Dystopia – Geschichte der Deportation

Was ein Blick in die Geschichte der „Deportation“ uns über die Motivation der AfD-Anhängern, Retropien und den Umgang mit dem Faschismus lehrt

Millionen Menschen gehen in Deutschland seit den Enthüllungen des Correctiv-Teams auf die Straße; was über das internationale Treffen europäischer Faschisten ans Licht kam veränderte den Diskurs über den neuen deutschen Rechtsextremismus wahrscheinlich Nachhaltig. Offen wurde über die Deportation von Menschen gesprochen, konkret geplant wurde für eine ethische uns politische „Säuberung“ der Nation. Und doch ist es bemerkenswert, wie wenig sich aus dieser Diskursverschiebung entwickelt hat. Neben einem leisen, undeutlichen Raunen über ein Parteiverbot scheint kein wirkliches Verständnis darüber zu herrschen, was man mit den Enthüllungen politisch anfangen soll.
Genau das soll diese Essay-Reihe beantworten, denn nicht nur fällt dem liberalen Zeitgeist schwer, konkret zu handeln, sondern auch das Verständnis darüber, wie tief diese Enthüllungen blicken lassen, fehlt im weitesten Sinne. Teil eins möchte sich genau damit auseinander setzen, während Teil Zwei vielleicht zu einigen Antworten kommen wird, welche wirklich helfen könnten, und nicht nur beim Raunen bleiben.

Bei mir als Person mit Demo-Erfahrung – und wahrscheinlich können sie das sehr gut nachvollziehen – herrscht seit Beginn des Jahres dieser seltsame Mix an absolut gegensätzlichen Gefühlen: Auf berstend vollen Plätzen zusammen mit einem breiten Querschnitt durch alle Gesellschaftsschichten zu stehen, egal ob Stadt oder auf dem Land, alle hier zu einem im weitesten Sinne antifaschistischen Protest – das macht Euphorisch, wenn auch etwas befremdlich ist, warum ausgerechnet jetzt der Schalter im Diskurs gekippt ist und nicht beispielsweise schon 2018, als die AfD mit der „Remigration“ bereits Wahlwerbung machte. Sei’s drum.
 Denn diese Euphorie wird in den meisten Fällen noch viel stärker vermischt mit dem Fremdscham über die Personen, welcher der liberale Mainstream so auf die Bühnen schickt. Wenn sie nicht gerade selbst rassistische Aussagen tätigen („Wenn die ganzen Migranten abgeschoben wurden, wer soll denn dann den Spargel stechen“ – ich wünschte, ich würde scherzen) oder von Parteien gestellt werden, die ebenfalls „im großen Stil abschieben wollen“, mir aber jetzt erklären wollen, woher denn der Faschismus in Deutschland seine stärke gewinnt, dann ist von ihnen vor allem ein Argument zu hören: Die AfD, das wären die „Ewig-Gestrigen“. Das sind „Reaktionäre“. Menschen würden diese Partei wählen und sich in ihr beteiligen, weil sie auf die eine oder andere Weise aus der Zeit gefallen wären.
Eine derart monokausale Sichtweise auf ein Problem epochaler Größe wie den neuen deutschen Faschismus erklärt wahrscheinlich auch, warum die Frage nach einem möglichen Parteiverbot eine solche Dominanz unter denen hat, die sich mit einer Verteidigung des herrschenden Systems beschäftigen. Ist die faschistische Bewegung lediglich ein Menschenhaufen voll griesgrämiger alter Männer, dann ist das System an sich „unschuldig“ und bedarf keiner tieferen Überarbeitung. Das Problem verschwände dann, wenn die Plattform entzogen ist. Man macht es sich einfach, weil man es einfach haben will.

Das ist natürlich Quatsch. Es ist sicherlich kein Zufall dass faschistische Bewegungen ausschließlich in kapitalistischen Gesellschaften entstehen, besonders in jenen, die in tiefen ökonomischen Krisen stecken (falls man Ungleichheit auf feudalen Niveau als krisenhaft versteht, selbst redend). Außerdem, worin soll denn dann die Ursache zu finden sein, dass die AfD gerade bei den Jungwähler*innen so unheimlich stark abschneidet? Nein, eine einfache Antwort darauf gibt es nicht, aber es ist trotzdem interessant und lehrreich, sich genau dieses Argument genauer anzusehen.

Denn genau hier finden wir die Schwäche des aktuellen Diskurses, aber auch ein sehr viel stärkeres Erklärungsmodell. Schauen wir uns dazu eines der berühmtesten Werke an, welches sich mit der „Retropie“ auseinander setzt.

