom Pub nicht nur Verhaftungen durch die Militärpolizei oder Mordanschläge von Loyalisten befürchten, sondern auch durch die verfeindeten Fraktionen des eigenen Lagers. Die OIRA versuchte, die INLA quasi auszurotten, und ermordete 1976 schließlich ihren Gründer und Führer Costello. Nach dem Verlust ihres politischen Masterminds degenerierte die INLA allmählich zu einer halbkriminellen Organisation, die sich durch größtmögliche Brutalität ihrer Anschläge auf Besatzer und Protestanten von den Provos abzuheben suchte.
Stadtguerilla oder Arbeiterpartei?
Die OIRA beschränkte sich hingegen zunehmend auf Gewalttaten gegen rivalisierende Republikaner, denen sie vorwarf, den Religionskonflikt immer weiter anzuheizen und dadurch eine Einheit der Arbeiterklasse zu sabotieren. An dieser wirkte die OIRA nach Kräften fort, benannte ihren politischen Arm erst in Sinn Fein – The Workers Party und dann nur noch in Workers Party (WP) um und ordnete ihre militärischen Aktivitäten schließlich ganz den Anforderungen des Parteiaufbaus unter, reduzierte ihre Aktivitäten also weitgehend auf Banküberfälle zur Finanzierung der WP und ihrer Zeitungen. Innerhalb der WP agierte die OIRA als geheime „Partei in der Partei“, etwa zur Mehrheitsbeschaffung auf Grundlage militärischer Disziplin innerhalb des eh schon rigiden demokratischen Zentralismus der WP. Detailliert beschreibt das Buch die politische Arbeit der Organisation: die Zeitungsverkäufe, die Gewerkschaftsarbeit, ihre Kongresse, internen Debatten und öffentlichen Programme für den Aufbau eines vereinten, sozialistischen Irlands und seiner Industrialisierung – aber auch die häufigen Besuche im Ostblock (die KPdSU spendierte der WP eine Million US-Dollar in Falschgeld), in Nordkorea (wo Militante der OIRA militärische Trainings absolvierten) oder bei befreundeten Befreiungsbewegungen.
Gegner des Hungerstreiks
Anfang der 1980er Jahre kam es zum Hungerstreik der Gefangenen der Provos und der INLA, begleitet von großen Protesten zu ihrer Unterstützung. Erst Bobby Sands und dann neun weitere Gefangene starben im Hungerstreik, 60 weitere Menschen bei den zeitgleichen Auseinandersetzungen und Anschlägen außerhalb der Gefängnisse. Die OIRA/WP stand abseits und stemmte sich geradezu gegen die Solidaritätsbewegung mit den Hungerstreikenden, in denen sie die Mörder ihrer eigenen Genossen und die Verantwortlichen für den immer brutaler ausgetragenen Konflikt zwischen den Bevölkerungsgruppen sahen. Mit dieser Haltung manövrierten sie sich in Nordirland immer mehr ins Abseits: Unter den Protestanten fanden sie eh kaum Anhänger, und die Katholiken wandten sich zunehmend den radikaler agierenden Gruppen zu. In dieser Zeit wurden aus den Provos unter Führung von Gerry Adams die IRA und die Sinn Fein, die man auch bis heute kennt, mit einem wieder deutlich linken, aber nicht marxistischen politischen Profil, mit dem sie bei den Wahlen im Norden zunehmend erfolgreich auftraten. Aber die WP konnte ihre Ex-Genossen und die gesamte, aufsteigende linksnationalistisch-republikanische Bewegung nicht mehr als Bündnispartnerin sehen. Im Gegenteil, sie beschimpfte die Provos öffentlich als „Nazis“ und forderte die Besatzungsmacht zu einem konsequenten Kampf gegen die Provos auf, die ihr als Hauptgrund für die Spaltung der nordirischen Arbeiterklasse galten, und lehnten deshalb sogar die Forderung nach einem Abzug der britischen Truppen ab, die man nun quasi im antifaschistischen Kampf gegen die eigenen Ex-Genossen wähnte. Die Isolation der WP nahm dadurch im Norden weiter zu, bei Wahlen erzielten sie nur noch knapp über 2 Prozent, während Provo-Sinn-Fein abräumte.
Aufstieg und Verfall
In der Republik Irland hingegen machte die WP in den 1980ern mit ihren nun etwa 3.000 Mitgliedern allmählich Fortschritte mit ihrer kontinuierlichen Aufbauarbeit, steigerte sich bei Wahlen bis zum Ende des Jahrzehnts auf nationale Ergebnisse um die 5 Prozent, zog regelmäßig mit einigen Abgeordneten ins Parlament ein und tolerierte zeitweise gar die Regierung. Ihre Hauptkonkurrenz war dabei die in Irland historisch schwache Labour Party. Die WP trat nun ganz als biedere moskautreue kommunistische Partei mit einem Schwerpunkt auf post-nationalistische Themen wie Industriepolitik und dem Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit auf – hatte aber im Unterschied zu allen anderen derartigen Formationen Westeuropas auch weiterhin die Schattenarmee der OIRA an ihrer Seite, die sich weiter auf den revolutionären Endkampf vorbereitete, während sie sich in ihrer Praxis auf Banküberfälle und andere Beschaffungsaktionen, zunehmend in Verbindung mit kriminellen Milieus, beschränkte. Nach außen aber versuchte man, die Erinnerung an die eigene bewaffnete Vergangenheit zu verdrängen, leugnete die Fortexistenz der OIRA und distanzierte sich sogar von den eigenen Gefangenen – alles in der Hoffnung, so zu einer revolutionären Massenpartei der irischen Arbeiterklasse zu werden.
