Die Vielfalt der palästinensischen Gesellschaft

Die palästinensische Gesellschaft wird in den deutschen Medien gerne als homogene Masse von Menschen muslimischen Glaubens gezeichnet. Seit dem 07. Oktober 2023 auch oftmals als einheitlich hinter der Hamas stehend. Dabei wird diese oftmals plumpe, aber ebenso falsche Darstellung der palästinensischen Gesellschaft nicht gerecht.
Kaum ein Volk ist so vielfältig wie das palästinensische, und genau das macht auch die palästinensische Kultur so reich.

Wer gehört zur palästinensischen Gesellschaft?

Wenn wir von der palästinensischen Gesellschaft sprechen, dann sind damit nicht die Millionen Palästinenser in der Diaspora weltweit gemeint oder die ungefähr 1,8 Millionen Palästinenser, die in Israel ca. 20% der Staatsbürger ausmachen, sondern wir sprechen von den 5,3 Millionen Palästinensern im Westjordanland, im Gazastreifen und in Ost-Jerusalem.

Diese 5,3 Millionen Palästinenser bilden die palästinensische Gesellschaft, darunter befinden sich ethnische Minderheiten und viele verschiedene Religionsgruppen aus allen drei abrahamitischen Religionen.

Ethnisch betrachtet stellen Araber die Mehrheit der Bevölkerung, sind aber in ihrer Religionszugehörigkeit sehr unterschiedlich.

Weiterhin leben 4500 Armenier in Palästina, die vor allem in Ost-Jerusalem einen prägenden Part in der palästinensischen Gesellschaft haben. Vor 1948 lebten sogar über 15000 Armenier in Palästina. Viele verließen auf Grund der politischen Situation das Land. Die ersten Aufzeichnungen über die armenische Bevölkerung in Palästina gehen auf das 4. Jahrhundert nach Christus zurück. Durch das osmanische Reich und den Genozid an den Armeniern durch die Türken fanden viele Armenier im Heiligen Land Zuflucht. Sie gehören der armenisch apostolischen Kirche mit einem Patriachat in Jerusalem an. Ein bekanntes Gesicht der armenischen-palästinensischen Community ist z.B. die Menschrechtsaktivistin Lina Abu Akleh.

Lina Abu Akle, palästinensisch-armenische Menschenrechtsaktivistin
Lina ist die Nichte der vom israelischen Militär erschossenen Journalistin Shireen Abu Akleh. Ihr Vater ist palästinensischer Christ, ihre Mutter gehört der armenischen Minderheit an. 2022 wählte BBC sie in die Liste BBC’s 100 Women, und auch das Times Magazin wählte sie in die Liste Time100 Next.

Auch 5000 Assyrer (oder Aramäer) leben heute noch in Palästina und machen damit einen Teil der Gesellschaft aus. Die meisten von ihnen leben in Ost-Jerusalem und Bethlehem. Die Assyrer fanden in Palästina Zuflucht nach dem Genozid an den Assyrern 1915 in Tur Abdin, einer Region im heutigen Süden der Türkei. Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 und der immer aggressiveren Vertreibung der Palästinenser durch radikale israelische Siedler in Ost-Jerusalem verließen 65% der damals in Palästina lebenden Assyrer das Land. Die meisten Assyrer gehören der syrisch-orthodoxen Kirche an, eine kleine Minderheit ist katholisch-assyrisch, was sich in syrisch-katholisch und chaldäisch-katholisch unterteilt.

Neben einer kleinen Minderheit von Roma und Sinti, Afro-Palästinensern, Tscherkessen, einer kleinen Gemeinde Kurden in Hebron und einer russischen Diaspora-Gemeinde leben etwa eine halbe Million Menschen mit türkischen Wurzeln in Palästina. Ihre Präsenz geht auf die Zeit der Kreuzzüge zurück, als sie Saladin im Kampf um Jerusalem unterstützten. Ebenso während der mamlukischen Herrschaft und nicht zuletzt während des osmanischen Reichs migrierten viele Türken nach Palästina.

