Jede vierte Frau in Deutschland erfährt in ihrem Leben häusliche Gewalt. Unter Akademikerinnen ist die Zahl noch höher. Um ihre Geschichte zu erzählen, hat Lina* sich an die critica gewandt. Sie möchte zeigen, dass Gewalt auch da vorkommt, wo wir sie nicht erwarten.
Linas Freund schubste sie zuletzt so heftig, dass sie ein paar Schritte stolperte und fast die Treppe herunterstürzte. „Beim nächsten Mal rufe ich die Polizei!“, schleuderte sie ihm entgegen. Er erwiderte: „Beim nächsten Mal kannst du das nicht mehr“. Weil sie kurze Zeit später wegzog und die Beziehung beendete, gab es kein nächstes Mal.
Lina ist Studentin und hat in ihrer letzten Beziehung Gewalt durch ihren Ex-Freund erfahren. Sie war 18 Jahre alt und frisch von zuhause ausgezogen, als sie mit ihrem damaligen Kommilitonen zusammenkam. Er war Anfang 20. Die Beziehung hielt zwei Jahre.
Schnell merkte sie, dass er ein Aggressionsproblem hatte. Beim Zocken verlor er die Kontrolle und schrie herum, was Lina Angst machte. Die Beiden stritten über Kleinigkeiten, häufig, nachdem sie ihn kritisiert hatte. Trotzdem zogen sie nach einigen Monaten zusammen. Für Lina überwogen die guten Momente: „Wenn wir uns gestritten haben, war er wie ein anderer Mensch“. Deswegen sagte die junge Studentin sich, dass er es nicht so meine.
Kurze Zeit später kam es zur ersten körperlichen Auseinandersetzung. Während eines Streits packte ihr Freund Linas Arme so fest, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Aus Ausnahmen wurden Regelfälle, bis er bei jeder der zahlreichen Streitigkeiten Gewalt anwendete. „Wenn ich versucht habe, mich zu wehren, hat er noch fester zugepackt, bis ich nichts mehr machen konnte. Er hat mir immer wieder zu spüren gegeben, dass er die stärkere Person ist“, betont sie. Dazu kam verbale und psychische Gewalt, bis hin zu Suiziddrohungen seinerseits. Die Schuld für den ständigen Streit gab er Lina.
Jede vierte Frau in Deutschland hat im Lauf ihres Lebens schon einmal Gewalt durch ihren aktuellen oder ihren Ex-Partner erfahren. Im universitären Umfeld erwarten wir ein solches Ausmaß an Übergriffen nicht. Dabei sind Akademiker*innen sowohl unter den Tätern als auch Opfern überrepräsentiert – die Gewalt wird hier lediglich besser verschleiert, schreibt das Magazin jetzt. Stattdessen wird angenommen, es handele sich um ein Problem von ökonomisch Abgehängten und Migrant*innen. Dass hier eher Gewalt erwartet wird als im akademischen Umfeld, ist ein Symptom unserer klassistischen Gesellschaft.
Weil es sich bei häuslicher Gewalt unter Akademiker*innen noch immer um ein Tabuthema handelt, werden Hilfsangebote von ihnen seltener angenommen. Die Angebote sprechen zudem eher Erwachsene an. Junge Betroffene gestehen sich häufig nicht ein, dass es häusliche Gewalt ist, die ihnen widerfährt. Deswegen müssen Hilfen bei ihnen an anderer Stelle ansetzen. Aufgrund der fehlenden Sensibilisierung im akademischen Umfeld und ihrem jungen Alter können Student*innen also leicht durch das Raster fallen.
Lina war es wichtig, nach außen hin den Schein zu wahren. „In etwa so, wie wenn man die Wohnung aufräumt, bevor die Eltern vorbeikommen. Man versucht auszustrahlen, dass alles in Ordnung ist“. Gleichzeitig zog zuhause die Angst ein: „Wenn er wütend war, bekam er einen kompletten Tunnelblick. Wenn ich länger mit ihm zusammengeblieben wäre, wäre sicher Schlimmeres passiert“. Im Gespräch mit einer Freundin öffnete sich Lina schließlich und beendete die Beziehung kurz darauf. „Hätte ich es nicht geschafft, mich ihr anzuvertrauen, wäre meine Geschichte anders verlaufen“.
Lina spricht darüber, was ihr passiert ist, um anderen Betroffenen Mut zu machen, sich Hilfe zu suchen. „In der Beziehung dachte ich immer, so ein Verhalten sei normal. Aber es ist nicht normal!
Ich bin die Studentin von nebenan. Wie hoch die Dunkelziffer von Betroffenen häuslicher Gewalt ist, will ich mir nicht vorstellen“.
*Um Lina zu schützen, nennen wir ihren richtigen Namen nicht.
Bist du oder jemand in deinem Umfeld von häuslicher Gewalt betroffen? Beim Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ bekommst du jederzeit Hilfe. 08000 116 016
Dieser Beitrag erschien in gedruckter Form in der Critica, verfasst hat ihn Lea Klingberg
2 Antworten
Gibt es denn Hinweise darauf, woran es liegen könnte, dass das bei Akademiker*innen vermehrt vorkommt? Man würde ja erstmal davon ausgehen, dass belastende Faktoren wie zB wirtschaftliche Probleme, die zu Gewalt führen könnten, hier im Schnitt seltener vorliegen.
Diese Männer schlagen ihre Partnerinnen nicht, weil es ein konkretes Problem gibt, sondern weil sie Macht und Kontrolle über die Frauen ausüben wollen. Dieses gewalttätige Verhalten in Beziehungen wurde ihnen in vielen Fällen im Elternhaus so vorgelebt. Es ist ein Klischee, dass Gewalt häufiger in ärmeren Haushalten vorkommt. In wohlhabenderen Kreisen lässt sich das Ganze nur wesentlich besser geheim halten. Räumlicher Abstand zu Nachbarn, keine Kontrolle durch Ämter, das Umfeld schweigt aufgrund der angesehen Position des Mannes, betroffene Frauen fürchten den Verlust von Status und Wohlstand für sich und ihre Kinder. Scham, Ignoranz, Schweigen, Ertragen – das ist in gutbürgerlichen Kreisen in denen es um Status, Ansehen und finanzielle Interessen geht noch stärker ausgeprägt als in unteren Schichten.