Was ist die Natur des Menschen?

Im ersten Teil der Reihe „Ist die Natur des Menschen ein Hindernis für den Sozialismus?“ ging es um die Argumente gegen den Sozialismus und die Veränderung des Wesens der Menschen. Der zweite Teil soll sich mit der Frage auseinandersetzen, was die Natur des Menschen ist.

Menschen verändern sich mit sich verändernden Umständen. Aber bedeutet das, daß es so etwas wie eine Natur des Menschen gar nicht gibt? Sozialisten neigten manchmal dazu, das zu behaupten – das war ein schneller Weg, mit dem anti-sozialistischen Argument umzugehen.
Man bekommt jedoch ernste Probleme, wenn man die Existenz einer Natur des Menschen ganz und gar leugnet.
Zuerst einmal kann das dazu führen, daß man Menschen als total manipulierbar betrachtet. Man könnte dann daraus schließen, daß ein totalitäres Regime, welches vollständig die Medien und das Aufziehen der Kinder kontrolliert, aus Menschen machen könnte, was es wollte und so jede Möglichkeit der Revolte vernichten würde. Aber es gibt genug Anhaltspunkte dafür, daß das nicht der Fall ist. Weder in Hitlers Deutschland noch in Stalins Rußland – die beiden totalitärsten Regimes, die je existiert haben – waren die Herrscher in der Lage, allen Widerstand und alle Gedanken zu unterdrücken. Sogar in den Konzentrationslagern haben die Menschen gekämpft.
Es gibt immer eine Grenze für die staatliche Gehirnwäsche, und diese Grenze ist unter anderem dann erreicht, wenn die Unterdrückung durch den Staat im Widerspruch zu den natürlichen Grundbedürfnissen von Menschen steht.
So zu tun, als gäbe es nicht so etwas wie eine Natur des Menschen, ließe zweitens darauf schließen, daß es keine gemeinsamen Charakter-Eigenschaften von Menschen gibt, die sie von anderen Wesen trennen. Das ist natürlich nicht der Fall. Wenn er es wäre, wäre es unmöglich überhaupt von der menschlichen Art oder von der Menschheitsgeschichte zu sprechen.

Was kann nun wirklich über die Natur des Menschen gesagt werden?

