Clankriminalität, Shishabars und Stigmatisierung

Moritz Wittler (Sprecher der LINKEN Neukölln) und Ahmed Abed (Bezirksverordnete der LINKEN Neukölln) haben nach einem Großeinsatz der Polizei auf der Sonnenallee in Neukölln sich mit den Betroffenen unterhalten. Ihr Fazit: Solche Einsätze haben mit dem Kampf gegen organisierte Kriminalität nichts zu tun. Der Neuköllner Bürgermeister Martin Hikel (SPD) spielt auf der rassistischen Klaviatur der „Clan-Gewalt“ und damit AfD und Co in die Hände.

Am 27. März 2019 war Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) und der Innensenator Andreas Geisel (SPD) mit 340 Beamtinnen und Beamten sowie zahlreichen Kamerateams und Journalisten in der Sonnenallee. Es war nicht die erste „Razzia“ dieser Art. Das Großaufgebot umfasste Ermittler von Zoll und Steuerfahndung sowie dem Bezirksamt Neukölln. Sechs Shisha-Bars und drei Lokale in Neukölln wurden durchsucht. Der Einsatz sei der bisher größte dieser Art in Berlin gewesen, teilte die Polizei mit. Die Bildzeitung „berichtet“ unter der Schlagzeile „Razzia in Shisha-Bars in Neukölln“. In dem Artikel steht, mit den Razzien wäre gegen die „organisierte Kriminalität“ in Neukölln vorgegangen worden. Wir sprachen nach dem Einsatz mit Betroffenen, um zu erfahren, was es mit diesen „Razzien gegen die organisierte Kriminalität“ auf sich hat. Wir haben in Begleitung eines Freundes, insgesamt drei betroffene Shisha-Bars und ein unmittelbar benachbartes Restaurant besucht und mit Gästen, Angestellten und Besitzerinnen und Besitzern über die Razzien gesprochen, um eine andere Perspektive auf diese Einsätze zu Wort kommen zu lassen.

Rufschädigende Show gegen die ganze Sonnenallee in Neukölln

Die erste Person war am Vorabend Gast in dem benachbarten arabischen Restaurant, das nicht unmittelbar betroffen war. Er berichtete, dass die Sonnenallee beidseitig für mehrere Stunden gesperrt war, er schilderte die Größe und Massivität des Polizeiaufgebotes, den großen Presseandrang. Er meinte, das wäre einfach eine PR-Show der Politik, eine Machtdemonstration der Polizei, mehr nicht. Natürlich hätte der Einsatz bei den umliegenden Läden auch rufschädigende Eindrücke hinterlassen. Während des Einsatzes bleibt die Kundschaft aus und zunehmend werden die arabischen Geschäfte in der Sonnenallee mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung gebracht.

Plötzlich stehen 50 Polizisten im Raum

In der ersten Shisha-Bar sprachen wir mit einem jungen Angestellten, der uns den Vorgang genau schilderte. Er sagt, in seiner Bar hätte der Einsatz weit über eine Stunde lang gedauert. Alle Gäste waren erschrocken, als ca. 50 Polizeibeamte den gesamten Laden besetzten. Von Gästen wurden Ausweispapiere eingesammelt und nach der Aussage eines Gastes erst nach mehr als einer Stunde wieder zurückgegeben. Die „Razzia“ bestand darin, dass die verschiedenen anwesenden Beamten, verschiedene Routinekontrollen durchführten. Zudem haben sie den Shisha-Tabak und den Müll akribisch durchsucht. Alle Angestellten wurden kontrolliert, Kohlenmonoxidwerte gemessen und die Buchführung durchgesehen. Nach Aussage der Besitzerin oder Geschäftsführerin war die einzige Beanstandung, die gemacht wurde, eine Formalität bei der Buchhaltung. Eine Kleinigkeit, die keinerlei Konsequenzen nach sich zieht und ganz gewöhnlich ist. Sie sagte, dass für sie die Kontrollen ja richtig sind. Allerdings störte sie die Massivität des Polizeieinsatzes und die tendenziöse Berichterstattung. Die Journalisten versuchten, Gäste abzufotografieren, die sich weigerten. Sie wurde von Freunden besorgt angerufen, die bereits während der Kontrollen Bilder vom Einsatz in den Sozialen Medien gesehen hatten. Hikels Rolle bei dem Einsatz bestand darin, dass er während der Kontrolle einmal an der Polizeikette entlang durch den Laden stolzierte, um danach der Presse seine Interviews zu geben. Mit der Bekämpfung von organisierter Kriminalität hatte das Geschehen im Laden, meinem Eindruck nach, aber überhaupt nichts zu tun.

