Samba rückwärts tanzen

Brasilien. Was passiert hier eigentlich gerade? Ich versuche mal all meine Beobachtungen aus dem Alltag zusammen zu puzzeln. Alles total unwissenschaftlich. 67 Tage Brasilien. Zwei Augen, zehn Finger und ein Traum.

Die Fingerkuppen kribbeln wieder. Bevor ich zu den unschönen politischen Absurditäten komme, fange ich mal mit den positiven Veränderungen an.  Mehr als fünf Jahre ist es nun her als ich für ein Jahr bei einem sozialen Projekt in einer Favela ausgeholfen habe. Was hat sich seit dem verändert? Vor allem in São Paulo fiel mir sofort auf, dass es im Vergleich zum Jahr 2011 deutlich mehr Fahrradwege und Fahrradfahrer gibt. An Fahrradstationen kann man sich bequem mit der Kreditkarte ein quietschorangenes Fahrrad ausleihen und sofort in die Pedalen treten. Nach wie vor lohnt es sich mehr den eigenen Augen als den Ampelfarben zu vertrauen. Sonst findet hier – soweit ich es erkennen kann – ein nicht zu unterschätzendes spirituelles Revival statt. Jahrtausende alte zeremonielle Praktiken verlieren peu a peu ihr Stigma; das Interesse der Bevölkerung an zeremoniellen Erfahrungen steigt. 

Back to the roots

Die Brasilianer finden zurück zu ihren Wurzeln: Indigene Völker mobilisierten sich gegen Landraub und Staudammprojekte im Amazonasgebiet. Schamane reisen in die Mega-Cities Brasiliens. Im Gepäck haben sie Ayahuasca, Rapé (starker Tabak, der zusammen mit Rinde von verschiedensten Bäumen geschnupft wird. Genauer gesagt verwenden Schamane ein Bambusrohr, um das Tabak-Rindengemisch in die Nasenlöcher der Interessenten zu jagen) und ihre uralten Gesänge. Solche Zeremonien – oftmals mit viel Kampf, Tränen und Schmerz verbunden – haben häufig eine lebensverändernde Wirkung. Erlebtes, Ideen, Visionen werden nicht selten im Freundes- und Bekanntenkreis geteilt. Dieser „Spiri-hype“ kommt nicht unerwartet. Immer wenn Zivilisationen einen Punkt erreicht haben, an dem sie kein Weiterkommen sahen, suchten jene Gesellschaften in der traditionsreichen Vergangenheit nach Antworten. Damit will ich nicht sagen, dass bspw. Ayahuasca-Zeremonien allein die Welt verändern werden. Zeremonie können viel mehr als trigger funktionieren, dabei helfen gewisse Zusammenhänge zu verstehen und die Probleme der Zeit klar vor sich sehen zu können. 

Umweltschäden werden sichtbar – Widerstand formiert sich

Zurück zu den hard facts: Man wird hier nicht mehr im Supermarkt mit Gratis-Plastiktüten zugeschüttet. Plastiktüten kosten jetzt 8 Centavos (2 Eurocent). Und die Plastiktüten, die man erwerben kann, sind biologisch abbaubar (sie müssen es sogar sein, denn sonst drohen den Supermarktbetreibern empfindlich hohe Strafen). Aus Umweltsicht gibt es noch eine weitere positive Nachricht: Ich habe mit vielen Menschen in Brasilien über Ernährung gesprochen; als Vegetarier fällt man sofort auf und wird mit Fragen bombardiert. Vor fünf Jahren war ich zwar noch kein Vegetarier, habe aber über Freunde die sich vegetarisch ernährt haben, mitbekommen, dass sie eher bemitleidet worden. Du isst kein Fleisch? Du Armer. Wie kriegst Du deine Proteine? Was machst du gegen diese Mangelernährung? Heute mache ich ganz andere Erfahrungen in Brasilien. „Du isst kein Fleisch? Das würde ich auch gerne schaffen, aber ich schaffe es nicht. Noch nicht.“ Baboom! Diese Antwort habe ich mehrfach bekommen, plötzlich hat man Respekt und zollt dem Vegetarier Anerkennung. Ich war überrascht. Es tut sich was.

Die doppelte Krise 

Nun zur Schwermut. Die Politik. Politik, das bedeutet irgendwo auch immer Gesellschaft. Und die Politik ist immer nur so gut wie ihre Gesellschaft (ausgenommen sind Diktaturen & andere repressive Systeme). Was im brasilianischen Parlament vor sich geht gleicht einer amateurhaft produzierten Sitcom. Viele meiner Freunde hier schämen sich für das was in Brasilien politisch abläuft. Der kalte Putsch, der Erinnerungen an die Militärdiktatur wach werden lässt, ist real. Die demokratisch vom Volk gewählte Staatspräsidentin Dilma Rousseff  (gewann mit einem Stimmenanteil von 51,6%) wurde aus ihrem Amt enthoben; und das obwohl ihre offizielle Amtsperiode erst am 31.12.2018 enden sollte. Ersetzt wurde Rousseff durch Michel Temer als Übergangspräsident, der acht Jahre lang nicht an Wahlen teilnehmen darf. Er wurde wegen illegalen Wahlkampfspenden verurteilt. Selbst wenn Temer bei einer Wahl antreten dürfte – er wäre chancenlos. Jetzt ist er Staatspräsident.  

Erst die ökonomische Krise; jetzt folgt die politische. Politik und Wirtschaft tanzen Samba, rückwärts – im Gleichschritt.  