Wir müssen mit der Biologie anfangen. Es ist klar, daß Menschen eine gesonderte biologische Art sind, die einen völlig eigenen genetischen Code besitzt. Dieser genetische Code bestimmt die grundlegenden physischen Strukturen der Menschen.
Letzten Endes ist natürlich nicht mal diese biologische Natur festgelegt oder immerwährend. Aber die Zeitstufen in der Evolution vollziehen sich extrem langsam und innerhalb einer ganz anderen Ordnung als die in der historischen Entwicklung. Menschliche Wesen unterscheiden sich heute biologisch nicht grundlegend von denen vor 10.000 oder sogar 20.000 Jahren. Für den Zweck, uns mit der Frage zu beschäftigen, ob der Sozialismus möglich ist, kann die physische Natur der Menschen als gleichbleibend betrachtet werden.
Diese physische Natur stattet Menschen mit gewissen gemeinsamen Bedürfnissen und Fähigkeiten aus, die die Grundlage der menschlichen Natur bilden.
Die grundlegendsten und unbestreitbarsten dieser Bedürfnisse sind die nach Luft, Nahrung und Wasser, gefolgt von denen nach Kleidung, Schutz und Wärme. Es gibt das Bedürfnis nach Schlaf, nach irgendeiner Form von Eltern, da Menschen, im Gegensatz zu tierischen Spezies, mehrere Jahre benötigen, um auch nur ein Minimum an Selbständigkeit zu erlangen, nach Sex, um die Art fortzupflanzen usw.
Die Fähigkeiten schließen die fünf Sinne ein, ein großes Gehirn, die Fähigkeit, aufrecht zu gehen, eine Hand, die genaues manuelles Arbeiten gestattet, Stimmbänder, die Sprache möglich machen usw. Man könnte jetzt einwenden, daß nicht alle Menschen diese Fähigkeiten besitzen – einige werden blind geboren, andere taub oder anderweitig behindert – das aber sind spezielle Ausnahmen.
Diese Bedürfnisse und Fähigkeiten, die alle Menschen in allen Gesellschaften zu jeder Zeit während der letzten 20 – 30.000 Jahre gemeinsam hatten, legten den Grundstein für die Natur des Menschen. Es ist aber die besondere Weise, in der die Fähigkeiten zur Befriedigung der Bedürfnisse benutzt werden, die Menschen von allen anderen Spezies unterscheidet. Die Menschen befriedigen ihre Bedürfnisse, indem sie zusammenarbeiten, um systematisch die Mittel zu produzieren, die sie am Leben erhalten.
Natürlich arbeiten auch Tiere – in einem gewissen Sinn: Eichhörnchen sammeln Nüsse, Löwen jagen, Biber bauen Dämme, Vögel konstruieren Nester, Termiten bauen Termitenhügel, von einigen Affen weiß man sogar, daß sie Stöcke als Werkzeuge benutzen usw. Die menschliche Arbeit aber entwickelte sich nach und nach zu etwas qualitativ Fortgeschrittenerem als das. Die systematische und bewußte Produktion von Werkzeugen – als Produktionsmittel bekannt – steigerte die Produktivkräfte der Arbeit enorm.
Während die tierische Arbeit überwiegend instinktiv bleibt und dementsprechend über Generationen hinweg wiederholt wird, ist die menschliche Arbeit erlernt und entwickelt sich – zuerst langsam und dann in einem immer schnelleren Tempo.
Die tierische Arbeit läßt die Umwelt so gut wie unverändert oder ändert sie nur sehr begrenzt, die menschliche Arbeit aber wandelt die Umwelt fortlaufend um.
Auch der soziale Charakter der Arbeit ist von grundlegender Bedeutung. Es war der griechische Philosoph Aristoteles, der den Menschen als ein „soziales Tier“ kennzeichnete, und in der Tat haben Menschen schon immer in Gruppen gelebt, niemals als isolierte Individuen. In gleicher Weise ist ihre Arbeit schon seit frühester Zeit immer von Natur aus sozial und kooperativ gewesen. Als z.B. die frühen Steinzeitmenschen nach Großwild gejagt haben, handelten sie so gemeinschaftlich wie eine Nomadenhorde oder -gruppe.
Höchstwahrscheinlich war es diese Zusammenarbeit, die zu einer weiteren grundsätzlichen Eigenschaft menschlicher Wesen führte, der Entwicklung der Sprache. Jede bekannte menschliche Gesellschaft hat sich zum Stadium entwickelt, wo sie eine Sprache von ansehnlicher Komplexität besitzt. Umgekehrt hat die Sprache entscheidende Bedeutung für die Entwicklung des gesellschaftlichen Bewußtseins der Menschen. Dadurch kann Kultur erlernt und von einer Generation an die nächste weitergegeben werden.
Jetzt können wir die Hauptmerkmale der ‚menschlichen Natur‘ zusammenfassen. Menschen sind eine eigene biologische Art mit bestimmten gemeinsamen Grundbedürfnissen, die durch soziale Zusammenarbeit befriedigt werden, was zur Entwicklung von Sprache, Sozialbewußtsein und Kultur führt.
Der wichtigste Punkt in dieser Definition der menschlichen Natur ist, daß sie, während sie bestimmte Kontinuitäten feststellt, auch ein dynamisches Element in der Form der gesellschaftlichen Arbeit enthält.
Indem Menschen die Umwelt verändern, verändern sie sich auch selbst und ihre Beziehungen zu anderen. So wie sie ihre Fähigkeiten gebrauchen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, so steigen und entwickeln sich auch ihre Fähigkeiten – „der Appetit kommt beim Essen“, wie Marx sagte. So wie bestimmte Grundbedürfnisse befriedigt werden, erweitern sich diese Bedürfnisse und neue Bedürfnisse entstehen. Das Bedürfnis nach Nahrung als solcher wird zum Bedürfnis nach Nahrung einer bestimmten Qualität. Das Bedürfnis nach Kleidung entwickelt sich vom Bedürfnis nach Leder und Fell zum Bedürfnis nach Geld, um sich schon fertige Kleider im Geschäft zu kaufen.
Wie sich die Produktionsweise ändert, so ändert sich die Organisation der Gesellschaft. So wie wir uns vom Jagen und Sammeln über den Ackerbau zur Manufaktur und Industrie begeben, kommen wir vom kleinen Nomadenklan, über die Siedlungen zur Stadt und zur modernen Nation. In diesem Prozeß haben sich auch das menschliche Verhalten und die Einstellungen der Menschen radikal verändert. Wie Marx schon im Kommunistischen Manifest schrieb:
„Bedarf es tiefer Einsicht, um zu begreifen, daß mit den Lebensverhältnissen der Menschen, mit ihren gesellschaftlichen Beziehungen, mit ihrem gesellschaftlichen Dasein, auch ihre Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe, mit einem Wort, auch ihr Bewußtsein sich ändert?“ (K. Marx, F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, S. 480)
Es trifft nicht zu, daß man die Natur des Menschen nicht verändern kann. Die Fähigkeit, sich zu verändern und zu entwickeln, ist ein grundlegender Bestandteil der menschlichen Natur. Es ist sogar einer der Schlüsselfaktoren, die den Menschen von anderen Tieren unterscheidet.
Ein letzter Punkt: Wenn das Wesen des Menschen so ist, wie wir es beschrieben haben, macht es sie dann grundsätzlich ‚gut‘ oder ’schlecht‘ ? Die Antwort ist: weder noch. Die ursprüngliche Bedeutung von ‚gut‘ ist, ob etwas dem Wesen des Menschen dient, weil es seine Bedürfnisse befriedigt und seine Entwicklung fördert. Die ursprüngliche Bedeutung von ’schlecht‘ ist, ob sich etwas dem Wesen des Menschen entgegenstellt, weil es seine Bedürfnisse nicht befriedigen kann und seine Entwicklung behindert.
Das ist der Grund dafür, daß das, was die Menschen für ‚gut‘ und ’schlecht‘ halten, sich in verschiedenen historischen Phasen voneinander unterscheidet. Die Umstände verändern sich, die menschlichen Bedürfnisse verändern sich und ihre Moral ebenso. Das gleiche gilt für soziale Klassen zur selben Zeit – ihre Lebensbedingungen unterscheiden sich voneinander, ihre Interessen stehen sich feindlich gegenüber, und deshalb entwickeln sie auch verschiedene Moralvorstellungen.

