© Marie Kahle. Bearbeitung Jakob Reimann, Die Freiheitsliebe.

Die Wirtschaft auf den Kopf stellen – Die Gemeinwohlökonomie macht’s möglich

Die Ökonomie ist menschengemacht und sollte folglich von Menschen verändert und angepasst werden. Seit tausenden Jahren entwickelt sie sich mit jedem Tag weiter. Einen Status quo gibt es nicht. Ein Blick in die tagesaktuellen Nachrichten – der jüngste UN-Bericht etwa, der den Fleischkonsum als größten Umweltzerstörer ausmacht; oder der OXFAM-Bericht von 2020, der besagt, dass über die Hälfte der Menschheit in Armut lebt – zeigt eindeutig, dass mit dem derzeitigen Wirtschaften zu viel Schaden an uns Menschen und an der gesamten Natur dieser Erde angerichtet wird. Es besteht unabdinglich ein Handlungsbedarf.

In Hinblick auf das eigene Handeln, das Arbeiten oder Konsumieren fällt es schwer, eine nachhaltige Logik und Fairness in Gänze zu erkennen. Oft hängt an einem regelmäßig erarbeiteten Verdienst bis hin zum spontanen Kauf von Eis bei einem Spaziergang am Fluss ein langer Rattenschwanz von wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Wie ein Nebel zieht sich die toxische Wirtschaftsordnung durch die uns präsente und auch uns teilweise nicht präsente Mitwelt. Soziale Ungerechtigkeiten hier, Umweltsünden da, Ausbeutung dort … Die kapitalistische Welt gerät zusehends an ihre Grenzen.

Doch gemeckert ist schnell. Es braucht eine praxisnahe Lösung. Was können wir tun? In welche Richtung wollen wir gehen? Wie wollen wir zukünftig wirtschaften und leben?

Einen konkreten Lösungsvorschlag bietet das Konzept der Gemeinwohlökonomie (kurz GWÖ). Die Gemeinwohlökonomie verbreitet und lebt die Idee eines zukunftsfähigen Wirtschafts- und Wertesystems. Sie basiert auf der direkten, respektvollen Beziehung zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt. Aus der österreichischen NGO attac heraus gründete sich die Bewegung 2010 mit der Überzeugung, dass eine weltweit stabile Wirtschaft nur dann für alle funktionieren kann, wenn auch die wirtschaftende Gesellschaft intakt ist. Diese Gesellschaft kann wiederum auf Dauer nur in einer vitalen Umwelt gesund leben. Vorstellen kann man sich diese ständige Wechselwirkung wie eine Matroschka. Die Wirtschaft bettet sich in unsere Gesellschaft und diese integriert sich in unsere natürliche Umwelt. Diese drei Bereiche sind miteinander fest verschmolzen und existieren in direkter, ausbalancierter Abhängigkeit zueinander. Unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem mit seiner Maxime des exponentiellen Wachstums und dem Prinzip der Konkurrenz bringt diese Balance massiv durcheinander und richtet mehr Schaden als Nutzen an. Ebenso ist ein unendliches Wachstum auf unserem Planeten weder zukunftsfähig noch nachhaltig.

Um mit diesem Bewusstsein das Denken und Handeln in der laufenden Wirtschaft neu ausrichten zu können, braucht es in erster Linie ein neu definiertes Ziel: Das Gemeinwohl.

Das Wohlergehen eines jeden Individuums innerhalb einer Gemeinschaft wird als oberstes Gut angesehen und das Geld dient als neutrales (Zahlungs-)Mittel zum Zweck. Die momentanen Ziele Gewinn und Profite sind der GWÖ-Vision nicht länger dienlich und dürfen schrittweise minimiert, wenn nicht sogar abgeschafft werden.

Der heute noch weitverbreitete Maßstab eines „gut wirtschaftenden“ Unternehmens von Jahreserlös, Umsatz, Gewinn ist nicht ausreichend, um eine umfassende Einschätzung der Institution zu bekommen. Schwarze oder rote Zahlen, die in einer Finanzübersicht niedergeschrieben werden, sind nicht greifbar und geben keinerlei Aussage über die wichtigen nichtgeldlichen Faktoren wie Glück, Lebensqualität, Fairness, Gesundheit, Mitbestimmung oder ökologische Aspekte.