Die Bevölkerung des riesigen Landes ist gespalten. Der Mittelstand und die Wirtschaft unterstützten die Putschisten mit Demonstrationen, auf denen sie Brasilienflaggen schwenkten. Die Wörter „Ordnung und Fortschritt“ sind im inneren des Logos zu lesen. Sie eroberten die Strassen, um ein Zeichen gegen Korruption zu setzen – so die mediale Berichterstattung. Der große Bluff. Gleichzeitig hievten die „Korruptionsgegener“ Faschisten auf den Thron – die einen bewusst, die anderen unbewusst. Anhänger der neuen Regierung sind oder waren selbst oftmals in Korruptionsskandale verwickelt, schwörten bei Rousseffs Amtsenthebung auf Gott und ihre Familien, glorifizierten die Militärdiktatur. Kurzum: wir sehen hier wie sich die einen 50% gegen die anderen 50% bekriegen. Korruptionsbeschuldigungen auf beiden Seiten. Diese tiefe Spaltung hat sogar zur Folge, dass heftige Familienstreite entbrennen, sich Familien im Streit trennen. Die einen schreien „Dilma raus“, die anderen schreien jetzt „Temer raus“. Politik spaltet so sehr, ich habe es so oft selbst erlebt. Vor kurzem wäre es fast wieder passiert. Aber ich wollte kein Fass aufmachen. Als ich drei Wochen bei einem Regenwald-Aufforstungsprojekt in Minas Gerais gerarbeitet habe, bekam ich vom „Chef“ zu hören wie blöde und korrupt die Regierung um Dilma Rousseff sei. Und keine Ahnung von Wirtschaft habe sie. Ich blieb ganz ruhig. Den Regenwald aufforsten und gleichzeitig Liebhaber der Militärdiktatur, originale Faschisten, unterstützen? Das scheint offenbar kein Problem zu sein. Spalten, spalten, spalten. Arm gegen Reich, schwarz gegen weiß, rechts gegen links. Spalterspiele. Und es macht mich traurig zu sehen, wie das Lächeln der BrasilanerInnen aus ihren Gesichtern verschwindet. 

Die Verteilungs-Krise wird nicht thematisiert

Trauer hilft hier aber niemanden. Was Meiner Meinung nach fehlt ist eine öffentliche Debatte darüber wie wir eigentlich leben wollen. In jedem Land der Welt brauchen wir diese Debatte. In Brasilien ist diese Debatte besonders wichtig. Man schaue sich nur das obrige Bild an. Das Bild ist real; kein Photoshop. Null Fotomontage. In diesem Bild zeigt sich sinnbildlich, wie kompromisslos das „Arm-gegen-Reich-Spiel“ in São Paulo aka. Gotham-City gespielt wird. Und nichts deutet daraufhin, dass sich diesbezüglich etwas ändern wird. Die Menschen aus der Peripherie sind – so wie ich es mitbekommen habe – wütend, wissen aber nicht wie sie diese Wut in etwas konstruktives transformieren können. An wen sollen Sie sich wenden? Die Misere fußt auf zwei simplen Bausteinen. 1. Schlechte Bildung. Ein Lehrer muss oftmals zwei Klassen gleichzeitig betreuen; in einer Klasse sind manchmal bis zu 50 Schüler; Lehrer an öffentlichen Schulen verdienen mikrige 2.000 Reais (500 Euro). In letzter Zeit kam es zu mehrwöchigen Streiks, die nicht viel geändert haben. Gelernt wurde während des Streiks noch weniger als sonst. Kurzum: Menschen in der Peripherie haben kaum Zugang zu Bildung, geschweige denn zu Kultur. 2. Krise. Die ökonomische Krise, die in Wirklichkeit eine Umverteilungskrise ist. Man muss sich nur einmal in den Bus setzen. Vom Stadtzentrum aus in eine Favela fahren,  aus dem Fenster schauen.  Es wird jedem klar denkenden Menschen sehr schnell dämmern, dass die eigentliche Krise nicht das schrumpfende BIP ist, sondern die pervers krasse Kluft zwischen arm und reich. Zählen wir nun eins und eins zusammen. Armut in Kombination mit mangelhafter Bildung. Was passiert? Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass mit dieser „Kombo“ ein großer Teil der Bevölkerung desillusioniert und regelrecht betäubt wird.  

Wie naiv, wie privilegiert. Ich wollte nach meinem Politikwissenschaftsstudium alles politische an den Nagel hängen, keine nervenraubende Diskussionen mehr eingehen und riskieren, dass man letztlich mehr Hass als Liebe sät. Doch mein Standpunkt änderte sich. „Auch mit Steinen die dir in den weg gelegt werden, kannst du schöne dinge bauen“, sagte Goethe zum jungen Schiller einst. So ist es! Aus dem fetten Schlussstrich den ich zog, ist nun mein Projekt „LeoDreams“ geboren. Denn mir wurde klar: Sich allem unliebsamen einfach zu entziehen ist auch keine Lösung. Der Mikroebene gehört jetzt die große Bühne. Nein, nein. Nicht mir, viel mehr den Menschen denen ich auf meiner Reise begegne. Es geht um Träume. ich fange ihre Lebensträume ein, veröffentliche sie auf der Homepage „www.LeoDreams.com“. Denn Träume sind meiner Meinung nach dazu da, andere Menschen zu inspirieren und(!) um sie zu realisieren. Jetzt kommst Du und alle anderen die sich im Internet tummeln ins Spiel. Zusammen ist es absolut möglich Träume zu verwirklichen.  Ich glaube dran, dass auf die weise auch größere Projekte gestartet und umgesetzt werden können. die Reise kann beginnen.

Ich fange Feuer. Auf eine spannende Zukunft mit Euch, mit Dir!


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