Doch der Zusammenbruch der Sowjetunion erschütterte diese Perspektive. Während die in der Schattenarmee der OIRA Aktiven verbissen das Konzept der revolutionären Partei verteidigten, entstand um die Parlamentsfraktion ein neues Machtzentrum, dass die Segel in Richtung einer linken Reformpartei – analog zur Transformation des italienischen PCI in die Demokratische Linkspartei – setzte. Die Parlamentarier empfanden es als öffentlich nicht vermittelbar, im Parlament gegen die Korruption zu wettern, während gleichzeitig Teile ihrer eigenen Partei Banküberfälle begingen und mit Falschgeld hantierten. Als sich die Reformer nicht durchsetzen konnten, verließ die große Mehrheit der Parlamentsfraktion und die meisten kommunalen Abgeordneten 1992 die WP und gründeten die Democratic Left, die bei den folgenden Wahlen mit Ergebnissen um die 2–3 Prozent erzielte und zeitweilig gar Minister stellte, um sich dann 1999 schließlich mit der Labour Party zu vereinigen. Die in der WP Verbliebenen machten als revolutionäre Partei weiter, sollten aber nie wieder in der nationalen Politik Irlands eine Rolle spielen: Zunehmend stalinistisch-sektenhafte Züge annehmend, blieb ihr Ergebnis von 0,7 Prozent bei den auf die Spaltung folgenden Wahlen Ende 1992 ihr bis heute bei weitem bestes. Eine Fraktion der zwischenzeitlich erneut gespaltenen OIRA sollte 2010 noch einmal aus dem Verborgenen auftauchen, um ihre Waffen im Rahmen des Friedensprozesses abzugeben. Die andere Fraktion behielt sie, weil eine Abgabe dem Eingeständnis der seit Jahrzehnten von der WP geleugneten Fortexistenz der OIRA bedeutet hätte. Sie dürfte bis heute über tausende Waffen in geheimen Bunkern verfügen. Doch diese Ereignisse spielen in dem Buch schon keine Rolle mehr: Mit der Spaltung 1992 endet die in diesem Buch erzählte Geschichte, die Entwicklungen bis zu seinem Erscheinen 2009 werden nur noch grob skizziert.
Facettenreiche Organisationsgeschichte
Der Troubles genannte Nordirlandkonflikt war der blutigste bewaffnete Konflikt in Westeuropa nach dem 2. Weltkrieg und forderte insgesamt über 3.500 Menschenleben, darunter mehr als 1.000 Angehörige der britischen Sicherheitskräfte und fast 2.000 Zivilist*innen. Die OIRA hatte an diesem Gewaltgeschehen einen eher geringen Anteil: „Nur“ etwa 50 tödliche Aktionen und Morde gehen auf ihr Konto; sie selbst hatte fast 30 Tote in ihren Reihen zu beklagen. Wer eine Gesamtgeschichte des Konfliktes oder eine präzise Darstellung sämtlicher seiner Akteure erwartet, wird von dem Buch enttäuscht werden. Es bietet dafür auf 658 Seiten vollumfänglich das, was der Titel verspricht: eine Organisationsgeschichte der OIRA und der WP – bemerkenswert detailliert und facettenreich, auf zahllose Interviews und Archivmaterialien gestützt, in einer manchmal fast erschlagenden Fülle von Fakten und Anekdoten, wobei die Autoren sich mit eigenen Wertungen stark zurückhalten. Sie lassen das Organisationsleben sehr plastisch vor dem Leser aufscheinen, was ihnen aus naheliegenden Gründen noch besser für die Partei- als für die klandestinen bewaffneten Strukturen gelingt.
Herausgekommen ist ein Buch, das anschaulich und detailversessen die bemerkenswerte Entwicklung einer revolutionär-nationalistischen Organisation beschreibt, die sich unter dem Eindruck der massenhaften Bürgerrechtsbewegung und des globalen linken Aufbruchs der 1960er hin zu einer revolutionär-sozialistischen Partei transformiert. Aber es ist auch die tragische Geschichte einer Organisation, die sich in ihren Politik- und Sozialismusvorstellungen vollkommen an der UdSSR orientierte, um dann von deren Untergang mitgerissen und dadurch um die Früchte einer jahrzehntelangen, durchaus erfolgreichen Verankerungsarbeit in der Arbeiterklasse der Republik Irlands gebracht zu werden. Insbesondere in Bezug auf Nordirland ist gleichzeitig ein Buch darüber, wie klassenpolitische Positionen in einem identitär polarisierten Feld nicht durchzudringen vermögen und bei allem Bemühen um Massenwirksamkeit marginalisiert werden können. Zugleich lässt es sich auch als Warnung an die Linke lesen, nicht mit dem Feuer einer militärischen Politik und einer militaristischen Logik zu spielen, über deren desaströse Dynamiken für soziale Bewegungen und das Innenleben einer sich als marxistisch definierenden Organisation das Buch lebhaft Zeugnis ablegt.
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