Wohin steuert die EU?

Wenn in der Schulzeit im Politik-Unterricht irgendwann zwischen Klasse 7 und 10 die Europäische Union behandelt wird, fällt dort früher oder später das Wort „Demokratiedefizit“. Gemeint ist damit unter anderem die mangelnde Identifikation von Europäer*innen mit dem EU-Komplex. Jahr für Jahr kauen Schüler*innen in Deutschland Indikatoren dafür durch, wie beispielsweise die Wahlbeteiligung von 13% in der Slowakei bei der letzten EU-Wahl 2014. Jahr für Jahr müssen sie Aufbau, Funktion, Verknüpfung und wichtiges Personal der diversen Gremien auswendig lernen, nur um das ganze ein paar Monate später schon wieder vergessen zu haben. Der Erstkontakt junger Menschen mit der wichtigsten politischen Institution in Europa könnte trockener und weniger nachhaltig kaum sein. Da ist es nicht gerade förderlich, wenn die EU mit auf Lobbyismus gründenden Ideen wie Artikel 13 der jüngst beschlossenen Urheberrechtsreform, Änderungen am Internet auf die Startrampe bringt, die der digitalisierten und über Social-Media sozialisierten Jugend große Teile ihrer Identifikationsgrundlage und ihrer Kultur nehmen könnten. 

Doch der demokratiefördernde Umgang mit der europäischen Jugend ist nur eine verhältnismäßig kleine Baustelle in Brüssel. Viel schwerwiegender ist der politökonomische Strukturwandel, der sich im kometenhaften Aufstieg der politischen Rechten in beinah jedem EU-Staat äußert. Doch der Reihe nach. Gegründet als EGKS im Kalten Krieg 1951 war der Sinn des supranationalen Projektes stets der schrankenlose Markt. Ein solcher gilt als strukturelle Grundlage, wenn nicht sogar als Existenzbedingung für das vorherrschende marktwirtschaftliche Produktionsverhältnis. Entsprechend groß war und ist das Interesse der Industrien und Konzerne in den EU-Mitgliedsstaaten am Beitritt weiterer Länder, da sich der unbeschränkte Absatzmarkt in jedem Beitrittsfall ein Stück vergrößert. Politische Inhalte spielten in der EU immer die zweite Geige, absolute Priorität galt dem ökonomischen Wachstum. Formuliert man es mit den Worten des alten Marx, ist die EU ein Prachtexemplar eines „ideellen Gesamtkapitalisten“.  

Zu den Gesetzmäßigkeiten der Marktwirtschaft zählt jedoch auch, dass freier Handel denjenigen am meisten nützt, die die größte Konkurrenzfähigkeit vorweisen. Als 2013 der damalige ukrainische Präsident Janukowytsch die Verhandlungen zum Assoziierungsabkommen über den Freihandel zwischen seinem Staat und der EU auf Eis legte, platze der EU-Wirtschaft der Kragen. Janukowytsch wurde gestürzt, mit Poroschenko übernahm ein Milliardär und Oligarch das Amt des Staatsoberhaupts, dessen Konzerne sehr wohl über besagte Konkurrenzfähigkeit verfügen. Sein Vorgänger hatte das vorzeitige Ende der Verhandlungen damit begründet, dass sein Land wirtschaftlich noch nicht bereit für den Beitritt zum Freihandelsraum sei. 

Ein Blick in besagtes Assoziierungsabkommen lässt Janukowytschs Zweifel Berechtigung finden: Die EU forderte die Anpassung an ihre technische Standards und Normen, die Liberalisierung des Dienstleistungssektors sowie die Verabschiedung vom Staatseigentum, weiterhin eine Konsolidierung des Staatshaushaltes auf Kosten von Löhnen, Renten und den Subventionen auf die Energiepreise. Ende 2013 war der Präsident zwar zur Zustimmung gewillt, ließ jedoch verlauten, dass Schätzungen zufolge 100-500 Milliarden US-Dollar von Nöten wären, um die Produktion in der Ukraine an die EU-Norm anzupassen. Da man in Brüssel jedoch Investitionshilfen verneinte, sah sich Janukowytsch außer Stande, dem Abkommen zuzustimmen, da es katastrophale Folgen für die ukrainische Wirtschaft und die Lebensqualität der Menschen nach sich ziehen würde. Das befürchtete „Ausbluten“ der Ukraine sollte sich bewahrheiten: In den beiden Jahren nach der Unterzeichnung durch Poroschenko sank das BIP der Ukraine um dramatische 6,6 und 9,8%. Eine solche ökonomische Verwertung von Ländern für die Interessen konkurrenzfähiger, häufig westeuropäischer Konzerne ist jedoch kein Einzelfall und einer der Hauptgründe dafür, dass in vielen „kleineren“ EU-Staaten wie anfangs beschrieben, sehr geringe Wahlbeteiligungen herrschen, wenn es um die Plätze im dazugehörigen Verwaltungsapparat geht. 