Seit der Gründung der GWÖ entwickelt das Matrix-Expertenteam, welches rein ehrenamtlich arbeitet, ein komplexes Modell, mit dem es Unternehmen, Organisationen und Verbänden ermöglicht wird, eine eigene Messung des unternehmerischen Erfolges nach Werten und Kriterien der Gemeinwohlökonomie zu erstellen. Um sich neu positionieren zu können, hilft eine grundlegende Nabelschau des Ist-Zustandes. Mit der Matrix 5.0 (von 2017) wird ein Unternehmen in den fünf Berührungsgruppen: Lieferant*innen, Eigentümer*innen und Finanzpartner*innen, Mitarbeitende, Kund*innen und Mitunternehmen ganz genau beleuchtet; das gesellschaftliche Umfeld in jeweils vier Bereichen: Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Transparenz und Mitbestimmung. Je nach Kategorie werden im Schnitt bis zu 50 Punkte vergeben. Mithilfe von Arbeitsbüchern, der Matrix und Unterstützung von GWÖ-Berater*innen kann die ethische Bilanz erstellt werden. Die erreichte Endpunktzahl liegt zwischen –3.600 und 1.000 Punkten und dient dem Unternehmen, sich selbst und im direkten Vergleich mit anderen Organisationen einzuordnen. Es ist eine umfangreiche, intensive Arbeit, die sich am Ende für mehrere Menschengruppen rentiert. Eine Bilanz und damit die Transparenz am öffentlichen Markt sowie in der Gesellschaft und im internen Bereich der Organisation ist dafür ausschlaggebend. Bislang haben sich auf der Welt über 300 Unternehmen nach den zwanzig GWÖ-Kriterien prüfen lassen.

GWÖ-Matrix 5.0, Quelle: Gemeinwohlökonomie

Damit die Gemeinwohlbilanz nicht nur eine Theorie bleibt, sondern für eine Vielzahl von Unternehmen und Nichtunternehmens-Organisationen interessant wird, arbeitet die GWÖ bereits heute schon ambitioniert mit der gegenwärtigen Politik zusammen. Ziel ist es, wirtschaftliche Anreize zu schaffen, wie etwa den bilanzierten Unternehmen Steuererleichterungen zu gewähren oder deren Produkte im öffentlichen Einkauf zu bevorteilen. Ähnlich wie ein Gütesiegel auf einem Produkt oder hinter dem Namen einer Firma, oder sogar einer Stadt, könnte jeder Mensch anhand der Bilanz einen verständlichen und transparenten Eindruck bekommen und danach das weitere Handeln als aktive*r Wirtschaftsteilnehmer*in ausrichten. Mogelpackungen, trügerische Markennamen und Ausbeutungen im Job ade – oder zumindest entlarvt!

Den Sachverhalt an einem Beispiel erklärt: Ein beliebiges weltweites Rüstungsunternehmen mit großen Exportzahlen ist heute im globalen Wirtschaftskreislauf relevanter als eine Imkerei im Dorf nebenan. Allein das Unternehmen, das die „besseren“ Zahlen, also größtmögliche Umsätze, aufweist, wird derzeitig vom Staat mit wirtschaftlichen und rechtlichen Arrangements und Gesetzmäßigkeiten begünstigt. Die Absichten eines Unternehmens, wie in diesem Beispiel die Gefährdung des Friedens oder die Ernährung von Menschen, werden leider zurzeit überhaupt nicht in der Wirtschaftswelt spürbar berücksichtigt. Bezüglich der GWÖ-Aspekte einer Bilanzierung würde die Imkerei punktemäßig klar vorn liegen und hätte durch seine nichtfinanziellen Erfolge ebenso ein, wenn nicht gar ein viel größeres, Recht auf eine faire wirtschaftspolitische Unterstützung. Die Gewichtung der Entscheidungskriterien, wer wirtschaftlich wertvoll ist und wer nicht, würde sich durch die Integration der Gemeinwohlökonomie ausbalancieren und ein breiteres Spektrum an Auswahlmöglichkeiten bieten.