Retrotopia

Zygmunt Baumann ist einer der quintessenziellen sozialdemokratischen Autoren, die je auf deutscher Sprache geschrieben haben. 2016 veröffentlichte er sein letztes Werk, „Retrotopia“, welche im Eindruck der Trump-Wahl in den USA mit den Ursachen der, aus seiner Sicht, modernen, reaktionären Bewegung auseinander. Die Ausgangstheorie seiner Arbeit ist sogar ein Stück weit kämpferischer und tiefer, als man es im gängigen Diskurs findet: im Laufe zunehmender ökonomischer Ungleichheit nehme nicht nur die relative Armut auch die „relative Beleidigung“ zu (S. 121f), also die Zunahme der Diskrepanz von kapitalistischen Anspruchsdenken und gelebter materieller Realität. Allerdings bettet er dies in eine weitere Theorie eines Unischerheitsgefühls ein, welche angeblich aus einer Unzuverlässigkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen entsteht. Und hier, zum Schluss des Werks, kommt er zum zentralen wie problematischen Schluss, welchen wir hier genauer anschauen wollen: Menschen, die diese Erfahrungen machen, bilden deshalb negative, reaktionäre Utopien – Retropien – heraus, die eine Art Wunsch „zurück in den Mutterleib“ darstellt. Die Gesellschaft soll also in einen stabileren Zustand zurückversetzt werden, was angeblich im Zentrum der rechtsextremen Agitation.

Ob bewusst oder unbewusst, diese Art von Argument steht im Zentrum der liberalen und linksliberalen Problembeschreibung zur AfD. Rechtsextremismus ist ein individuelles „beleidigt“ sein auf den Kapitalismus, eine maximal beiläufige Entwicklung der herrschenden Ordnung, auf den Akteur zu beschränken und durch milde Maßnahmen wieder gerade zu rücken.
Und wenn diese Art von Idee zur Problembehandlung angewendet wird, dann wird es künftig genau so infernal scheitern wie es heute bereits der Fall ist.

Eine kurze Geschichte der Deportation

Was die „Retropie“ Idee unterstellt ist, dass diese Art von gesellschaftlicher Beschreibung selbst stabil und vor allem Konkret ist. Eine biedermeierisches zurück ziehen in die eigene Nachbarschaft, nur dass diese Art von Umgebung nie existiert hat. Die deutsche Gesellschaft im speziellen war niemals ethisch oder religiös Homogen, niemals ein Ort ohne Widerstand und niemals nicht geprägt von der Unterdrückung von Minderheiten. Was Baumann – und jeder, der argumentativ in die selbe Kerbe schlägt – unterstellt ist, dass es der modernen faschistischen Bewegung um ein eigenes, konkretes Gesellschaftsmodell geht, dass es zu erreichen gilt. Ohne einen konkreten Referenzpunkt für dieses Modell kann dies aber bereits ausgeschlossen werden.

Neben den konkreten Deportationsplänen wird häufig einer der absurderen Aspekte des in Potsdam von Correctiv aufgedeckten „Masterplans“ eher übersehen oder lediglich am Rand als lächerliches Wunschdenken abgetan: Um die Deportation von „Unassimilierten“ Menschen gewährleisten zu können, soll „in Afrika“ ein „Modellstaat“ gegründet werden, welcher einfach als Abstellplatz für die Vertriebenen benutzt werden soll. Correctiv stellt selbst die Verbindung zum Madagaskar-Plan der Nazis her, welcher als Vorstufe zum Holocaust die Deportation der jüdischen Bevölkerung in die von den Franzosen als Kolonie besetzte Insel Madagaskar vorsah. Während diese Querverbindung historisch interessant ist, stellt sie eine viel größere Verbindung her.
In ihrer Studie „Ordering Space: Intersections of Space, Racism, and Extermination“ beschäftigt sich Ulrike Jureit mit der Natur des Gedankens von „Lebensraum“, dem Argument, mit der die europäischen und vor allem deutschen Faschisten die massenhafte Eroberung von Boden und die Vernichtung der ansässigen Bevölkerung zu rechtfertigen Versuchen. Denn im Gegensatz zu bisherigen kapitalistischen, kolonialen Ordnungen war hier nicht mehr die ökonomische Ausbeutung von Land und Leuten im Vordergrund, sondern: „the Nazi policies of resettlement, expulsion, and murder of racially undesirable population groups were not the consequences of the occupation policy, but rather their very purpose and objective“ (S. 77).
„Lebensraum“ war als Projekt explizit keine Idee von „Nationaler Wiederauferstehung“ oder der Wiederherstellung einer positiven Ordnung. Ganz im Gegenteil, die Idee des war ausschließlich auf die Vernichtung der Gruppen ausgelegt, welche als Feinde identifiziert wurden. Kein rationell, keine logische Beweggründe stehen hinter der Idee einer „ethischen Reinigung“, sondern: „Lebensraum, on the other hand, represented a different and unprecedented model of domination, one that did not imagine, in colonial fashion, the spaces as being empty, but rather intended to empty these spaces and radically reorganize them for the purpose of racial selection“ (S. 81).
Worum es in der faschistischen Ideoligie geht, ist es nicht ein imaginäres Paradies zu erreichen. Es gibt kein Retrotopia, so viel diese Organisationen auch von einem „Land der Vorväter“ reden. Diese Ideologie ist ausschließlich auf Vernichtung von Unerwünschten ausgerichtet, und das zeigt sich zu erst immer mit Vorstellungen der Deportation.