All diese verschiedenen Ethnien sind ein fester und wichtiger Bestandteil der heutigen palästinensischen Gesellschaft. Aber nicht nur Ethnien machen die Vielfalt aus, sondern auch die große religiöse Bandbreite, die wir oben kurz angeschnitten haben, macht das Leben in Palästina so vielfältig.

Welchen Religionen gehören die Palästinenser an?

Die Mehrheit der palästinensischen Gesellschaft gehört dem Islam an, etwa 93%, wobei man unterscheiden muss zwischen dem Gazastreifen, wo etwa 99% der Bewohner dem Islam angehören, und dem Westjordanland, das um einiges gemischter ist. Die Muslime in Palästina sind mehrheitlich Sunniten. Es gibt eine sehr kleine Minderheit von Schiiten unter den Muslimen, die weniger als 1% ausmacht. Eine noch kleinere Anzahl stellen die Drusen, die von manchen islamischen Lehrschulen zum Islam gezählt werden, von anderen als Sekte bezeichnet werden. Die Drusen gehören ethnisch zu den Arabern.

Die größte Religionsgemeinschaft neben den Muslimen sind die Christen. Etwa 6% der Palästinenser sind Christen, wobei nicht ganz klar ist, ob dabei die palästinensischen Christen in Israel mitgezählt werden oder nicht. Vor 1948 machten die Christen über 10% der Bevölkerung aus. Viele flüchteten in die Diaspora, da es für Christen einfacher war, Visa für Europa oder Lateinamerika zu erhalten. Besonders in Chile leben heute viele Palästinenser, meist Christen, in der Diaspora, etwa eine halbe Million. Nirgends außerhalb der arabischen Welt leben mehr Palästinenser. Sie haben sogar einen eigenen Fußballverein in Chile.

Heute sieht man große Unterschiede in der Ansiedlung der Christen in Palästina. Während im Gazastreifen nur rund 3000 Christen leben, sind z.B. in Bethlehem 40% der Palästinenser Christen. Fast alle christlichen Kirchen sind dabei in Palästina vertreten, am stärksten aber findet man die orientalisch-orthodoxe Kirche, wozu syrisch-orthodox und koptisch-orthodox zählt. Dann ist noch die griechisch-orthodoxe Kirche zu erwähnen, deren Klerus immer griechischer Abstammung ist, die Gemeindemitglieder aber arabisch sind. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts gehörten die meisten palästinensischen Christen dieser Konfession an. Die katholische Kirche ist mit fünf ost-katholischen Kirchen und der west-katholischen Kirche vertreten. Zu ersteren gehören die mit Rom unierten Kirchen, die armenisch-katholische, die syrisch- katholische und die koptisch-katholische Kirche sowie die Chaldäer. Ebenso zählen zu den ost-katholischen Kirchen die Melkiten. Darüber hinaus ist die evangelische Kirche durch die anglikanische Gemeinschaft und die evangelische lutherische Gemeinschaft vertreten. Als letztes sind die kleinen Gemeinden, die im Land vertreten sind, zu erwähnen, wie die assyrische Kirche des Ostens, sowie eine kleine Anzahl von Kopten, die äthiopische Kirche, die syrische Kirche, Quäker, Nazarener und eine Abspaltung der russisch- orthodoxen Kirche. Wie man sieht, die Vielfalt an christlichen Konfessionen ist sehr groß. Viele bedeutende Persönlichkeiten der palästinensischen Gesellschaft waren und sind Christen, wie z.B. George Habash, der einer der wichtigsten Führer des palästinensischen Widerstands war. Eine aktuelle und wichtige Stimme christlichen Glaubens in der palästinensischen Gesellschaft ist z.B. der evangelisch lutherische Pastor Dr. Munther Isaac.