An diesem Punkt setzt die immer stärker werdende politische Rechte der EU-Staaten inhaltlich an: Der enthemmte Markt wird richtigerweise als Ursache für die teilweise desolaten ökonomischen Zustände in den jeweiligen Ländern analysiert, da die dortigen Unternehmen von den größeren, am gleichen Markt partizipierenden, Konzernen schlicht niederkonkurriert werden. Zunehmende EU-Skepsis und eine aufkommende Abkehr von der ideologisierten „Europäischen Idee“ sind das Resultat, der „Brexit“ stellt den vorläufigen Höhepunkt dieses Prozesses dar. Das Vereinigte Königreich hat seit den 1980ern mit einem zunehmenden Handelsbilanzdefizit zu kämpfen, welches mittlerweile auf Rekordhöhe seit dem zweiten Weltkrieg liegt und laut den „Tories“ um Theresa May in der EU-Mitgliedschaft seinen Ursprung hat. Der immer wahrscheinlicher werdende „hard brexit“ hätte jedoch desaströse Folgen für die Wirtschaft in Großbritannien, schon jetzt werden Lebensmittelknappheit und das Zusammenbrechen der medizinischen Versorgung befürchtet, da der Großteil dieser Waren Importprodukte sind. Die Regierung überlegt derzeit die Inkraftsetzung des Kriegsrechts, um im Falle des ungeordneten Brexits zivile Proteste niederschlagen zu können. 

Am Beispiel der Brit*innen lässt sich eines erkennen: Der europäische Binnenmarkt ist für die an ihm teilnehmenden Staaten eine ambivalente Angelegenheit. Denn nimmt man an ihm teil, birgt die freie Konkurrenz beständig das Risiko der Niederlage, was etliche Staaten (Griechenland, Italien etc.) leidvoll erfahren mussten. Möchte man ihn deswegen jedoch verlassen, machen sich die verbliebenen Unternehmen, die wirtschaftliche Produktivität vorweisen können, zurück gen Binnenmarkt aus dem Staub. Weiterhin müssen die Konzerne, die ihre Standorte nicht verändern können, mit drastischen Investitionskürzungen auf die plötzlich durch Zollschranken anfallenden Kosten reagieren. Dementsprechend ließ der britische Verband CIPS verlauten, dass mindestens 41% der Unternehmen in Großbritannien mit der Streichung von Arbeitsplätzen reagieren werden müssen. 

Die EU hat sich selbst als eine Struktur eingerichtet, die getreu dem marktwirtschaftlichen Prinzip der Konkurrenz zwar Gewinner produziert, vornehmlich milliardenschwere Konzerne wie Volkswagen, Lidl und die Telekom in Deutschland, oder Glencore, Exor und BNP im restlichen Westeuropa. Auf der Liste der Verlierer tummeln sich jedoch, neben „populären Fällen“ wie der ehemaligen Bochumer Opel-Belegschaft, ganze Volkswirtschaften; ein Verhältnis, dass für die gesellschaftliche Stabilität in Europa ein Pulverfass darstellt. Teilweise ist dieses Pulverfass bereits hochgegangen, so ist zum Beispiel in Italien, einem ökonomisch gebeutelten Land mit horrender Jugendarbeitslosigkeit ist ein Rechtsradikaler Innenminister geworden. Es würde der tatsächlichen Komplexität des Rechtsrucks nicht gerecht, ihn ausschließlich aus dem Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit, welche im Zuge der Flüchtlingsbewegungen im Jahr 2015 in neuen Dimensionen aufkamen, heraus zu erklären. Vielmehr handelt es sich dabei um ein Agglomerat aus ökonomischen Ursachen, welche nun zeitlich aufeinander treffen. Im Übrigen ist auch die „Flüchtlingskrise“, welche die AfD in Deutschland überhaupt erst relevant werden ließ, Resultat ökonomischer Profitkalkulationen europäischer Konzerne in den Ländern der dritten Welt. 

Dass das marktwirtschaftliche Produktionsverhältnis in zeitlicher Regelmäßigkeit Rezessionen und Krisen hervorruft, ist hinlänglich bekannt. Auch das lernen Schüler*innen, zumeist am Beispiel des legendären Börsencrash in den USA, in der Schule. Doch die derzeitige Krise der EU birgt ein anderes Potential, eines, welches die bestehende Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung existenziell bedroht. Jedoch nicht in eine sozialdemokratische oder eine sozialistische Richtung, welche den EU-Bürger*innen die dringend benötigte Entlastung einräumen würde, sondern in eine autoritäre. Protektionismus, Isolationismus und Rechtspopulismus heißt die Agenda dieser Tage, nicht unberechtigt vergleichen viele Analysten die Situation in Deutschland 2019 mit der von 1928. Was damals daraus geworden ist sollte ein Mahnmal sein. Ein Mahnmal für eine multinationale Gesellschaft, in der sich das Zusammenleben nach den wirklichen Bedürfnissen und Wünschen der Menschen konstituiert und nicht nach dem Prinzip „Akkumulation um jeden Preis“. Ansonsten ist es vielleicht bald schon zu spät.

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