Baltimore, USA

Der Aufstand von Baltimore

Spätestens seit dem Wochen und Monate andauernden Widerstand der afroamerikanischen Bevölkerung auf den Straßen von Ferguson, Missouri lautete die Frage nicht mehr, ob sich der Widerstand ausbreiten würde, sondern nur noch wann und wo er sich zeigen würde. Ferguson lenkte die Aufmerksamkeit auf das epidemische Ausmaß rassistischer Polizeigewalt, die straffrei ausgeübt wird und Bevölkerungsgruppen im ganzen Land betrifft. Die Reaktion der Behörden allerdings, deren Aufgabe es wäre, für die Sicherheit der Menschen zu sorgen – insbesondere vor den Frauen Männern, die vorgeblich „dienen und schützen“ – waren im besten Fall leere Worte.

Im schlimmsten Fall bestand die Reaktion der politischen und medialen Elite darin, genau die Menschen zu Sündenböcken zu machen und zu verdammen, die unter genannter Gewalt und Missbrauch am meisten zu leiden haben. Im Kongress wurde bereits über die absurde Militarisierung von Polizeieinheiten diskutiert, die mittlerweile modernste Militärausrüstung aus dem massiven Arsenal des Pentagon zum Einsatz bringen dürfen – es wurden jedoch keinerlei Schritte zum Abzug der Panzer unternommen. Das Justice Department von Barack Obama gab einen scharf formulierten Bericht heraus, der das Ferguson Police Department für seine Voreingenommenheit rügte – für eine Anklageerhebung gegen den Polizisten, der Mike Brown getötet hatte, reichte es dann allerdings doch nicht. Somit blieb das Eingreifen der Staatsbeamten auf Polizeieinsätze beschränkt – und was daraus resultierte, ist heute bekannt. Zwischen dem Jahresbeginn 2015 und dem 28. April haben Polizeibeamte 381 Menschen getötet – eine erschreckende Quote von mindestens einer Tötung alle acht Stunden. Es war abzusehen, dass eine dieser Tötungen den Funken für die nächste gesellschaftliche Detonation liefern würde – die von den Medien natürlich einmal mehr als sinnlose „Krawalle“ dargestellt wurde. Erste Anzeichen gab es in Madison, Wisconsin, wo Antirassisten innerhalb weniger Stunden auf die im März erfolgte Tötung des unbewaffneten 19-jährigen Tony Robinson in der Wohnung eines Freundes reagierten – gefolgt von mehrere Tage andauernden Demonstrationen, mehrfach angeführt von Schülern nach einem gemeinsamen Verlassen des Unterrichts. Es brodelte weiter in der Gesellschaft, als einen Monat darauf die gesamte Nation dabei zusehen konnte, wie ein Polizist in South Carolina acht Schüsse in den Rücken des flüchtenden Walter Scott abfeuerte.

In Baltimore kochte die Lage schließlich über, nachdem Polizisten Freddie Gray für etwas zur Strecke brachten, was sich nur als moderne Version eines Verstoßes gegen den „Black Code“ bezeichnen lässt: er hatte einem Polizisten in die Augen gesehen und war daraufhin weggerannt. Gray wurde, wie ein Augenzeuge drastisch beschrieb, „zusammengefaltet wie Origami“, und als seine Fahrt im Polizeiauto endete, war sein Rückenmark beinahe vollständig durchtrennt und sein Kehlkopf gequetscht.

Tausende  Menschen, die meisten von ihnen Schwarze, gingen in der Woche nach Grays Tod auf die Straße. Die Provokationen der Polizei von Baltimore waren es allerdings, die Demonstranten zu körperlichen Auseinandersetzungen nötigten, in deren Verlauf laut Berichten 15 Polizisten verletzt wurden. (Dazu, wie viele Menschen „laut Berichten“ von Polizisten verletzt wurden, können wir leider keine Angaben machen, da es niemand gibt, der dazu „Bericht“ erstatten würde.) Die ersten größeren Zusammenstöße gab es an der Mondawmin Mall, dem Treffpunkt eines Protestaufrufs über Social Media, der sich an Schüler richtete. Die Polizei rückte in voller „RoboCop“-Kampfmontur an, riegelte die Nahverkehrshaltestelle ab, sodass die Schüler nicht nach Hause fahren konnten, und ging dann mit Pfefferspray und Elektroschockern auf die Jugendlichen los. Kein Wunder also, dass Steine flogen. Und jetzt diskutieren nationale Medien hitzig über die „Gewalt“ in Baltimore. Keine Rede war davon in den vergangenen fünf Jahren, in denen die Polizei nach Angaben der ACLU 109 Menschen getötet hatte.