Christian Felber, Initiator und Gesicht der Bewegung, erschuf mit der Gemeinwohlidee eine Grundlage, die immer weiterentwickelt, optimiert und auch angepasst wird. Eng verbunden mit der Wirtschaft sieht er auch die Notwendigkeit einer neuausgerichteten Entwicklung der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Diese sind zurzeit zu stark von ökonomischen Prozessen beeinflusst. Das Prinzip einer souveränen Demokratie würde der Bevölkerung die notwendige Entscheidungsmöglichkeit bieten, die Gemeinwohlökonomie zum festen Bestandteil des eigenen Wirtschaftens zu machen. Weiterhin bemerkenswert ist, dass die GWÖ global gedacht ist und daher überall angewendet werden kann. Mit ihr können sich weitgreifende Problemfälle wie Kriege, Notstände, Ungerechtigkeiten oder Armut rund um den Globus lösen lassen!

In Christian Felbers Büchern, in aufgezeichneten Vorträgen im Internet und derzeitigen Online-Seminaren erklärt er, wie eine neue Ausrichtung des gesellschaftlichen Bewusstseins erzielt werden kann, damit alle Lebewesen auf diesem Planeten ein gutes Leben haben können. Dabei betont er immer wieder, dass die GWÖ sich als partizipativer Prozess, quasi als Kompass, als Leitfaden, schlicht auch als den nächsten mutigen Schritt in eine bessere Zukunft versteht. Ganz nach dem Motto „Kooperation statt Konkurrenz“ lebt und arbeitet die GWÖ mit zahlreichen anderen Initiativen, die sich beispielsweise für Demokratie, Nachhaltigkeit, Solidarität und Gerechtigkeit einsetzen. Engstehende Projekte sind Mehr Demokratie und die GLS-Bank als Partnerbewegungen der GWÖ für eine breite Initiative vorzeigbar. Die Bewegung blüht durch ihre hauptsächlich ehrenamtlichen Mitglieder, die in Eigenverantwortung und mit weitläufigem Bewusstsein für eine lebenswerte Zukunft einstehen. Menschen auf der ganzen Welt haben sich zu insgesamt über 250 Regionalgruppen und Vereinen zusammengefunden und verbreiten, simultan zur Graswurzelbewegung, den Gedanken von Menschen zu Menschen.

Um konkret aktiv zu sein und in der Gemeinschaft mit gebündelten Kräften und nach diversen Ideen zu handeln, bietet die GWÖ auf ganz unterschiedlichen Ebenen Platz, einen ganz persönlichen Teil zum angestrebten Gemeinwohl einzubringen. Das Schöne daran ist, dass jede*r Einzelne durch das eigene Tun und Lassen wertgeschätzt wird.

Immer wieder genutztes Sinnbild für diese Gemeinschaft sind fliegende Löwenzahnsamen, die sich von einer Pusteblume loslösen. Die losfliegen, um irgendwo zu landen und zu wachsen. Die Gemeinwohlökonomie ermöglicht durch ihre Komplexität, durch ihren Optimismus und dem zielorientierten Handeln der Mitglieder eine wirkliche Chance, die Wirtschaft auf den Kopf zu stellen und damit das Leben auf der Erde für alle wertvoll zu gestalten.

Wie viel Gemeinwohlsinn steckt in dir? Mache einen Selbsttest und gib der Gemeinwohlökonomie Platz in deinem Leben.

Von Marie Kahle, Pressesprecherin der GWÖ-Ortsgruppe Dresden.

Weitere Infos hier: Die Gemeinwohlokönomie. Einen tiefen Einblick in das GWÖ-Konzept könnt ihr auch im sehr sehenswerten Interview von Christian Felber bei Tilo Jung erhalten:

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