Rasse, Klasse, Nation

Doch wie kommt es dazu, dass sich solche Ideen aus kapitalistischen Gesellschaftsordnungen herausbilden?
Balibar und Wallerstein haben sich in ihrer Arbeit „Rasse, Klasse Nation“ mit dieser Frage aus marxistischer Sicht auseinander gesetzt. Ihre Analyse startet nicht mit der Beschreibung von individuellen Persönlichkeiten, sondern mit der Struktur des Kapitalismus an sich. Auf Akkumulation ausgelegte Systeme erzeugen notwendigerweise extreme ökonomische Ungleichheit, da diese Wirtschaftsform einen stetig wachsenden Bedarf an ausbeutbarer Arbeitskraft. Allerdings werden Gesellschaften dadurch zunehmend stratifiziert: die Klasse der Ausgebeuteten findet sich zunehmend in der Mehrheit, mit einem immer stärker werdenden revolutionären Charakter. Um dies zu verhindern, kutltiviert die herrschende Klasse bestehende Ungleichheitsbedingungen innerhalb der beherrschten Gesellschaft durch eine Art „Mainstreaming“ von Identitäten, die sich abseits von Klassenunterschiede zusammen setzen. Religiöse Unterschiede, Sexismus, Rassismus, Klassismus, je nachdem was sich als ehestes Anbietet und am stärksten vertreten ist, werden so von feststellbaren Einstellungen zu Aspekten der eigenen Persönlichkeit. Faschistische Bewegungen sind eine Politisierung und Verstätigung dieser Kultivierung, gewinnen aber mit der Zeit ihr eigenleben. Ihre Dynamik orientiert sich an den bisher vorliegenden Vorurteilen und Unterscheidungen, doch zielt immer auf die Verhärtung dieser Trennlinien ab, was in logischer Konsequenz ultimativ zu Vernichtungsideen mündet.

Aus dieser Perspektive werden bestimmte Dinge klar: eine solche Bewegung besteht außerhalb von gewöhnlichen Diskursverhandlungen und hat höchstens geringe Anknüpfungspunkte zur sonstigen Gesellschaft. Unsere Bewegung muss sich deshalb mit tiefer, umfassender Kritik auseinandersetzen, um zu verstehen, welche Antworten auf Parteien wie die AfD gefunden werden kann.

Wie das erreicht werden kann und wie diese Antworten aussehen können widmen wir uns im zweiten Teil.

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Eine Antwort

  1. Correctiv hat doch mittlerweile jeden Anspielung auf eine „Deportation“ entfernt und auch vor Gericht zugegeben, dass die nicht der Inhalt des Treffens war. Und, man kann das nun glauben oder nicht, haben alle Beteiligten dargelegt worum es genau ging. Es war nicht die Rede von einer ethnischen „Säuberung“, im gegenteil allen dort Beteiligten war klar das es keine Ausweisung deutscher geben kann, auch wenn sie kriminell sind. Das war wohl einer der Themen auf die Sellner eingegangen ist.

    Daher sind solche Fragen weit hergeholt und entsprechen nicht dem was der politische Gegner wirklich fordert und führt zu einer immer stärker Solidarität der Afd’ler untereinander. Da man zum einen weiß, das das was andere sagen nicht stimmt und über die Probleme und Forderungen, die wirklich thematisiert wurden, keiner spricht.

    Diese ganze Propagandashow treibt die Leute förmlich in die Arme der Afd. Es gibt um die 30% Wähler, die nicht Wählen und immer mehr die merken, die Ziele die SPD, CDU, Grüne, FDP verkünden, verbessern nicht die Lebenssituation, der hier arbeitenden, egal woher sie stammen. Da eine starke linke Position wäre ein Fünkchen Hoffnung, aber nicht wenn man jedes Stöckchen das die Nomenklatura hin hält auch noch aufnimmt.

    Wir leiden doch nicht, weil ein paar Figuren sich in Potsdam treffen, sondern weil die Regierung an allen relevanten Stellen kürzt und hunderte Milliarden für die Rüstung ausgibt.

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