Allein in den letzten vier Jahren hatte das Baltimore Police Department 5,7 Millionen Dollar Vergleichszahlungen in Folge von Brutalitäts- und Bürgerrechtsfällen zu leisten. Unter den Opfern sind ein 15-jähriger Junge, der auf einem Dirt Bike unterwegs war, eine 26-jährige schwangere Buchhalterin, die einen tätlichen Angriff beobachtet hatte, eine 50-jährige Frau, die Lotterietickets verkauft hatte, ein 65-jähriger Kirchendiakon, der eine Zigarette gerollt hatte, sowie eine 87-jährige Großmutter, die ihrem verletzten Enkelsohn zur Hilfe gekommen war. In diesem Zusammenhang kann man die überhitzten Darstellungen von Steinwürfen als „Ausbruch der Gewalt“ in Baltimore in den Medien nur als schamlos bezeichnen. Ta-Nehisi Coates, Berichterstatter des Atlantic, äußerte sich folgendermaßen dazu:

Wenn Gewaltfreiheit gepredigt wird, um sich den Konsequenzen von Polizeigewalt entziehen, dann verrät sie sich selbst. Wenn Gewaltfreiheit mitten in einem Krieg damit beginnt, dass der Angreifer eine Auszeit nimmt, dann entlarvt sie sich als Kriegslist. Wenn Gewaltfreiheit von Staatsvertretern gepredigt wird, während ihr Staat seine Bürger mit Gewalt überhäuft, dann offenbart sie sich als Betrug.  

Dennoch tat sich ausgerechnet Barack Obama, der erste afroamerikanische Präsident eines Landes, das auf einem Fundament der Sklaverei errichtet wurde, als oberster Betrüger hervor, indem er die Demonstranten als „Kriminelle und Schläger“ bezeichnete. „Diese Menschen setzen kein Zeichen. Sie stehlen“, tadelte er. „Ein brennendes Gebäude wird im Fernsehen als Dauerschleife zu sehen sein, und tausende Demonstranten, die alles richtig gemacht haben, wird man in der Diskussion übersehen.“ Die Tatsache, dass Obama in den scheinheiligen Chor all der aburteilenden Stimmen gegen die Demonstranten in Baltimore einfiel, war ein weiterer Schlag ins Gesicht für einen Bevölkerungsteil, der mit „Gewalt überhäuft“ wird. Die Worte des Präsidenten übergehen die Wut tausender Menschen, die bei ihren Demonstrationen „alles richtig machen“ – und doch weiter dabei zusehen müssen, wie Polizisten tagtäglich Gewalt in schwarzen Gemeinschaften ausüben, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Der Ausbruch in Baltimore ist keine Wiederholung des Widerstands in Ferguson. Er ist als Ausweitung der Kämpfe anzusehen, die sich auf neuem Terrain weiterentwickeln. Baltimore gleicht Ferguson insofern, als beide Städte mehrheitlich schwarze Einwohner haben, die vonseiten der Polizei Schikanen und Gewalt ausgesetzt sind und mit zunehmender Ungleichheit leben müssen. Der Großraum Baltimore steht in Sachen Wirtschaftsleistung an 19. Stelle in den USA, laut einer Studie der Johns Hopkins leben Jugendliche in ärmeren Wohngegenden jedoch unter ähnlichen Bedingungen wie Gleichaltrige in Nigeria und Indien. Dan Diamond schrieb dazu für Forbes:

Schwarze Kleinkinder in Baltimore haben ein beinahe neunmal größeres Risiko, ihren ersten Geburtstag nicht zu erleben, als weiße Kleinkinder. AIDS-Erkrankungen sind in der afroamerikanischen Bevölkerung beinahe fünfmal so verbreitet… „Nur sechs Meilen liegen zwischen den Wohngegenden Roland Park und Hollins Market“, so der stellvertretende Hopkins-Provost, Jonathan Bagger, im vergangenen Jahr. „Es herrscht allerdings eine Diskrepanz von 20 Jahren in der durchschnittlichen Lebenserwartung.“