340 Polizisten, 15 Minuten und 1 Bürgermeister bringen 0 Erfolg

In der zweiten Shisha-Bar wiederholten sich die Schilderungen. Hier ging der Einsatz wohl deutlich schneller. Ansonsten die gleichen Kontrollen, mit keinen Ergebnissen. Diese Shisha-Bar war bereits von solchen Kontrollen betroffen. Der Bruder des Inhabers schilderte uns, dass eine sehr teure Lüftungsanlage installiert worden ist, die die Kohlenmonoxidwerte so niedrig halten, dass selbst die Kontrolleure staunten. Die Luft sei besser, als draußen. Sie wissen, dass beim kleinsten Vergehen die Schließung des Ladens droht. Wenn die „Clubs“, für die sich Berlin so feiert, so kontrolliert würden wie hier, dann gäbe es sie nicht mehr. Auch hier in dieser Bar wurde deutlich gesagt, dass keinerlei Rechtsverstöße durch den Einsatz festgestellt wurden.

Wahllose Razzienpolitik in Neukölln nur Showkulisse?

In der letzten Bar, die wir besucht haben, hatten wir die Möglichkeit lange mit dem Besitzer zu reden. Die „Razzia“ schilderte er in gleicher Weise, wie die anderen. Er ist Besitzer einer weiteren Bar, die auch schon in der gleichen Art und Weise „kontrolliert“ wurde. Einer der Beamten habe gemeint, dass er nicht gewusst habe, dass er auch an der Führung diesen Ladens beteiligt ist, er wisse ja, dass der Inhaber sein Geschäft gewissenhaft und ordentlich führe. Warum die Polizei ihn erneut mit so einem Aufgebot aufsucht, konnte er auch nicht beantworten. Diesen Besitzer störte vor allem das massive Polizeiaufgebot und dass diese Routinekontrollen immer als Kampf gegen organisierte Kriminalität dargestellt werden. Wegen der Berichterstattung sind auf seiner Facebookseite immer wieder rassistische Kommentare gelandet. Hass gegen „Araber“ wird dann tatsächlich freier Lauf gelassen. Journalisten haben ihn gefragt, ob den Clans oder der Stadt die Straße gehört und ob er Schutzgeld zahle. Er meinte, dass er selbst immer die Polizei ruft, wenn es Probleme gibt und dass er kein Schutzgeld zahlt.

Perspektive notwendig

Wir sprachen auch über die sogenannte Clan-Kriminalität. Er sagte, dass es wie in allen Bevölkerungsteilen organisierte Kriminalität natürlich auch bei Menschen mit libanesischem oder palästinensischem Hintergrund gäbe. Das dürfe aber nicht dazu führen, dass dann pauschalisiert und vorverurteilt wird. Er schilderte noch mal deutlich, dass Kriminalität sich dort ausbreiten konnte, wo ganze Einwanderergruppen durch den Staat diskriminiert und jeder Perspektive beraubt wurden. Gerade die Geflüchteten aus Palästina oder Libanon müssen oft mit Kettenduldungen leben und dürfen nicht arbeiten oder bekommen kaum Unterstützung, um Arbeit zu finden, oder sind von vielen Jobs wegen der rassistischen Diskriminierung ausgeschlossen. Durch Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung wird Kriminalität befördert und nicht bekämpft. Der Barbesitzer sagte noch, dass diese Ausgrenzung natürlich niemals eine Rechtfertigung für diese „Sünden“ sein darf, aber er sagte, es sei wichtig, das zu wissen, um so die Ursachen zu verstehen.

Neukölln: Teure Einsätze, Stigmatisierung der Betroffenen

Zusammenfassend kann man sagen, dass es beim Einsatz in den Shisha-Bars der Sonnenallee keine Razzien gegen die organisierte Kriminalität gab. Vielmehr wurden martialisch Routinekontrollen durchgeführt, die völlig unverhältnismäßig zum Einsatz und ihrer Kosten stehen. Unüblich dabei war, dass diese Kontrollen durch ein völlig überzogenes Polizeiaufgebot begleitet wurden, dass hochrangige Politiker dabei waren und die umfangreiche Berichterstattung über den Vorgang, die unserer Meinung nach keineswegs aufklärerisch, sondern reißerisch war, was dazu führt, Vorurteile gegen die Bewohnerinnen und Bewohner und Geschäftsleute der Sonnenallee zu fördern und Schlagzeilen für rechte Hetzer zu liefern.

Der Beitrag erschien zuerst im Magazin Marx21

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