Pastor Dr. Munther Isaac
Pastor Dr. Munther Isaac ist Pastor der evangelisch lutherischen Geburtskirche in Bethlehem und der lutherischen Kirche in Beit Sahour. Ebenso ist er Leiter des Bethlehem Bible College. Er studierte zunächst an der Birzeit Universität in Palästina, später dann in Philadelphia, USA, und in Oxford, England, wo er seinen PhD erlangte. Pastor Munther Isaac gilt als eine wichtige Stimme, um auf das Leid der Palästinenser hinzuweisen und in einen theologischen Zusammenhang zu bringen. Seine Predigten und Veröffentlichungen sind mitunter sehr politisch und werden in vielen Ländern dieser Welt mit Interesse verfolgt. Er gibt nicht nur den Christen in Palästina eine öffentliche Stimme, er spricht für das ganze Volk.

Vor allem die anglikanische und die evangelisch lutherische Gemeinschaft unterhalten einige Schulen in Palästina. Sie gehören zu den besten Schulen und sind sehr beliebt bei allen Palästinensern. Bildung spielt in der palästinensischen Gesellschaft eine immens große Rolle. Die akademische Ausbildung ihrer Kinder ist von zentraler Wichtigkeit in palästinensischen Familien und dabei geschlechterunspezifisch.

Muna El-Kurd, Journalistin und Aktivistin
Muna El-Kurd, 26 Jahre alt, stammt aus Sheikh Jarrah, Ost-Jerusalem. Sie und ihr Zwillingsbruder Mohammed El-Kurd gehören zu den wichtigsten Aktivisten und Journalisten der heutigen palästinensischen Gesellschaft. Times hat beide im Jahr 2021 zu den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten in Time100 gewählt. Muna El-Kurd studierte Journalismus an der Birzeit Universität in Ramallah.

Die Alphabetisierungsrate ist laut UN bei 97,5%, das ist weit über dem weltweiten Durchschnitt und entspricht etwa der europäischen Rate. Vor dem 07. Oktober 2023 gab es in Palästina 14 Universitäten, 18 Fachhochschulen, 20 Gemeinde Colleges und 3000 Schulen. Die Al-Quds Universität gilt als eine der besten der arabischen Welt und die Birzeit Universität wurde sogar 2019 zu den besten 2,7% aller Universitäten weltweit gewählt. Die Universität Bethlehem hat einen kirchlichen Träger, in diesem Fall die katholische Kirche. Die Präsenz der kirchlichen Träger im palästinensischen Bildungswesen zeigt wie wichtig und wie präsent die christliche Gemeinschaft für die palästinensische Gesellschaft ist.

Universität Bethlehem
Die Universität Bethlehem, die älteste Universität im Westjordanland, wurde 1973 auf Bestreben des Papstes Paul VI. eröffnet. Die Leitung vertraute der Vatikan den De La Salle Christlichen Schulbrüdern an, einem katholischen Männerorden. Obwohl die Universität katholisch ist, sind rund 75% der etwa 3400 Studierenden Muslime und 77,2% Frauen.

Eine weitere und nicht zu vergessende Religionsgemeinschaft sind die Samaritaner. Mit einer Zahl von heute nur noch 350 Mitgliedern sind sie zwar eine sehr kleine Religionsgemeinschaft, aber eine von immenser Bedeutung. Die Samaritaner, oder auch die Juden Palästinas genannt, sind eine altjüdische Glaubensgemeinschaft, die auf dem Berg Gerizim über Nablus leben. Auch sie sind ein Teil der palästinensischen Gesellschaft und leben unter der israelischen Besatzung.