Der Text erschien vor 20 Jahren im Sozialismus von unten.

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Eine Antwort

  1. Mit unserer inzwischen quasi weltumspannenden Zivilisation entwickelt sich, ähnlich wie im alten Ägypten, eine Kaste der Overlords, die weder gewählt, noch anderweitig legitimiert, die Geschicke eines großen Teils der menschlichen Zivilisation bestimmen. Die Ziele dieser Menschen sind oft recht infantile, mit Hilfe der Technik umzusetzende Meilensteine. Mag die Fähigkeit dieser Menschen, ein riesiges finanzielles Polster anzuhäufen, noch so faszinierend erscheinen, so sind diese Finanzen weder durch Gold noch andere essenziellere Werte gedeckt. Die Ziele dieser Mogule sind Luftschlösser, die im Vertrauen auf die Stabilität des augenblicklichen Wirtschaftssystems, das stellenweise schon recht schwach erscheint, dasselbe zusätzlich schwächen. Hier erscheint die Natur des Menschen in seiner spielerischen Nutzung der unter Kontrolle gebrachten Ressourcen. Die Richtung der menschlichen Entwicklung wird also von Menschen bestimmt, die unmäßige Möglichkeiten für eher infantile Ziele nutzen. Das klingt nach einem Filmplot für „Kevin allein zu Hause“.

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