Soweit gleicht Baltimore Ferguson. Im Gegensatz zu Ferguson allerdings ist es ein großer Ballungsraum im Herzen des Northeast Corridor, nur eine Autostunde entfernt von der Landeshauptstadt. Es wird von einem schwarzen politischen Apparat regiert und ist, wie es ein Mitarbeiter von SocialistWorker.org per Social Media formulierte, „völlig integriert in eine Post-Civil Rights-Landschaft – eine Landschaft, zu der Rassentrennung heftigsten Ausmaßes ebenso gehört wie eine Ballung von Armut und schockierender Gewalt direkt neben neu gewachsenem schwarzen Bürgertum und politischer Klasse.“ Obendrein ist Baltimore, dank Serien wie The Wire, nur geringfügig weniger berüchtigt als Detroit wenn es um Städte geht, deren schwarze Arbeiterklasse von der Deindustrialisierung dezimiert wurde. Shawn Gude, Mitherausgeber von Jacobin, beschrieb die Lage in West Baltimore nach Ausschreitungen wie folgt: „Am auffälligsten war hier nicht die Zerstörung durch die Protestierenden– das demolierte Polizeiauto, der kaputtgeschlagene Kreditladen – sondern die Zerstörung durch das Kapital: die maroden, zugenagelten Reihenhäuser, die Hütten und die Leerstände, die in der ganzen Stadt zu finden sind.“ Diese Zustände, welche die Kulisse für die Tötung von Freddie Gray bilden, werden vielen Aktivisten der Black Lives Matter-Bewegung abverlangen, sich – wie Martin Luther King und Malcolm X es in der Vergangenheit getan haben – mit den Überschneidungen von Rassismus und Kapitalismus auseinanderzusetzen.

King fand bereits in einer Rede nicht ganz einen Monat vor seiner Ermordung im Jahr 1968 folgende Worte – Worte die in den letzten Tagen über Social Media stetig wiederholt werden:

Ich muss heute Abend festhalten, dass Krawalle die Sprache derjenigen sind, die überhört werden. Was genau hat Amerika überhört? Es hat überhört, dass die Misere der armen [schwarzen] Bevölkerung sich in den letzten 12 oder 15 Jahren verschlimmert hat. Es hat überhört, dass alle Versprechungen von Freiheit und Gerechtigkeit nicht erfüllt wurden. Und es hat überhört, dass große Teile der weißen Gesellschaft sich mehr Sorgen um die öffentliche Ruhe und den Status quo machen, als um Gerechtigkeit und Menschlichkeit.

Bekämpfer von Ungerechtigkeit sehen sich heute der Aufgabe gegenüber, auf der verbitterten Wut und dem Streben nach einem Kampf um Veränderung aufzubauen, die sich durch die Ausbrüche in Ferguson, Baltimore und darüber hinaus offenbart haben. Wir müssen die Heuchelei und die Lügen über die Ereignisse der vergangenen Tage in Baltimore konfrontieren und uns im Sinne von Gerechtigkeit im Hier und Jetzt organisieren – angefangen mit einer Anklage der Polizisten*, die Freddie Gray getötet haben, ebenso als hätten sie einen Schuss abgegeben – und für eine andere Welt eintreten, die es wert ist, für sie zu kämpfen; eine Welt auf einem Fundament aus Solidarität, Demokratie und Gerechtigkeit.

*Anm. d. Red.: Zum Zeitpunkt der Übersetzung waren durch die US-Staatsanwaltschaft bereits ein Beamter des Mordes mit bedingtem Vorsatz, die anderen des Totschlags und der Körperverletzung beschuldigt worden (Quelle: http://www.tagesschau.de/ausland/baltimore-143.html).

Erschienen am 29. April 2015 auf http://socialistworker.org und übersetzt von Marion Bezbozhnaja.

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2 Antworten

  1. Hier die Fotos der beschuldigten Polizisten:
    https://heavyeditorial.files.wordpress.com/2015/05/cd9xboaw0aaj-vo.jpg?quality=65&strip=all&w=780
    Fällt euch was auf?

    Aus dem Vorfall eine Rassisten-Kiste zu machen, ist ziemlich blöd, wenn der Hauptangeklagte dieselbe Hautfarbe hat wie das Opfer.
    Aber da ihr ja hier gern schwarz-weiß seht, spiele ich mal mit und werfe ein, dass die unsichersten Städte der USA einen erheblichen Anteil an Schwarzen haben – in den sichersten Stadten hingegen ist diese Bevölkerungsgruppe sehr wenig vertreten.

    Wenn solche Tatsachen in einem Artikel verschwiegen werden, ist eine Gesamtbetrachtung der Umstände sehr schwer. Ich wage zu behaupten, das wird hier absichtlich verschwiegen, um zu desinformieren.

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