Viele kleine Mosaiksteine, ein großes Bild

All diese verschiedenen Elemente von Volksgruppen, Religionen und Glaubensrichtungen geben dem Land, der Architektur, dem Leben und damit auch der palästinensischen Gesellschaft ihr Gesicht. Wie ein Mosaik trägt alles dazu bei, ein Großes und Ganzes zu sein, die Palästinenser von heute. Die Gotteshäuser, historischen Gebäude und steinernen Zeitzeugnisse, die Millionen von Touristen Jahr für Jahr besichtigen, sind ein in Stein gewordener Spiegel der Vielfalt eines ganzen Volkes. Die Menschen fühlen sich als ein Volk, das nicht zuletzt durch die völkerrechtswidrige Besatzung zusammengeschweißt wird. Aber auch alte historische Aufzeichnungen überliefern kein anderes Bild, Palästina war immer ein Ort, in dem Vielfalt herrschte. Eben diese Vielfalt macht bis heute die palästinensische Gesellschaft aus. Man feiert Ramadan zusammen, man feiert Weihnachten zusammen, Nachbarschaft, Freundschaften, Arbeit, Alltag etc., es spielt keine Rolle, welcher Minderheit, welcher Religion man angehört, die Palästinenser sind ein Volk. Ein Besuch z.B. In Bethlehem lässt das Ganze verbildlichen. Eine Stadt, in der am Hauptplatz, dem Manger Square, an einem Ende die Geburtskirche von Jesus steht, mit einem großen Christbaum zur Weihnachtszeit, und am anderen Ende des Platzes eine große Moschee. Dazwischen spielt sich das Leben ab, gemeinsam. Auch die wichtigen Personen der Geschichte und der Gesellschaft heute kommen aus allen möglichen Gruppen der palästinensischen Gesellschaft. Wie auch zwei der größten Literaten und Stimmen der Palästinenser, die beide ein wichtiger Teil des Freiheitskampfes der Palästinenser bis heute sind: Edward W. Said und Mahmoud Darwish. Ein Christ und ein Muslim, zwei Palästinenser, zwei Ikonen der palästinensischen Kultur, zwei Freiheitskämpfer ihres Volkes, zwei große Literaten der arabischen Welt.

Edward W. Said
wurde 1935 in Jerusalem in eine christlich palästinensische Familie geboren. Er studierte in Princeton und promovierte in Harvard. Von 1963 bis 2003 war er Professor für Literatur an der Columbia University. Said war Mitglied des Palestinian National Councils, der eine Zwei-Staaten-Lösung und ein Recht auf Rückkehr der palästinensischen Vertriebenen nach 1948 forderte. Ebenso ist er Mitbegründer des West-Eastern Divan Orchestra, das er zusammen mit dem argentinisch-israelischen Dirigenten Daniel Barenboim 1999 gründete. Er gilt als Mitbegründer der Postkolonialen Studien. Sein bekanntestes Werk ist „Orientalismus“, das heute in der Wissenschaft als ein Gründungsdokument für die Postkolonialen Studien gilt. 2003 verstarb Said in New York.
Mahmoud Darwisch
wurde 1941 in Akko, heute Israel, in eine muslimisch palästinensische Familie geboren. Er gilt gemeinhin als die „poetische Stimme der Palästinenser“. Bei der Nakba 1948 floh seine Familie in den Libanon, kehrte dann 1949 heimlich in das heutige Israel zurück. Nach der Schule ging Darwisch nach Haifa und arbeitete als Kulturredakteur der kommunistischen Zeitung Al-Ittihad. Hier verfasste und veröffentlichte er viele seiner berühmtesten Werke, wie z.B. das Gedicht „Identitätskarte“, bis heute eines der wichtigsten Werke der palästinensischen Literatur. Nach mehreren Verhaftungen und Repressionen durch Israel verließ er 1970 das Land und lebte in Kairo, Beirut, auf Zypern, in Tunis und in Paris im Exil, bis er 1996 nach Amman und Ramallah zurückkehrte. In Beirut war er Direktor des Palestine Research Center der PLO. Später auch Mitglied des Palästinensischen Nationalrats und Mitverfasser der Proklamation des Palästinensischen Staates im Jahr 1988. 2008 verstarb er in Houston, USA. Er gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Dichter der arabischen Welt. Seine Werke wurden in 30 Sprachen übersetzt. Er galt als Kritiker der israelischen Politik und der palästinensischen Führung, kämpfte Zeit seines Lebens gegen die Unterdrückung der Palästinenser, aber auch für eine mögliche Koexistenz von Palästinensern und Israelis.

Ein Beitrag von Jumanah Tubaileh, Nah-Ost-Wissenschaftlerin und Religionswissenschaftlerin

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2 Responses

  1. Sehr interessanter Artikel um jeden auch eine verständliche Erklärung über das palästinensische Volk, der Vielfalt und auch deren Religionsvielfalt zu übermitteln.

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