Anlässlich des 60. Jahrestags des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens gab es sämtliche Feierlichkeiten, die als Zeichen des Danks des deutschen Staates an die Millionen türkeistämmigen Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern fungieren sollten.
Das ist heuchlerisch, wurde doch ihre wertvolle Arbeit jahrzehntelang ignoriert und nicht gewürdigt. Jene verkauften ihre Arbeitskraft unter menschenunwürdigen Bedingungen, um sich und ihre Familie in diesem nicht für sie geschaffenen System am Leben zu halten – ein Umstand, der ihre Kinder und Enkelkinder bis heute begleitet. Sämtliche Leben, Familien, Beziehungen wurden zerstört, das eigene Leben verwehrt, vielmehr enteignet, um das kapitalistische System aufrechtzuerhalten.
So wurde auch das Leben von Aydın vor diesem Hintergrund nachhaltig geprägt. Sein Neffe Mesut Bayraktar, Autor des Romans ,,Aydın – Erinnerung an ein verweigertes Leben“, der 2021 im Unrast Verlag erschien, erzählt in jenem Roman von seinem Onkel. Es ist ein Leben, das so viele kennen, gibt es doch zeitgleich die Geschichte vieler Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen, ihrer Kinder und Enkelkinder wider. Jene, die die Klassengewalt gleich welcher Form zu spüren bekamen und weiterhin unter ihr leiden. Der Roman beschreibt ihre Geschichte, ohne deren Kämpfe sie nicht die wären, die sie heute sind.
In die Ferne
Aydın, der 1966 in einem Dorf in Trabzon an der Schwarzmeerküste in der Türkei geboren wurde, steht im Fokus des Romans. Dort wird er mit dem Namen Celal gerufen. Unter diesem Namen ist er auch seinem Neffen Mesut Bayraktar bisher bekannt gewesen, bis er auf die andere Identität seines Onkels – Aydın – stößt und sich mit ihm auseinandersetzt. Er macht sich auf die Spuren Aydıns, um ihn, um sich, um all die Millionen von Menschen, die dasselbe Schicksal teilen, das Bayraktar treffend soziale Herkunft nennt, besser kennenzulernen. Er begibt sich ,,immer wieder […] in die Ferne“, um sich ,,ihm nähern zu können“.
Bayraktar beschreibt eingangs, welches Gefühl ihn ,,seit Kindestagen“ begleitet. Es ist die Wut, die den Zustand der Ohnmacht auslöst, aus der allerdings auch seine Motivation des Kampfes gegen die ,,Unfreiheit“ entspringt. Jene Wut und Motivation begleiten den Lesenden durch den ganzen Roman.
Aydıns Vater kommt wie viele andere als Gastarbeiter nach Deutschland, weil ihn und seine Familie sonst weiterhin die Armut erwartete. So bleibt ihm nichts Anderes übrig, als sein gewohntes Umfeld und seine Familie zu verlassen, um zwanzig Jahre lang in Deutschland die Enteignung seines Körpers im vollen Umfang zu spüren – damit die Herrschenden von diesem Leid profitieren können. Hier schlägt für Aydıns Familie die brutale Faust des Kapitalismus zu, indem er sie trennt und ohne Vater großwerden lässt, da sie ihn kaum zu Gesicht bekommen. Aydın hat lediglich im Sommer die Möglichkeit, eine Bindung zu seinem Vater aufzubauen.
Arbeit in Deutschland
Die fehlende Geborgenheit, Anerkennung und Wertschätzung seines Vaters hofft er endlich zu erfahren, als er im Alter von 15 Jahren, zu ihm und seinem älteren Bruder ins ,,Arbeitsexil“ nach Deutschland geht. Dort nimmt er die Identität von ,,Aydın“ an und verabschiedet sich von ,,Celal“, in der Hoffnung, ein zufriedenes Leben in Deutschland führen und frei von Gefangenschaft leben zu können. Auch hier wird das brutale Gesicht des kapitalistischen Systems deutlich. Denn sein Vater ist aufgrund der menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht imstande, ihm diese Geborgenheit zu geben. In Aydın beginnt etwas zu keimen, das vermutlich später zu seiner Krankheit führt.
Er wird in seinem Dorf mit einem ihm kaum bekannten Mädchen verheiratet. Verlobungen und Ehen in diesem Alter waren damals eine gängige Praxis, um patriarchalische Strukturen aufrechtzuerhalten. Als lediger Aydın kehrt er kurze Zeit später nach Deutschland zurück und erlebt die Gewalt an seinem Körper, die dazu führt, dass er sich mit Seinesgleichen der Arbeit entzieht, wie mit Yilmaz, den er kennenlernt, und mit dessen Bekanntschaft auch seine Alkoholsucht beginnt. Bayraktar beschreibt diesen Umstand als ,,gewalttätige Stimme, die nach Liebe und Zärtlichkeit ruft“, der von den Bürgerlichen aufrechterhalten wird, um eine Einheit der ,,Ausgegrenzten“ zu verhindern. Aydın hat weiterhin die Hoffnung, die fehlende Anerkennung seines Vaters zu erhalten, als er zu arbeiten beginnt. Allerdings kehrt sein Vater in die Türkei zurück, als er arbeitslos wird, da er für den deutschen Markt nicht mehr ,,verwertbar“ ist. So wird seinem älteren Bruder, dem Vater des Autors, die Bürde auferlegt, sich sowohl um Aydın als auch um seinen jüngeren Bruder zu kümmern. Fortan hangelt sich Aydin von einem Job zum nächsten, da er stets aufgrund mangelnder Arbeitsdisziplin gekündigt wird. Währenddessen lernt er Personen kennen, durch die sein stummer Schrei nach Geborgenheit, Zuneigung, Liebe, Anerkennung, Respekt und Wertschätzung temporär Gehör findet. In eine Frau namens Britta verliebt er sich und durch Erdal lernt er den Schatz der Freundschaft kennen, dem er wohl mitunter seine schönsten Erinnerungen zu verdanken hat. Die Beziehungen zu diesen beiden Menschen nehmen auf unterschiedliche Weise ein Ende, das ihn erneut in den Zustand der Ohnmacht versetzt. Er wird in die Türkei abgeschoben und macht unmittelbar danach seine Erfahrungen als Obdachloser auf der Straße. ,,Aydın“stirbt mit der Abschiebung in die Türkei 1991 und führt sein Leben als Celal in der Türkei auf den Straßen Istanbuls als Gefangener fort. Dort wird er ein Jahr später von seinem Vater gefunden, der ihn anschließend in die Psychiatrie verfrachtet. 1992 wurde er zu jenem Celal, den der Autor Bayraktar kennt.
Rechte Gewalt
Zwischen der Beschreibung von Aydıns Leben fügt Bayraktar gegenwärtige politische Geschehnisse ein, mit denen er eine Verbindung zum Lebens seines Onkels und vielen anderen Geschlagenen zieht. Er erwähnt den Mord an Oury Jalloh, die NSU-Morde oder auch das rechte Attentat in Hanau und veranschaulicht damit eindeutig, dass es bereits viele Aydıns gab, die nach wie vor existieren. Es sind alle, die den Bestandteilen des Kapitalismus wie Rassismus gnadenlos ausgeliefert sind, da nie eine Entnazifizierung stattfand und sich der rechte Gedanke der Nazizeit bis heute wie ein roter Faden durch die Bundesrepublik zieht.
Bayraktar schafft es trotz all der Emotionalität, die die Thematik um die Gastarbeiterinnen umgibt, doch bisher oftmals als Opfergeschichte dargestellt wird, ganz klare und deutliche Worte zu finden und aus jener Achterbahn der Gefühle, einen Appell an uns, die die soziale Gewalt erfahren, zu formulieren. Diesem Appell müssen wir nachkommen. Die Geschichte von Aydın ist keine Opfergeschichte, sondern eine von vielen Menschen, die an unterschiedlichsten Fronten Kämpfe führen mussten, um uns daran zu erinnern, wer wir sind und, dass wir unsere Geschichte nicht vergessen dürfen. Das wird in dem Roman besonders deutlich hervorgehoben. Daher ist es empfehlenswert, den Roman zu lesen und sich mit seinen Themen auseinanderzusetzen.
Wir müssen uns das Leben all der Aydıns ins Bewusstsein rufen, um die damit verbundene soziale Gewalt zu bekämpfen. Dies kann nur erreicht werden, wenn wir gegen das Vergessen kämpfen – ob es Filme, Bücher, Theaterstücke, Musikprojekte oder der Kampf auf der Straße sind. Uns eint dasselbe Schicksal, die soziale Herkunft, die uns, den Geschlagenen, Zugang zur Bildung, Freizeit, Kultur, generell zur Teilhabe an gesellschaftlichen und politischen Prozessen erschwert, oder gänzlich verwehrt.
Um diese Rezension mit Bayraktars Worten zu beenden, die wir als Losung nutzen sollten: ,,Geht kämpfen, das heißt lernen!“ – um nicht zu vergessen und jenen eine Stimme zu verleihen, die sie nicht nutzen konnten: den Geschlagenen.
Eine Besprechung von Gamze Ardıç. Das Buch kann hier beim Unrast-Verlag bestellt werden.